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Und plötzlich ohne Mann und mit Kindern im Krieg...

Die Heimat des Stiefvaters war Ostpreußen, und dahin zog Irmgard aus Duisburg 1932 mit ihrer Mutter, als sie 18 Jahre alt war. Fünf Jahre später heiratete sie, bekam Kinder und wurde 1942 Witwe. 1944 schließlich kam sie mit dem letzten Transport vom Bahnhof Peitschendorf (1) in Ostpreußen nach Sachsen, später ins Grenzdurchgangslager Friedland (2).


Das Wort „Liebe“ habe ich so richtig erlebt

Ich hatte in Treuburg/Ostpreußen (3) einen jungen Mann kennen gelernt, Gustav, und 1937 geheiratet. An einem Weihnachtsfest war die Schwester meines Mannes vom Schliersee angereist gekommen, ebenso eine Schwester aus Treuburg, alle mit mehreren Kindern, Familienweihnachten, und ich saß traurig zu Hause in Kalkhof (4).

Da kam mein Mann und holte mich ab zu seiner Familie, die mich sehen wollte. Ich war furchtbar aufgeregt und konnte außer „ja“ und „nein“ kaum etwas sagen. Eines der kleinen Mädchen hatte eine Puppe; ich spielte mit dem Mädchen und der Puppe, habe mich sozusagen an der Puppe festgehalten und hatte etwas zu tun.

Die Mutter von Gustav saß am Tischende und konnte alles überblicken. Sie fragte auf einmal ihre Enkeltochter: „Irmgard, jetzt hast du so viele Tanten, welche von denen hast du am liebsten?“

Und das kleine Mädchen sagte: „Hier, diese Tante.“

Und Gustavs Mutter darauf: „Betrunkene und Kinder sagen die Wahrheit, da müssen wir das ja wohl auch tun.“

Dann stand die kleine untersetzte Frau auf und sagte: „Nun heiße ich dich herzlich willkommen.“ Und somit war ich in die Familie aufgenommen. Ich habe mich ganz klein gemacht, während mein Gustav mir vor Freude fast die Finger zerdrückte.

"Heute ist der Russe ruhig" – Aber so war es nicht

Wir waren glücklich, bekamen zwei Kinder, aber ein Jahr später wurde ich schon Witwe. Ich erfuhr vom Tod meines Mannes im Jahr 1942 durch einen Brief eines Oberleutnants. Da bin ich zum ersten Mal in meinem Leben ohnmächtig geworden.

An dem Tag, an dem mein Mann gefallen ist, hatte er mir noch einen Brief geschrieben und darin gesagt: „Heute ist der Russe ganz ruhig, er hat die Schnauze in den Sand gesteckt. Hoffentlich bleibt es so.“ Aber so war es nicht, denn die Russen waren gekommen, und es wurden Granaten geworfen.

Mein Mann hatte immer gesagt: „Wenn ich einmal falle, dann hoffentlich durch einen Bauchschuss.“ Aber genau das war es.

Da stand ich dann da, mit zwei kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, beide nach Wunsch – es hätte so schön werden können.

Raus aus der Heimat: Das ganze Dorf war leer

Weil es hieß, dass die Russen kommen würden, musste das ganze Dorf Treuburg umziehen nach Babenten (5). In Kalkhof blieben nur noch der Volkssturm (6) und alte Männer und ganz junge Burschen, die noch als sogenanntes „Kanonenfutter“ herhalten mussten.

Ich hatte von Babenten aus einmal die Gelegenheit, noch einmal nach Kalkhof zu fahren. Was ich da erlebte, war sehr schlimm. Das ganze Dorf war leer, das Vieh war auf der Straße und schrie, Hunde liefen herum, in der Wohnung des Schusters waren bestimmt dreißig Hunde, die sich da zusammen gerottet hatten. Aber das kleine Viehzeug lief herum.

Wir trafen den Gastwirt, einen alten Mann, der zum „Volkssturm“ gehörte. Der erzählte, er hätte ein Tier im Haus schreien hören und danach gesucht. Und dann fand er in einem Schlafzimmer ein Schwein, das sich zwischen einem Bett und einem Schrank eingeklemmt hatte und nicht mehr raus kam. Er hatte es befreit. Das alles tat mir so leid.

