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Hannelore – als Kind und Jugendliche immer hin und her geschickt

  • Writer: Achim Kaemmerer
    Achim Kaemmerer
  • Apr 6
  • 5 min read

Updated: Apr 7

Hannelore ist ein Düsseldorfer Mädchen, geboren 1933 in Flingern. Nach einer abgebrochenen Lehre als Schneiderin arbeitete sie in Büros, in einem Schreibwarengeschäft und als Reinigungskraft. Geheiratet wurde 1953. Ende der Fünfziger begann Hannelore mit einer Tätigkeit, die ihr ganzes Leben und das ihrer Familie verändern sollte.


Hannelore als Kind


Ein Düsseldorfer Mädchen

Es ist schon kurios, dass ich ausgerechnet in Düsseldorf auf die Welt kam. Das war 1933 in Flingern. Mein Vater war Küfer und stammte von der Mosel, meine Mutter aus dem Sauerland und arbeitete als Serviererin.

Meine Eltern und ich wohnten auf der Acker Straße, Ecke Birkenstraße und um uns herum viele Onkeln und Tanten, hauptsächlich von Vaters Seite, und auch meine Oma.

Da meine Mutter, soweit ich mich erinnern kann, immer berufstätig war, bin ich schon als kleines Kind, viel bei der Düsseldorfer Verwandtschaft herum gereicht worden.

Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war ich sechs Jahre alt und ging schon in die Schule. Mein Vater ist gleich zu Beginn des Krieges eingezogen worden und meine Mutter und ich standen am Fenster unserer Wohnung und sahen die eingezogenen Männer an uns vorbei marschieren. Auch wenn ich es damals noch nicht wusste, sollte es auch für mich bald soweit sein, Düsseldorf zu verlassen.


Kinderlandverschickung

Mit Beginn des Luftkrieges über Deutschland begann die Kinderlandverschickung* (KLV). Verschickungsdauer war in der Regel für ein halbes Jahr geplant (der Endsieg stand ja immer unmittelbar bevor), konnte aber auch verlängert werden. Im Winter 1940 wurde ich, die kleine Hannelore, mit einem Sonderzug nach Oberschlesien verschickt.


Abfahrt und Ankunft – eine gefühlte Tragödie

Tante Bernhardine brachte mich zum Bahnhof. Ich mochte Tante Bernhardine nicht. Sie machte ihrem Namen alle Ehre, denn sie sah so aus, wie sie hieß. Sie war eine ganz Strenge.

Ich war sehr aufgeregt, denn ich wartete auf meine Mutter. Meine Mutter arbeitete als Serviererin oft bis spät in die Nacht, und deshalb wohnte ich bei meiner Oma und Tante Bernhardine. Aber zu meinem Abschied musste sie doch kommen! Ich wurde immer unruhiger. Die anderen Kinder wurden bereits von ihren Eltern zum Abschied geküsst und ein letztes Mal in den Arm genommen, aber meine Mutter war immer noch nicht da. Ich zappelte aufgeregt an Tante Bernhardines Hand und fragte sie immer wieder: „Wann kommt denn die Mama?“ Und erhielt immer dieselbe Antwort: „Ich weiß es nicht! Und jetzt sei endlich still und hör auf so herum zu zappeln!“

Nach einem sehr unterkühlten Abschied von Tante Bernhardine saß ich im Zug Richtung Oberschlesien. Später erfuhr ich, dass meine Mutter verschlafen hatte, weil sie bis spät in der Nacht gearbeitet hat. Der Anfang einer gefühlten Tragödie.

Nach vielen Stunden Zugfahrt endlich in  Schlesien am Bahnhof in Ratibor angekommen, die zweite Katastrophe! Alle Kinder waren schon von ihren Gasteltern abgeholt worden, nur ich bleib übrig. Es stellte sich heraus, dass die alte Dame, die mich aufnehmen wollte, schwer erkrankt war. Alle waren ratlos. Das Problem löste sich, als beim Vorbeigehen eine junge Dame, Frau A., auf uns aufmerksam wurde. Sie erklärte sich bereit, mich mitzunehmen.

