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Verhör: "Wo sind die deutschen Soldaten? Bist Du in der Partei?"

Alfred S. wurde 1927 in Masuren (1) geboren. Als er 16 war, begann er eine Lehre als Buchhalter, doch als 17-Jähriger wurde er zum Reichsarbeitsdienst (2) einberufen. Mit viel Glück und Mut konnte er sich mehrfach der Verschickung zur Zwangsarbeit nach Sibirien entziehen.


Alfred wollte bleiben

Noch im Herbst 1944 verbreitete Gauleiter (3) Erich Koch Durchhalteparolen und heftete Feuerwehrleuten, darunter dem jungen Alfred, Orden an die Brust, weil sie nach schweren Luftangriffen auf Königsberg (4) Löscharbeiten leisteten. Frau Koch, seine Frau, elegant gekleidet und stets mit Pistole am Gürtel, war eine bizarre Erscheinung in diesem sich abzeichnenden Untergang. Erst am 19. Januar 1945 wird der Befehl zur Evakuierung der Zivilbevölkerung erteilt.

Alfreds Mutter, Großmutter und die vier kleinen Geschwister machten sich am 22. Januar 1945 mit völlig ungewissem Ziel auf den Weg nach Westen. Er selbst versteckte sich im Haus der Familie seines Freundes Kurt. Er hatte beschlossen, in seiner Heimat zu bleiben.

Hier erzählt er, was er nach dem verlorenen Krieg erlebte:

„Auf dem Hof war alles ruhig. Die Mädchen suchten sich besonders in der Nacht Verstecke in Scheunen und Ställen. Die Gräuel, von denen der Ortsgruppenleiter und die Wochenschau ständig berichteten, blieben aber aus. Am späten Abend bin ich mit Kurt in die Betten gekrochen. Trotz der Gefahren war unser Schlaf tief und fest. Später erfuhren wir, dass zwei Männer in dicken russischen Armeemänteln mit schweren Stiefeln durch den knirschenden Schnee auf den Hof gekommen waren. Ein polnischer Arbeiter und ein russischer Soldat bewegten sich sicher auf dem Hof. Kurz prüften sie den Pferdestall und vergewisserten sich, dass keine Mädchen dort versteckt waren. Immerhin schnaubten noch zwei Pferde im Stall; die Kühe lagen im Stroh. Der Pole, der dem Russen aus dem ersten Spähtrupp die Bauernhöfe auf der Suche nach Mädchen und Pferden zeigen sollte, war nervös, denn der Soldat hatte seine Maschinenpistole stets entsichert vor der Brust an einem Ledergurt baumeln. Seinem Auftreten nach würde er auch nicht lange fragen und sofort schießen, egal ob auf Polen oder Deutsche.

Suche nach Kriegsverbrechern

Ich schreckte durch das Poltern an der Tür jäh auf. Kurt schnarchte weiter, während ich zur Tür stolperte. Die Männer stellten fest, dass keine Frauen und Mädchen zu finden waren. Sie befahlen stattdessen, die Pferde anzuspannen und uns mit ihnen auf den Weg in der eisigen Nacht zu machen. In einer Gastwirtschaft feierten polnische Zwangsarbeiter ihren Sieg und es wurden einige verängstigte Mädchen abgeholt. Dann ging die Fahrt weiter zu einem Bauernhof. Dort konnten Kurt und ich uns in einer Scheune verstecken und später nach Hause zurückkehren. Doch einige Tage später wurden wir wieder in der Nacht abgeholt.

Der russische Soldat führte Kurt und mich in die Stube, salutierte, machte kurz Meldung und baute sich breitbeinig hinter uns auf. Mit dem Lauf der Maschinenpistole schubste er uns in Richtung des Kartentisches und demonstrierte Einsatzwillen. Widerwillig schauten drei Offiziere zu den Jungen auf. Einer fragte in sehr gutem Deutsch: ‚Habt ihr deutsche Soldaten gesehen? Wo sind eure Väter? Womit beschäftigen sie sich? Sind sie beim Militär?‘

‚Kurts Vater ist Bauer und mein Vater ist Fischer und Waldarbeiter!‘ stammelte ich, kein Wort vom Vater beim Militär. Und mit Mitleid erweckender Stimme fragte ich: ‚Was soll mit uns geschehen?‘ Hitler, Himmler, Goebbels und Göring (5) werden gehängt‘, lautete die vielsagende Antwort. ‚Fahrt nach Hause‘, und damit warf er uns aus dem Zimmer. ‚Aber im Wald haben wir Posten gesehen, wie lautet die Parole?‘ – ‚Ein Reservesoldat wird euch bis zum letzten Posten begleiten, Jungs.‘ Damit war das Verhör beendet, und der Soldat brachte uns bis zum letzten Posten.