Als ich nach meiner Wohnung in Kalkhof sah, lag ein deutscher Soldat in meinem Bett. Das war mehr als komisch, aber er wollte wohl nur einmal in Ruhe schlafen.

Wenn wir auf dem Feld arbeiteten, sahen wir die abgemagerten und zerlumpten deutschen Landser herumziehen.

Ach Gott, was habe ich gelitten, wenn ich das sah.

Und wieder vor den Russen weiter ziehen

In Babenten hieß es dann im Jahr 1944: alle Frauen mit Kindern müssen weg, weil auch dort mittlerweile der Russe nahte.

Ich bin mit dem letzten Treck (7) weggekommen. Am Bahnhof war Willi, der Sohn des Schneidermeisters, der hatte Parkinson. Er war früher gesund, konnte tanzen und alles, und jetzt konnte er nicht mal mehr sprechen, nur noch Zischlaute von sich geben. Den sollte ich mitnehmen. Ich konnte nicht Nein sagen; man wusste ja nicht, was noch kommt.

Aber ich habe es sehr schwer dadurch gehabt. Wenn der Zug an einem Bahnhof hielt und wir etwas zu essen bekamen, musste ich mit der Schnabeltasse, die man mir mitgegeben hatte, loslaufen, um für ihn etwas zu besorgen. Es war einerseits ein schönes Gefühl, für ihn sorgen zu können, aber andererseits haben meine Kinder dadurch öfter nichts zu essen bekommen.

In Leipzig wurde er dann von einem Krankenwagen abgeholt. Er hat so geweint, weil er mit mir zusammen bleiben wollte. Im Krankenhaus ist er dann bald gestorben, erfuhr ich später.

Der Transport muss mehrere Tage gedauert haben, genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Die Kinder – Reiner war sechs und Marlies war drei Jahre alt – haben sich ganz ruhig in dem Zug verhalten, obwohl alles sehr schwierig war. Sie haben wohl gespürt, dass es eine ernste Lage war.

Egal wohin: die Angst begleitete uns

In Hohenwussen im Norden Sachsens angekommen, das zwischen Leipzig und Dresden lag, war unsere Lage kaum besser. Bei der Bombardierung von Dresden hat bei uns der Boden gezittert. Wir wohnten da auf einem Gut, bei einem großen Bauern, zunächst achtzehn Personen in einem Raum. Aber da kamen dann auch die Russen an. Wir hatten Durst, aber kein Wasser. Da waren noch andere Leute, hauptsächlich aus Schlesien.


Ich sagte, ich gehe runter, Wasser holen. Ich hatte einen dicken Zopf, den hat mir eine Schlesierin oben zusammengesteckt. Dann hat man mir die Wangen mit Zichorie dunkel gefärbt; ich zog einen langen lumpigen Rock an, nahm den Eimer und ging zur Pumpe.

Wegen der Russen musste ich mich so hässlich machen. Unten hat mir ein Russe in den Hintern getreten und gesagt: „Ziganka“ (Zigeunerin). Ich konnte immerhin einen Vierteleimer Wasser bekommen.

Es war eine schlimme Zeit. Wir hatten immer Angst vor den Russen. Einmal kam ich mit meinen Kindern eine Treppe runter, eine Freitreppe. Da war ein Mann, ein Nachbar des Gutsherrn, der stand da mit Monokel und zwei großen Doggen. Ich dachte nur, warte mal, bis der Russe kommt. Ich fragte ihn, ob die Hunde beißen; ist ja logisch, mit zwei kleinen Kindern an der Hand. Er antwortete: „Nein, die haben zum Frühstück sechs Eier bekommen, die haben keinen Hunger mehr.“ Und ich: „Schämen Sie sich nicht? Meine Kinder haben nicht einmal ein Ei!“

Da, wo wir wohnten, waren die Wände aus Holz, mit Astlöchern. Die Löcher haben wir mit dem Finger aufgemacht, damit wir sehen konnten, ob Russen auf dem Hof waren, bevor wir unsere Unterkunft verließen.

Diese Unterkunft war über einem Stall; der Boden bestand aus groben Brettern; die Kühe unter uns konnten wir nicht nur hören, sondern auch riechen. Ich habe dort auf dem Feld gearbeitet.

Reiner war sieben Jahre und musste Marlies in den Kindergarten bringen; die Schule, in die er hätte gehen müssen, war geschlossen. Da hat er schon um 11 Uhr den Herd angemacht mit Papier und Holz.