Ihr Mann war Bankier und sie wohnten in einem recht großen Haus am Waldrand. Die Zimmer der oberen Etage waren an Bergarbeiter vermietet und auch das Dienstmädchen hatte dort ihre Schlafkammer.

Mein Quartier war das Sofa im Wohnzimmer.


Schlesische Geschichten, erster Teil

Um es gleich am Anfang zu sagen: Ich fühlte mich dort nicht wohl! Schon immer war ich ein schüchternes, ängstliches Kind  und irgendwie wurde ich mit den fremden Leuten dort nicht warm. Ich versuchte es allen recht zu machen, aber es war immer alles nicht richtig.

Im Rückblick habe ich das Gefühl, das sich die junge Frau an meiner Schüchternheit und Unsicherheit geweidet hat. Heute weiß ich, dass die ganze Situation auch für sie nicht leicht war.

Es war alles so ganz anders, als ich es von zu Hause aus gewohnt war. Als das erste Gewitter, das ich dort erlebte, aufzog, mussten wir uns alle hinknien und beten, bis es vorüber war. So etwas hatte ich noch nie erlebt.


Die Dienstmädchen-Geschichte

Jeden Tag schaute ich in den Briefkasten um nachzusehen, ob Post für mich gekommen war. An meinen Vater dachte ich sehr oft und träumte davon, dass er mich einmal besuchen würde.

Eines Tages wurde das Dienstmädchen krank und war bei ihrer Familie. So kam es, dass ich in ihrer freien Kammer unter dem Dach schlafen durfte. Eines Nachts hörte ich im Halbschlaf das Geräusch einer sich öffnenden Tür und als sich plötzlich jemand neben mich ins Bett legte, bildete ich mir im Halbschlaf ein, mein Vater wäre endlich zu Besuch gekommen. Als ich dann aber richtig wach wurde, ging mir ein Licht auf. Es war gar nicht mein Vater, der da neben mir lag. Plötzlich hatte ich große Angst und ich stand auf und klopfte heftig an die Schlafzimmertür meiner Gasteltern. Ich schlief nach dem Zwischenfall wieder auf dem Sofa.

Den Mann habe ich nie wieder gesehen – das Dienstmädchen auch nicht.


Alle meine Entchen

Am schlimmsten war aber, dass ich, ein Stadtkind, die kleinen Gänse und Enten hüten musste. Es war gar nicht so leicht bei dem Gewusel den Überblick zu behalten, ständig verschwand eines dieser kleinen Viecher im Gebüsch. Dann schickte ich  eines der Kinder vor, um es Frau A. zu sagen, dass eines der Gänschen oder Entchen fehlte und wieder stellte sie mich später zur Rede, warum ich es ihr nicht selber sagen würde.

Eines Tages eskalierte die Situation. Frau A. schrie und schimpfte mit mir und sagte: „Ich will dich morgen nicht mehr hier sehen!“ Die ganze Nacht lag ich wach und grübelte darüber nach, was ich nun machen sollte. Am nächsten Morgen packte ich meine paar Habseligkeiten in einen Schuhkarton, zog mir meinen Mantel an und ging in die Küche.

Frau A. sah mich an und fragte erstaunt: „Wo willst du denn hin?“ Schüchtern antwortete ich ihr: „Sie haben gestern gesagt, dass Sie mich heute nicht mehr hier sehen wollen.“ – „Aber das habe ich doch gar nicht so gemeint!“ sagte sie unwirsch. In dem Moment war ich der glücklichste Mensch auf Erden.


Der Geburtstag

Noch eine Begebenheit, die ich nie vergessen werde. Frau A. hatte einen Neffen, der ungefähr so alt war wie ich. Eines Tages kam ich vom Gänsehüten nach Hause und war sehr überrascht. Im Wohnzimmer wurde gefeiert! Mit allem was dazugehört. Es gab Musik und es wurde getanzt, viele Kerzen brannten und es gab reichlich zu essen. Der Neffe hatte Geburtstag! Ich wurde in die dunkle Küche gesetzt, bekam ein Stück Brot oder Kuchen. Die Tür blieb einen Spalt offen und durch den Spalt konnte ich die Anderen beobachten, wie sie feierten, aber keiner forderte mich auf mit zu feiern. Ich war unsagbar traurig!

