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Von der Büroarbeit zur „Villa Magnolia“

Bögendorf war die Geburtsstadt von Adelheid H. im Jahr 1941. Doch nach dem von den Deutschen angezettelten und dann verlorenen Zweiten Weltkrieg (1) wurde ihre Heimat polnisch. Das bedeutete für sie und ihre Eltern den Verlust der Heimat, Vertreibung und einen langen mühsamen Weg nach Westdeutschland.

Neuanfang im Tessin

Foto: Makalu/Pixabay

Lehrjahre und die Frage: „Gibt es da nicht noch etwas anderes?“

Nachdem ich so spät – mit zehn Jahren – eingeschult werden konnte, erreichte ich trotz allem 1956 einen Volksschulabschluss und begann im gleichen Jahr mit einer kaufmännischen Lehre in Erkrath. Meine Konfirmation wurde zwar gefeiert, war aber beim Zusammenkommen der Familie vom Tod meiner lieben Mutter geprägt, die ein halbes Jahr vorher Ende 1954 verstorben war.

Besonders meine Tante Milchen und Erika, die Frau meines Bruders Walter, halfen mir in dieser Zeit. Dafür bin ich ihnen noch heute dankbar. Dann starb auch mein Vater 1957. Meine Eltern hatten nicht viel Zeit, ihr neues Leben in Erkrath zu genießen, ihr Ziel Düsseldorf hatten sie nicht erreicht. Meine Mutter verstarb nur dreieinhalb und mein Vater nur sechseinhalb Jahre nach unserer Ankunft in Westdeutschland.

Ich war 16 Jahre alt, und es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Für mich war eine Welt zusammengebrochen. Ich vermisste meine Eltern und vor allem meine Mutter so sehr, dass es weh tat. Ich konnte sie nie wieder um Rat fragen. Meine Eltern würden mich nicht als erwachsene Frau erleben, ich würde nie wieder in die zuversichtlichen, liebevollen Augen meiner Mutter schauen können. All das war für mich unglaublich schwer zu verkraften und noch schwerer war es, diese Endgültigkeit zu akzeptieren. Der Tod meiner Eltern hinterließ in mir eine unausfüllbare Leere.

Tante Milchen blieb nach dem Tod meines Vaters noch zwei Jahre bei mir. Sie kümmerte sich bis zum Ende meiner Berufsausbildung im Jahr 1959 um mich. Mein Bruder Walter wurde zu meinem Vormund bestellt. Er und seine Frau Erika haben sich in dieser Zeit wirklich sehr um mich gekümmert. Aber ich wollte nur meine Eltern wieder haben und ließ kaum Nähe zu. Ich konnte es einfach nicht. Es fühlte sich alles so falsch an.

Foto: Barbara H.

Meine Ausbildungsfirma war ein Tuchgroßhandel mit Damenoberbekleidung in Düsseldorf. Das Geschäft wurde von einem Ehepaar und einer Verwandten des Paares geführt. Ich machte dort meine kaufmännische Lehre. Meine Aufgaben waren sehr unterschiedlich, auch interessant, aber leider beinhalteten sie alles andere als meine kaufmännische Ausbildung es eigentlich vorsah. So dekorierte ich die Fenster, sortierte Kleider und machte oft Botengänge – habe also nicht viel gelernt. Ich hatte sogar ernsthaft in Erwägung gezogen, die Lehrstelle zu wechseln und einen anderen Beruf zu erlernen. Dieses Vorhaben habe ich dann aber doch wieder verworfen, denn damals konnte man froh sein, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu erhalten.

Ich beendete 1959 „erfolgreich“ meine Lehre. Immerhin hatte ich die Kaufmannsgehilfenprüfung mit den Noten „Gut“ und „Befriedigend“ abgeschlossen. Mein Lehrer war sehr zufrieden und ich wurde mit einer Opernkarte für die „Zauberflöte“ belohnt. Die Oper hat mir sehr gefallen und in den folgenden Jahren habe ich sie noch mehrmals angesehen.

Foto: Barbara H.

Ich war froh, dass die Lehrzeit endlich zu Ende war und suchte eine neue Stelle. Ich bekam eine Anstellung bei der Firma „Horten“ in Düseldorf. Dort verdiente ich im Monat 200 DM. Das war nicht so viel, aber ich musste damit zurecht kommen.

Als mein Vater 1957 starb, war ich noch in der Lehre. Tante Milchen und ich mussten mit sehr wenig Geld auskommen – mit der Rente von Tante Milchen und meinem Lehrlingsgehalt von 60 DM. Vom Staat gab es zu diesem Zeitpunkt keine Unterstützung. Allerdings erhielt ich freundlicherweise von der Erkrather Kirchengemeinde monatlich 10 DM aus der Spendenkasse. Das war eine willkommene Unterstützung.

Jetzt hatte ich Lust aufs Leben

Als ich 18 Jahre alt war und Tante Milchen sich mit nunmehr 73 Jahren zur Ruhe setzte, musste ich allein zurecht kommen. Ich schaffte es aber auch alles.