Morgens gab es Stampfkartoffeln auf Brot, wir hatten ja sonst nichts, und abends gab es dasselbe. Die Milch der Kühe haben die Russen gemolken und weg geschüttet.

Die Russen haben auch vor älteren Frauen keinen Halt gemacht. An einem Tag – das war noch in Babenten – ist meine Mutter 26 mal vergewaltigt worden; man hat sie über einen Holzbock gelegt, und die Russen sind über sie hergefallen. Ich musste sie dann ins Krankenhaus bringen.

Wie konnten wir das alles aushalten?

Wenn ich mir im Nachhinein das alles so durch den Kopf gehen lasse, muss ich mich fragen, wie kann ein Mensch das nur aushalten. Eine ganz, ganz schlimme Zeit war das. Und immer hatten wir diese Angst. Ich konnte nachts nicht schlafen und dachte immer an die Russen.

Einmal – wir waren 18 Menschen in einem Raum – hatte ich das Bedürfnis, mich einmal richtig zu waschen. Wie ich gerade fertig war, kam ein Russe in den Raum, den Lauf des Gewehrs nach unten gerichtet. Ich konnte nicht mehr durchatmen. Ich dachte, mein letztes Stündlein hat geschlagen, aber er hat nichts gemacht. So etwas gab es auch.

Gleich darauf kam ein anderer Russe, der wollte aber über mich herfallen, im Beisein der Kinder. Ich habe mich gewehrt, habe ihn gebissen und gekratzt und getreten, hab meine Kinder in den Arm genommen und ihm gesagt, dann solle er uns doch alle drei erschießen. Dann wurde er ganz gemein. Die Russen hatten solche Schuhe mit dicken Nägeln an, damit hat er mich in den Hintern getreten. Davon tut mir heute noch manchmal das Steißbein weh, wenn ich lange sitze.

Mit einer Schlesierin, etwa in meinem Alter, suchte ich nach einer Möglichkeit, an Geld zu kommen. Wir liehen uns einen Handwagen, holten mit diesem Wagen alte Kleidungsstücke ab und nähten daraus Puppen. Mit dem Wagen fuhren wir dann über die Dörfer und spielten Puppentheater. Die Zuschauer, die ja sonst nicht viel schöne Abwechslung im Leben hatten, besonders die Kinder, zahlten uns 20 Pfennige pro Person, und wir haben ganz gute Geschäfte gemacht.

Menschen, die wie Deutsche aussahen

Aber das Schlimmste, was ich erlebt habe, was mich sehr beeindruckt hatte und worüber ich gar nicht wegkam: Da hieß es, die ersten englischen Gefangenen kommen.

Als die mit einem Wagen kamen, standen da lauter Menschen, die wie Deutsche aussahen, und glotzten. Das war so schrecklich.

Unsere Gutsbesitzerin, eine ganz, ganz vornehme Frau, stand auch da. Wir guckten alle neugierig die Engländer an. Sind ja genau solche Menschen wie wir, aber wir hatten noch nie Engländer gesehen. Sie brachten einen ganz jungen Engländer in Uniform an, und da hat die Gutsbesitzerin ihm ins Gesicht gespuckt. Das fand ich so schrecklich.

ch fasste sie am Arm und sagte: „Sie haben auch einen Sohn. Stellen Sie sich mal vor, dem würde jemand ins Gesicht spucken. Das mögen zwar Feinde sein, aber Feinde sind auch Menschen.“ Ich hätte ihr am liebsten in den Hintern treten können.

Nach Kriegsende: Suche nach einer neuen, sicheren Bleibe

Irgendwann fand ich meine Mutter wieder. Zu viert gelangten wir in das Grenzdurchgangslager Friedland. Dort bekam ich einen Schock; sie wollten mich nämlich von meinem Jungen trennen. Männer und Frauen wurden gesondert entlaust. Ich habe so lange Theater gemacht, bis man mich mit meinem Jungen zusammen entlaust hat.

Entlaust, das hieß: man musste sich völlig ausziehen und die Arme hoch heben. Dann kamen Männer mit einem Gummiballon, aus dem sie ein Entlausungsmittel versprühten.