Die Flucht meiner Familie war gescheitert, alle waren nun wieder zusammen zu Hause in Pilchen (6). Im Januar starb meine Großmutter friedlich und unerwartet über Nacht in ihrem Bett. Eine geregelte Bestattung war noch nicht möglich. Deshalb habe ich mit Freunden am Abend des 22. Februar 1945 eine Grabstätte ausgehoben, ohne von den Russen entdeckt zu werden. Nachdem die Russen den Ort am nächsten Abend verlassen hatten, brachten wir den Leichnam der Oma auf einem Schlitten zum Friedhof und beerdigten sie dort in aller Stille.“

In Sibirien drohte Zwangsarbeit

Die Angst in der Bevölkerung vor Verschickung zur Zwangsarbeit nach Sibirien war groß. Auch Alfred wurde Ende Februar 1945 abgeholt, musste einige Wochen auf einem Hof arbeiten. Er sollte dann gemeinsam mit anderen Jugendlichen einen Wagen besteigen. Er ahnte, dass es nun nach Russland gehen sollte. Es gelang ihm, sich nach Hause durchzuschlagen. Bis zum Frühjahr 1945 lebte er in scheinbarer Sicherheit vom Fischfang. Doch wieder wurde er abgeholt, und die Deportation nach Sibirien schien unausweichlich.

Alfred erzählt weiter: „Ich wurde zum Verhör geführt. In aller Frühe hatte ich hastig wässrigen Zichorienkaffee und etwas Brot hinuntergeschlungen. Dünn war ich in den letzten Wochen geworden. Ein Wachsoldat hatte mich in das Verhörzimmer geführt. Dort wartete ein Offizier mit einer Dolmetscherin. Der Offizier rauchte, der Schreibtisch vor ihm war mit Papieren übersät. Die Dolmetscherin hatte die dunklen Haare streng nach hinten gebunden, eine kleine runde Nickelbrille verlieh ihr einen strengen Blick. Der Offizier raunte ihr gelangweilt die immer gleichen Fragen zu, während er mit dem Stuhl wippte, dass die Orden an der Uniformjacke, die über der Lehne hing, wie Glöckchen klimperten. Mit starkem Akzent gab sie die Fragen an mich weiter: ‚Warum bist du kein Soldat?‘ – ‚Ich wurde ausgemustert, bin herzkrank‘, log ich geistesgegenwärtig.


Die Frau übersetzte, und ein Lächeln huschte über das Gesicht des Offiziers. ‚Warst du in der Partei (7)? Wer aus eurem Ort war in der Partei?‘ Ich antwortete: ‚Nach der Schule ging ich in die Lehre nach Königsberg, hatte keine Ahnung von der Partei. Ich weiß auch nicht, wer bei uns im Dorf Parteigenosse war. Hitlerjugend, ja sicher, in der Hitlerjugend (8) war ich. So automatisch, wie ich zur Schule gehen musste, kam ich auch in die Hitlerjugend. Gefragt wurde ich da nicht.‘“

Der Offizier kannte das immer gleiche Ausweichen der Verhörten. Aber offenbar hatte er Gefallen an Alfred gefunden, erkannte in ihm den aufgeweckten Burschen und dachte: „Vielleicht kann man sich den Jungen zunutze machen.“


Alfred versprach, den Russen behilflich zu sein, einen bestimmten Mann ausfindig zu machen. Daraufhin durfte er mit einem Passierschein wieder nach Hause. Er arbeitete weiterhin als Fischer. Doch am selben Tag geriet er ahnungslos in eine russische Razzia.

„Die letzten bisher noch in den Wäldern und auf einsamen Gehöften versteckt gehaltenen Deutschen sollten aufgetrieben werden. Ich fand mich mit anderen auf einem russischen Militärlaster wieder, darunter waren auch Bekannte. Sie hatten sich seit Januar versteckt – nun waren sie in ernsten Schwierigkeiten, denn die Russen werteten das als offenen Widerstand. Den Frauen waren die zahlreichen Gräuel der letzten Wochen schlimm in Erinnerung geblieben.

Keiner rechnete mit dem, was folgte

Eine Frau hatte ihrer Tochter geraten, sich im See zu ertränken. Diese sprang während der langsamen Fahrt auf dem schlammigen Weg behände nach hinten von der Ladefläche, landet auf allen Vieren im Dreck. Sie rappelte sich auf und lief stolpernd den Damm hinab.

Zwischen ihr und dem schilfbewachsenen Seeufer lagen noch 200 Meter. Der russische Wachsoldat auf dem Laster konnte seine Gefangenen auf dem Laster nicht allein lassen und der Frau folgen, er musste aber auch alle Gefangenen vollzählig abliefern. Also fingerte er unter weiteren Flüchen seinen Karabiner vom Rücken, lud durch, legte wie auf der Entenjagd an und gab einen Schuss ab. Die Mutter schrie, die anderen duckten sich und hielten die Hände vors Gesicht. Auf den Schuss hin bremste der Fahrer, ein Offizier sprang mit gezogener Pistole aus dem vorneweg fahrenden Jeep. Die Frau lag leblos im Gras.