Alles in Allem war ich sehr froh als das Jahr vorüber war und ich wieder nach Düsseldorf fahren durfte.


Schlesische Geschichten, zweiter Teil

Nach einem Jahr sollte ich wieder mit der Kinderlandverschickung nach Oberschlesien. Dieses Mal aber kam ich, auf eigenen Wunsch, zu einer Bauernfamilie.

Die Familie sprach nur polnisch, ich verstand kein Wort. In der Schule wurde deutsch gesprochen, und das verschaffte mir einen großen Vorteil, war ich doch die einzige in der Klasse, die deutsch sprechen und schreiben konnte. Das war das erste und einzige Mal, das ich, jedenfalls für einige Zeit, die Klassenbeste war.

Bei den Bauern hatte ich es gut. Mit meiner neuen Freundin zusammen sah ich wie die SA mit ihren glänzenden Lackstiefeln durchs Dorf marschierten. Wir hatten Krieg, und wenn wir auch vor Luftangriffen relativ sicher waren – deshalb war ich ja hier – so bekamen auch wir die Auswirkungen zu spüren. Wir mussten zwar noch nicht hungern, aber man merkte schon, dass alles knapper wurde, denn auch die Bauern durften nicht so wie sie wollten. Es  wurde genau festgelegt, wann welches Tier geschlachtet werden durfte und was mit den Erzeugnissen zu geschehen hatte. Trotzdem haben wir Wurst gemacht und Speck gepökelt und meine erste Schmalzstulle habe ich da auch bekommen.

Auch die Milch der Kühe musste abgeliefert werden. Wir haben heimlich in einer Thermoskanne Butter gemacht. Die Milch kam in die Kanne und wurde stundenlang geschüttelt. Da wir die Kuhmilch abgeben mussten, blieb uns nur die Milch der Ziegen. Wie habe ich die Ziegenmilch gehasst! Besonders schlimm war die Haut auf der Milch. Brrr!

Ein großes Ereignis stand bevor! Meine Kommunion! Es hatte sich auch Besuch angekündigt. Meine Oma kam und auch meine Mutter, allerdings in Begleitung eines mir fremden Mannes. Meine Eltern hatten sich in der Zwischenzeit getrennt.


Im Sauerland

Nach fast zwei Jahren war meine Zeit in Oberschlesien vorbei. Meine Mutter brachte mich ins Sauerland zu meiner Tante Grete. Mutter wollte es so, weil ich bei ihr nicht bleiben konnte, sie hatte nur ein Zimmer, und Düsseldorf von Luftangriffen heimgesucht wurde.

Was ich bei meiner Tante mitbekam, war das Ende des Krieges. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie die amerikanischen Panzer durch Neheim-Hüsten gerollt sind.

Meine Cousine hat einmal Schmalz von den Amerikanern mitgebracht. Davon haben wir Reibekuchen oder Berliner gemacht. Und wir bekamen Kaugummi von den Soldaten, manchmal auch Schokolade. Das war für uns Kinder das Größte.

Der Krieg war vorbei, und ich wurde von meiner Mutter zurück nach Düsseldorf geholt.


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2011 erzählt von Hannelore S., aufgeschrieben von Ute M., bearbeitet von Reinhard R. 2025.

Fortsetzung findet die Geschichte in „Von der Graupensuppe bis zum Filetsteak“ hier in unserem Blog.


*Als Kinderlandverschickung (KLV) wurde die Erholungsverschickung von Kindern bezeichnet. Die Erweiterte Kinderlandverschickung brachte Schulkinder sowie Mütter mit Kleinkindern aus den vom Luftkrieg bedrohten deutschen Städten längerfristig in weniger gefährdeten Gebieten unter, insgesamt bis Kriegsende wahrscheinlich über 2.000.000 Kinder und dabei vermutlich 850.000 Schüler.


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