Tante Milchen bin ich dankbar, dass sie für mich da war, dass es sie gab. Ich fand, dass ich gut vorbereitet war, weil ich viel von ihr gelernt hatte und bereits sehr selbständig war. Ich hatte einen Beruf, eine Wohnung in Erkrath und hatte Lust auf das Leben.

Mein Alltag war alles andere als aufregend. Ich arbeitete im kaufmännischen Bereich bei Horten in Düsseldorf, allerdings nur ein Jahr. Dann zog die Firma von der Grafenberger Allee auf die andere Rheinseite zum Seestern um. Für mich wäre der Arbeitsweg zum neuen Firmensitz damals eine halbe Weltreise gewesen und ich hätte die Fahrtkosten auch finanziell nicht bewerkstelligen können.

Aus diesem Grund kündigte ich bei Horten und fand auch gleich wieder eine neue Arbeit als Stenokontoristin bei der Fa. Hein, Lehrmann, die unter anderem Rohre herstellte. Dort verdiente ich sogar etwas mehr; ich glaube so ungefähr 300 DM – oder vielleicht auch ein bisschen mehr. Tag für Tag lief mein Leben so vor sich hin.

Auch meine Kollegin, die viel älter als ich war und mit der ich in einem Büro saß, brachte nicht viel Abwechslung in meinen Alltag. Sie hatte sich jedoch sehr um mich bemüht und sorgte dafür, dass ich gut zurecht kam. Auch eine Gehaltserhöhung hatte ich ihr zu verdanken.

Ziemlich schnell merkte ich, dass dieser Beruf, den ich mir selbst ausgesucht hatte, nicht das Richtige für mich war. Er war gar nicht so, wie ich mir Büroarbeit eigentlich vorgestellt hatte. Als ich diesen Beruf wählte, dachte ich, dass es etwas ganz Tolles und Aufregendes sei. Ganz so war es dann doch nicht. Jeden Tag wartete dieselbe Arbeit auf mich, die ich zwar immer korrekt erledigte, die mir aber keinen richtigen Spaß bereitete.

Und auch in meiner Freizeit passierte nichts wirklich Aufregendes. Obwohl ich für die damalige Zeit, es war 1962, gar nicht mal schlecht verdiente, hatte ich doch kein Geld für Ausflüge oder mal einen Kinobesuch oder für Kleidung übrig. Wenn ich so etwas wirklich einmal machen wollte, musste ich schon ordentlich sparen. Ich weiß gar nicht genau, ob ich mir einen solchen „Luxus“ überhaupt jemals geleistet habe.

Irgend etwas rumorte in mir und ich dachte, dass es da doch noch etwas anderes für mich geben sollte. Es musste etwas geschehen.

Ich war jung und ich wollte etwas erleben

Als ich 21 Jahre alt war, wohnte meine Freundin Marlis einige Zeit bei mir – ich hatte ja die Wohnung für mich allein und ich fand das ganz schön, eine Mitbewohnerin zu haben. Sie erzählte mir von ihrem Urlaub auf einem Campingplatz bei Lugano in der Schweiz und den Arbeitsmöglichkeiten dort.

Ganz gebannt hörte ich ihren Erzählungen zu. Bis dahin war ich noch nie im Ausland gewesen. Marlis erzählte auch vom Luganer See, von den Bergen, die den See umgeben, von dem herrlichen Wetter, von den Menschen, die dort Urlaub machten und von dem italienischen Flair des Ortes.


Foto: J.Farago/Pixabay


Das fand ich sehr spannend und dachte, dass das ja auch vielleicht etwas für mich wäre. Vom Finanziellen her gesehen hätte ich dort keinen Urlaub machen können. Aber ich konnte mir gut vorstellen, in einer solchen Umgebung zu arbeiten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja überhaupt keine Ahnung, dass es solch eine Möglichkeit geben könnte. Marlis war von meiner Idee begeistert und wir wollten uns zusammen in dieses Abenteuer stürzen.

Allerdings kam es dann anders. Marlis änderte ihre Meinung kurz bevor es losging. Aus Gründen, die ich heute nicht mehr nachvollziehen kann, kam sie nun doch nicht mit. Natürlich war ich enttäuscht, denn ich stellte mir vor, dass es einfacher wäre, nicht allein in die Schweiz zu gehen, um dort zu arbeiten. Trotzdem gab es für mich kein Zurück mehr. Ich wollte unbedingt nach Lugano, um dort zu arbeiten, wo andere Urlaub machten und freute mich auf das Abenteuer, auf das ich mich einließ. Ich hoffte, dass mir die Arbeit Spaß machen und alles für mich auch ein bisschen wie Urlaub werden würde.

