Mit Federbett und Köfferchen - Flucht von Stosnau nach Mylau
Edith, geboren 1934 in Eichhorn verbrachte ihr Kindheit in Stosnau. Ihr Vater wurde 1942 eingezogen und an die Westfront nach Frankreich geschickt. Er kam im Fronturlaub nach Hause, ansonsten lebte Edith allein mit ihrer Mutter – bis zum August 1944, als sie spätabends plötzlich ihre Sachen zusammenpacken mussten. Nach ihrer ersten Evakuierung nach Rositten folgte ein Aufenthalt in Mylau, bis sie schließlich in ein Lager nach Rudolstadt gebracht wurden. (1)
Dort verbrachte Edith – später in einem eigenen Zimmer in einer privaten Unterkunft - ihre weitere Schulzeit und Lehre, bis sie nach ihrer Gesellenprüfung nach Altenburg aufbrach.
Evakuierung
Im August 1944 hörten wir eines Abends den Donner der Front; die Russen waren damals bereits sehr nah. Gegen 22.00 Uhr klopften plötzlich zwei Männer in Uniform an unsere Tür, ich kann nicht mehr sagen, ob sie braun von der SA oder schwarz von der SS waren, und sagten: „Morgen früh um sechs müssen Sie auf dem Bahnhof sein. Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wir bringen Schwangere und Frauen mit kleinen Kindern etwa 100 Kilometer weiter ins Reich nach Westen. In vier Wochen, wenn wir die Russen vertrieben haben, kommen Sie wieder nach Hause.“
Da standen wir, ich als neunjähriges Mädchen und meine Mutter, die zu dem Zeitpunkt hochschwanger war – mein Vater war immer wieder mal auf Fronturlaub bei uns gewesen. Was sollten wir mitnehmen? Mehr als Handgepäck war nicht möglich. Wir beschränkten uns auf das absolut notwendigste: Ein Federbett – das uns wahnsinnig gute Dienste geleistet hat – und einen kleinen Koffer, den ich tragen konnte. Bis zum Bahnhof mussten wir fast eine halbe Stunde laufen.
Pünktlich um sechs ging es los. Wir wurden in einen Zug gewiesen und fuhren los. Wie sich herausstellte sollte das Ziel Preußisch Eylau werden, genauer gesagt das Dörfchen Rositten. Dort kam im September 1944 mein Bruder zur Welt.
Während der Zeit in Rositten haben wir Hunger gelitten. Das kannten wir bis dahin gar nicht. Wir hatten stets alles auf dem Feld gehabt und waren versorgt. Die Nachbarin mit ihren zwei Jungs war ebenfalls bei uns. Sie sagte: „Wir leiden hier Hunger und zuhause sind die fetten Gänse! Ich fahre zurück nach Hause und hole jedem eine Gans!“
Die Nachbarin ist tatsächlich zurück nach Hause gefahren. So wurden wir getrennt, denn während sie weg war, wurden wir erneut in einen Zug verfrachtet.
An diese Zugfahrt habe ich keinerlei Erinnerungen, nicht an das, was passiert ist und auch nicht daran, wie lange wir unterwegs waren. Ich weiß nur noch, dass wir während der Zugfahrt gehungert haben und nur selten an Bahnhöfen hielten, an denen es etwas zu essen und zu trinken gab.
Traurige Ankunft in Mylau
Im Herbst 1944 sind meine Mutter und ich schließlich im Vogtland angekommen - in der kleinen Stadt Mylau, in der Nähe von Reichenbach.
In Mylau wurden wir privat untergebracht. Die Eigentümer der Wohnung hatten eine Spinnerei und ich bin mit meinen neun Jahren durch den Spinnmaschinen-Saal gelaufen.
Kurz nach der Ankunft in Mylau ist mein Bruder krank geworden. Meine Mutter konnte ihn aufgrund der Strapazen der Zugfahrt nicht richtig stillen und er war sehr schwach. Die Leute bei denen wir untergekommen sind, meinten es sehr gut mit uns. Zu meinem Bruder waren sie eventuell zu gut. Nach der wenigen Milch, die er während der Fahrt zu sich genommen hatte, gab es nun sehr viel Gutes und das ist ihm nicht bekommen. Meine Mutter ist Mitte November mit ihm ins Säuglingskrankenhaus nach Plauen gefahren. Wiedergekommen ist sie ohne ihn. Mein Vater hat ihn nie kennengelernt. Er ist gerade einmal neun Wochen alt geworden.
Bombenalarm in Mylau
Mylau hat eine wunderschöne Burg mitten in der Stadt. Unter dieser Burg wurde ein Tunnel gegraben, einmal durch den Berg hindurch. Dieser diente als Luftschutzbunker. Wir wohnten nicht weit entfernt und immer, wenn Bombenalarm war, sind wir dorthin geflüchtet. Im Bunker waren wir sicher vor den Bomben, doch es bestand die Gefahr, dass die beiden Eingänge verschüttet werden.
Einmal ist eine Bombe auf den Bahnhof niedergegangen. Hier standen viele Güterzüge und schnell verbreitete sich die Nachricht: „Im Bombentrichter liegen Kaffeebohnen!“ Wie alle anderen Leute aus der Stadt sind meine Mutter und ich sofort dorthin geeilt und haben die ungerösteten Kaffeebohnen, die in einem der Waggons gewesen sind, von der Erde aufgesammelt. Die Bohnen haben wir auf dem Ofen in der Pfanne geröstet und konnten seit langer Zeit mal wieder einen Bohnenkaffee trinken, eine Rarität!
Ein Jahr bis zum nächsten Aufbruch
In Mylau haben wir den Einmarsch der Amerikaner erlebt und kurze Zeit später den Einmarsch der Russen; wobei ich sagen muss, dass es nicht viel Kontakt zu diesen gab. Die Frauen hatten stets furchtbare Angst, dass die Soldaten sich schlecht benehmen könnten, aber ich kann mich an kein Vorkommnis erinnern – es kann natürlich sein, dass dies nur vor uns Kindern ferngehalten worden ist.
In Mylau hatte ich eine Freundin, leider weiß ich den Namen nicht mehr, die einzige beste Freundin in meinem ganzen Leben. Sie war die Tochter des Bahnhofsvorstehers und genauso alt wie ich. Wir waren unzertrennlich, haben unter der Göltzschtalbrücke gespielt, gelesen und uns Geschichten erzählt. Es gab für uns Spielmöglichkeiten in Hülle und Fülle.
Leider blieb uns das Glück dieser Freundschaft nur für ein Jahr, denn im August 1945 hieß es, wir können hier nicht bleiben und müssen weiter.
So kamen wir erneut in einen Zug. Mit Federbett und Köfferchen.
Auszug aus: „Und dennoch! Sie blüht!“,
erzählt von Edith SF., geschrieben und Auszug verfasst von Judith H.
Anmerkungen
(1) Von der Zeit im Lager in Rudolstadt erzählt Edith im Blogbeitrag
Foto: Free-Photos/Pixabay
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