Vom Lager Friedland kamen wir dann nach Schleswig-Holstein, auch in ein Lager, in Bad Segeberg. Die „Toiletten“ dort waren Gruben mit einem Seil. In der Mitte des Raumes stand ein eiserner Ofen, da kam alles hinein, was nur brennbar war. Wir haben aber trotzdem alle furchtbar gefroren.

Dann wurden wir alle zusammen getrommelt und sollten verteilt werden. Der Zugleiter fragte, wer nach Rendsburg (8) will und sagte, dass dort noch Platz sei. Da hat meine Mutter den Arm gehoben, und so kamen wir in ein Dorf im Kreis Rendsburg, wo Matthias Claudius das Lied gedichtet hat: „Der Mond ist aufgegangen“.

Wir wohnten an diesem Ort in einem Scheunenraum. Dort hatte man uns Stroh hingeschüttet und gesagt, dort könnten wir schlafen.

Irgendwann kehrte ich mit meiner Familie wieder ins Rheinland zurück und lebe in Düsseldorf. Ich blicke auf mein langes Leben zurück, und wenn ich abends in den Himmel schaue, denke ich, dass ich schon dahin gehöre, mit 94 Jahren.

Im Bett bete ich immer. Und wenn ich morgens aufwache, wundere ich mich, dass ich wieder da bin auf dieser Welt.

Angst vorm Sterben habe ich nicht. Ich weiß, dass meine Zeit eigentlich abgelaufen ist, und ich kann auf ein gutes Leben zurück sehen.

(1) Peitschendorf in Ostpreußen war das größte Dorf im Kreis Sensburg in letzter deutscher Zeit

Quelle: wikipedia


(2) Das Grenzdurchgangslager Friedland liegt in der niedersächsischen Gemeinde Friedland im Landkreis Göttingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden darin vertriebene Deutsche aus den ehemals deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland zeitweilig untergebracht. Es wurde von der britischen Besatzungsmacht …1945 errichtet … Es wird auch "Tor zur Freiheit" genannt.

Quelle: wikipedia


(3) Treuburg (heute Olecko/Polen) war bis 1945 eine Stadt im Nordosten der Masuren

Quelle: wikipedia


(4) Kalkhof (heute Gollubien/Polen) war bis 1945 ein Dorf in Masuren und gehörte zu Olecki

Quelle: wikipedia


(5) Babenten (heute Bieta/Polen) war bis 1945 ein Dorf in der südlichen Mitte der Masuren

Quelle: wikipedia


(6) Der Deutsche Volkssturm war eine deutsche militärische Formation in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Er wurde nach einem von der NSDAP ausgehenden propagandistischen Aufruf an alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren außerhalb der vorherigen Wehrpflicht gebildet, um den „Heimatboden“ des Deutschen Reiches zu verteidigen, „bis ein die Zukunft Deutschlands und seiner Verbündeten und damit Europas sichernder Frieden gewährleistet“ sei. Ziel des Aufrufs war es, die Truppen der Wehrmacht zu verstärken.

Quelle: wikipedia

(7) Ein Treck ist ein längere Zeit – Tage bis Jahre – andauernder Zug von Fußgängern, Berittenen oder Fuhrwerken.

Quelle: wikipedia


Zwischen 1939 und 1950 fand eine Völkerwanderung statt, die etwa 25 bis 30 Millionen Menschen erfasste und aus zehntausenden Kindern, die aus der Kinderlandverschickung zurückkamen, hunderttausenden ehemals Evakuierter, die nach Hause kamen, Millionen ehemaliger Soldaten, befreiter KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter, die unterwegs waren, um in ihre Heimatländer zurückzukehren. Etwa 14 Millionen Deutsche fielen zwischen 1944 und 1950 der Flucht und Vertreibung zum Opfer. Westdeutschland musste den Großteil dort in die Gesellschaft integrieren, die ebenfalls stark durch den Krieg gebeutelt war

Quelle: planet wissen


(8) Rendsburg liegt im Kreis Rendsburg-Eckernförde, ist eine Stadt in der Mitte Schleswig-Holsteins am Nord-Ostsee-Kanal und verbindet die Landesteile Schleswig und Holstein

Quelle: wikipedia

Auzug aus "Scherbenbilder: Von Angst getrieben“, erzählt von Irmgard B., gesprochen mit Elke A. 2008, bearbeitet von Barbara H.

Foto: un-perfekt/GDJ / Pixabay

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