Der Offizier ging durch das nasse Gras auf den leise zitternden Körper zu. Keiner auf dem Lastwagen rechnete mit dem, was dann folgte: Behutsam nahm der Offizier sie auf den Arm, legte sie auf den Rücksitz des Jeeps und brachte sie zurück nach Hause. Dem Schützen rief er noch einen wirschen Befehl zu, woraufhin der wieder auf den Lastwagen stieg.

Die Gefangenen sahen nur, dass aus dem Mundwinkel der jungen Frau etwas Blut floss, während der Jeep davon holperte. Die Mutter betete wieder und wieder das Vaterunser.

Beim anschließenden Verhör habe ich mich selbstbewusst als Erster gemeldet, erhielt von einem Offizier ein Schreiben und durfte gehen.

Am nächsten Tag kehrten alle anderen zurück. Die Frau, so erfuhren wir, wurde von ihrer Familie tatsächlich wieder gesund gepflegt. Sie hatte einen glatten Durchschuss erlitten und wie durch ein Wunder überlebt.“

Zu bleiben bedeutete für Alfred, unter polnischer Verwaltung zu leben. Erst 1969, da war er 42 Jahre alt, reiste er mit seiner Familie in den Westen aus und arbeitete bis zur Pensionierung in Düsseldorf als Buchhalter.

(1) Masuren liegt im Süden der früheren preußischen Provinz Ostpreußen, heute in Polen.


(2) Der Reichsarbeitsdienst (RAD) war eine Organisation im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts wurden ab 1935 verpflichtet, ihrem Volk im RAD zu dienen.


(3) Die NSDAP teilte Deutschland bereits 1925 in Gebiete … Gaue genannt. Jedem Gau stand ein Gauleiter vor, der in der Organisationsstruktur der NSDAP der regionale Verantwortliche der Partei war und damit die politische Verantwortung für seinen Hoheitsbereich trug. Er erhielt Disziplinargewalt und das Aufsichtsrecht über alle parteieigenen Organisationen und Verbände in seinem Gebietsbereich und hatte große Macht in seiner Region.


(4) Königsberg war die Hauptstadt der preußischen Provinz Ostpreußens, heißt seit 1946 Kaliningrad und ist seit dem Zerfall der Sowjetunion 1990 eine Exklave Russlands, die im Süden an Polen und im Norden und Osten an Litauen grenzt.


(5) Hitler, Himmler, Goebbels und Göring waren die bekanntesten Kriegsverbrecher:

* Adolf Hitler, der „Führer“ genannt, war als Vorsitzender der NSDAP von 1933 bis 1945 nationalsozialistischer Diktator des Deutschen Reiches

* Heinrich Himmler war 1929 von Adolf Hitler an die Spitze der damals noch der Sturmabteilung (SA) unterstellten Schutzstaffel (SS) berufen worden … Er verschaffte sich die vollständige Kontrolle und Organisation über die Polizei, die Konzentrationslager und den Inlandsgeheimdienst sowie den Aufbau militärischer Verbände.

* Joseph Goebbels war einer der einflussreichsten Politiker während der Zeit des Nationalsozialismus und einer der engsten Vertrauten Hitlers. Als Gauleiter von Berlin ab 1926 und als Reichspropagandaleiter hatte er wesentlichen Anteil am Aufstieg der NSDAP und als Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda besaß er entscheidende Positionen für die Lenkung von Presse, Rundfunk und Film sowie der Kulturschaffenden.

* Hermann Göring war einer der einflussreichsten NS-Politiker mit vielen Aufgaben, unter anderem war er für die „Endlösung der Judenfrage“ organisatorisch befasst.


(6) Pilchen (polnisch. Pilchy) gehört heute zu Polen. Das Dorf gehörte zur preußischen Provinz Ostpreußens.


(7) Die Partei … damit war die Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) gemeint. Sie war eine in der Weimarer Republik gegründete politische Partei, deren Programm und Ideologie (Nationalsozialismus) von radikalem Antisemitismus und Nationalismus sowie der Ablehnung der Demokratie und des Marxismus bestimmt war. Sie war als straffe Führerpartei organisiert. Ihr Parteivorsitzender war ab 1921 der spätere Reichskanzler Adolf Hitler, unter dem sie Deutschland in der Diktatur des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 als einzige zugelassene Partei beherrschte.


(8) Die Hitler-Jugend (HJ) war die Jugend- und Nachwuchsorganisation der NSDAP von 1926 bis 12945. Sie wurde ab 1926 nach Adolf Hitler benannt und unter der Diktatur des Nationalsozialismus in Deutschland ab 1923 zum einzigen staatlich anerkannten Jugendverband mit bis zu 8,7 Millionen Mitgliedern (98 Prozent aller deutschen Jugendlichen) ausgebaut.


Quelle für alle: wikipedia

Auszug aus "Scherbenbilder - Abschied von Masuren", erzählt von Alfred S., gesprochen mit Ralf L.,

bearbeitet von Barbara H.

Symbolfoto: Tama66/Pixabay

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