Obwohl ich noch nicht ganz volljährig war, das wurde man damals erst mit 21 Jahren, holte ich mir nicht die Einwilligung meines Bruders Walter, der ja nach dem Tod meines Vaters zu meinem Vormund bestimmt worden war. Ich hatte diesen Schritt allein entschieden, keinen davon informiert, dass ich meine sichere Arbeit im Büro gegen eine Saisonstelle auf einem schweizerischen Campingplatz tauschen wollte. Leider – so sehe ich das heute – habe ich mich bei meinen Brüdern während dieser Zeit auch nicht oft bei ihnen gemeldet. Das nahmen sie mir schon irgendwie übel. Aber ich dachte in diesem Alter wahrscheinlich nicht so weit. Ich war Anfang 20 und hatte ganz andere Interessen als meine Brüder, die damals schon um die 40 Jahre alt waren. Ich wollte endlich raus und etwas ganz Neues erleben.

Also bewarb ich mich um eine Saisonanstellung auf dem Campingplatz in der Schweiz. Die Firma „Dr. Tigges Touristik“ in Wuppertal betrieb weltweit viele Hotels und bot mir tatsächlich die von mir erhoffte Stelle an. Mein Düsseldorfer Arbeitgeber war wirklich sehr freundlich und entgegenkommend und versprach mir, dass ich meine Stelle wiederbekommen würde, wenn ich nach der Saisonarbeit nach Düsseldorf zurück käme. Das freute mich und gab mir Sicherheit.

Neues Ziel: Agnuzzo, ein Dorf im Schweizer Kanton Tessin

Das Dorf und der Campingplatz, auf dem ich bis September 1962 arbeitete, liegt am Luganer See in einer landschaftlich wunderschönen Umgebung. Schon die Zugfahrt in die Schweiz war sehr aufregend für mich. Bis dahin war meine einzige größere Reise die Fahrt 1951 von Schlesien nach Westdeutschland gewesen. Aber das war natürlich kein Vergleich zu der Reise in die Schweiz. Ich hatte gemischte Gefühle, freute mich und war gespannt auf das, was mich erwarten würde und was man von mir dort erwartete.

Ich genoss die Zugfahrt durch Tunnel, über Berge, Viadukte, Flüsse und durch Täler und konnte kaum glauben, dass ich in dieser wunderschönen Natur arbeiten durfte. Jetzt freute ich mich, dass ich diesen Schritt gewagt hatte.

Endlich! Ankunft in Lugano, das mir sofort sehr gefiel. Auch der Campingplatz in Agnuzzo, ein paar Kilometer außerhalb von Lugano, nahm mich sofort für sich ein. Die ganze Atmosphäre war etwas ganz Anderes und Neues für mich. Eigentlich hatte ich gar keine richtigen Vorstellungen, hatte mir wenig Gedanken gemacht, war etwas unbedarft – umso schöner empfand ich es dann vor Ort. Das lag natürlich auch viel an dem „Gesamtpaket“ Lugano mit der herrlichen Landschaft rundherum, dem See, in dem sich die Berge spiegelten, die Berge und das meist gute Wetter. Lugano und die Umgebung haben einen ganz besonderen Reiz.

Auch meine Aufgaben vor Ort gefielen mir und ich empfand es insgesamt als eine sehr schöne Zeit, die ich nicht missen möchte. Die unbeschwerte und spannende Zeit verging viel zu schnell – schon war es September und ich musste wieder abreisen. Sehr traurig fuhr ich nach Erkrath zurück. Dort erwartete mich meine Wohnung und meine Arbeit bei der Fa. Hein, Lehmann, die mich tatsächlich wieder einstellte.

Es dauerte aber nicht lange und meine Arbeit nervte mich wieder ziemlich. Ich dachte: „Nee, ich will das nicht mehr machen. Es reicht.“ Ich habe mich dann dazu entschieden, richtig zu kündigen und einen anderen Weg zu gehen. Es zog mich so sehr in die Schweiz, dass ich mich beim Reisebüro „Dr. Tigges Touristik“ wieder für eine Saisonarbeit bewarb, und zwar in einem Hotel, von dem ich bei meinem ersten Aufenthalt in Lugano gehört hatte.

Die „Villa Magnolia“ stand in keinem Vergleich zum Campingplatz in Agnuzzo. Dort hatte ich mich als Saaltochter beworben und war sehr froh, als ich diese Stelle auch tatsächlich bekam.

Meine damalige feste Stelle bei „Hein, Lehmann“ als Stenokontoristin kündigte ich im März 1963 endgültig. Mein Chef hatte so seine Bedenken zu meinen Vorhaben und bot mir wieder an, jederzeit bei ihm anfangen zu können. Das Angebot selbst war sehr entgegenkommend und gab mir Sicherheit und Bestätigung. Meine Wohnung in Erkrath hatte ich aber behalten.

Mit Sack und Pack und allem, was man so braucht, fuhr ich voller Vorfreude wieder nach Lugano, einem Ort, mit dem ich wunderschöne Erinnerungen verband.

(1) Als Zweiter Weltkrieg (1939 – 1945) wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er am 1. September 1939 mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen … Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945.

Quelle: wikipedia

Auszug aus „Geradeaus mit Umwegen“, erzählt von Adelheid H., aufgeschrieben von Ute S. (2019), bearbeitet von Barbara H. (2023)

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