Helgas Großeltern Muttchen und Vati: "Gefallen macht schön!"
Helga B. wurde 1938 in Düsseldorf geboren, während des Krieges (1) nach Bayern verschickt und kehrte einige Wochen nach Kriegsende mit der Mutter und der jüngeren Schwester nach Düsseldorf zurück.
Die Liebe von Martha und Woldemar hat mich sehr geprägt
Die Eltern meiner Mutter spielten in meinem Leben so eine entscheidende Rolle, so dass ich ihnen ein ganzes Kapitel widmen möchte. Ich nannte sie „Muttchen“ und „Vati“, so wurden sie von der ganzen Familie genannt. Damit kein Missverständnis entsteht, „Vati“ war nicht mein Vater, sondern mein Großvater.
Vor meinem Großvater, Woldemar, hatte ich ungeheuren Respekt. Seine ganze Haltung, die Autorität ausstrahlte, seine Ernsthaftigkeit und die Disziplin, mit der er seine Arbeit als Ingenieur ausübte, beeindruckten mich. Auch seine kerzengerade Haltung und sein gepflegter Spitzbart trugen dazu bei. Immer wenn er in der Nähe war, benahm ich mich ganz besonders gut, weil ich nicht sein Missfallen erregen wollte.
„Vati“, also Opa Woldemar, war Ingenieur bei Krupp und beruflich viel unterwegs. Er bereiste verschiedenste Länder, um sich dort um den Brückenbau zu kümmern.
Zu „Muttchen“, Oma Martha, hatte ich ein ganz anderes Verhältnis. Sie war liebevoll und mütterlich, sie konnte Gefühle zeigen. Sie lehrte mich die Liebe zu Pflanzen und Tieren. Muttchen teilte mir ihr umfangreiches Wissen über Vögel mit. Sie hatte ein ungeheuer rücksichtsvolles Wesen und lebte mir vor, dass jede Kreatur ein Recht auf Leben und Unversehrtheit hat und auch meinen Respekt verdient.
Diese Haltung hat mich sehr geprägt. Noch heute sammele ich Schnecken und Würmer von den Wegen und bringe sie auf Beeten oder Büschen in Sicherheit. Wenn sich Bienen in meine Wohnung verirren, fange ich sie mit einem Tuch und zeige ihnen behutsam den Weg nach draußen.
Muttchen hatte als Mädchen eine Höhere-Töchter-Schule besucht. Sie sprach sowohl englisch als auch französisch und hatte eine Vorliebe für Gedichte in diesen Sprachen. Noch im hohen Alter – sie wurde 92 Jahre alt – rezitierte sie diese Gedichte, um ihren Geist fit zu halten. Meine Großmutter war nicht nur eine sehr kluge Frau, sie verfügte auch über Herzensbildung. Sie war mein großes Vorbild und ich denke heute noch voller Wärme an sie.
Wenn ich meine Ferien in Bremen verbrachte, ging Muttchen gern mit mir spazieren. Wir flanierten durch den Bürgerpark (Foto) und schlenderten an der Weser entlang. Auch in ihrem großen Haus oder in ihrem schönen Garten gab es immer etwas, wobei ich sie unterstützen konnte.
Am liebsten saßen wir beide aber gemütlich beieinander und ich lauschte den Geschichten, die meine Großmutter aus ihrem Leben erzählte. Wenn ich meinen Kindern später diese Geschichten erzählte, sagten sie: „Die 'Lindenstraße' (2) ist nichts dagegen!“
Deshalb möchte ich dem geneigten Leser, der geneigten Leserin, eine Auswahl dieser Geschichten nicht vorenthalten:
Die haarsträubenden Geschichten von Muttchen
Es fängt schon damit an, dass „Muttchen“ im Gefängnis groß geworden ist. Nein, nein, sie lebte dort nicht als Sträfling. Sie war die Tochter des Gefängnisdirektors einer Kieler Haftvollzugsanstalt, der mit seiner Frau, drei Söhnen und zwei Töchtern direkt an seinem Arbeitsplatz wohnte.
Die beiden Töchter waren Zwillinge, eine davon war meine Großmutter. Wie bei Zwillingen üblich, hatten die beiden ein ganz besonders inniges Verhältnis zueinander. Eines Tages besuchte Muttchens Schwester einen Ball. Sie war prächtig herausgeputzt, trug ein Ballkleid, das extra für sie geschneidert worden war. Sie war 20 Jahre alt, eine blendende Erscheinung, und ließ keinen Tanz aus. Sie ahnte nicht, dass sie diesen Abend nicht überleben würde.
Irgendwo außerhalb des Ballsaals lag ein Mann auf der Lauer. Ich weiß nicht, ob es ihr eifersüchtiger Liebhaber war oder aber ein verzweifelter Verehrer. Jedenfalls legte er auf sie an und erschoss sie. Mitten auf der Tanzfläche brach sie zusammen. Sie musste sofort tot gewesen sein. Man kann sich die Aufregung und das Entsetzen der Familie vorstellen.
Muttchens Schwester wurde in ihrem Ballkleid bestattet. Ob man den Täter verhaftet hat und was aus ihm wurde, kann ich nicht sagen. Ich weiß, dass meine Großmutter sehr um ihre Schwester getrauert hat.
In den folgenden Jahren hat sie auch ihre drei Brüder verloren. Sie fuhren zur See und kehrten nicht wieder heim. Als „Vati“, also mein Großvater Woldemar, der als junger Mann bei der kaiserlichen Werft in Lübeck als Ingenieur beschäftigt war, meiner Großmutter zum ersten Mal begegnete, trug er eine schmucke Marineuniform. Sie war entzückt und erlaubte ihm, ihr den Hof zu machen. Wenn er sie heimbrachte, verabschiedete sie sich immer schon ein paar Häuserblocks weit von ihrem Zuhause entfernt, weil es ihr so unangenehm war, im Gefängnis zu wohnen. Nach einer angemessenen Werbezeit hielt Woldemar um Marthas Hand an. Die beiden heirateten und zogen nach Berlin.
Muttchen schwärmte später von "Kaisers Zeiten". Bei ihren Spaziergängen „Unter den Linden“ sah sie mehrfach den Kaiser. Es muss wohl die schönste und sorgloseste Zeit für beide gewesen sein.
Als Vati dann „Kruppianer“ wurde, d.h. er arbeitete bei der Firma Krupp, zog das Paar nach Essen. Hier wurden die beiden Töchter Anneliese und Irmgard, meine Mutter, geboren. Während der Zeit der deutschen Inflation (1914 – 1923) wurde das Geld immer weniger wert, das Essen war knapp. Die Menschen litten Hunger und nutzten jede Gelegenheit, um an Lebensmittel für sich und ihre Familien zu kommen. In diesem Zusammenhang erzählte Muttchen mir eine schreckliche Geschichte.
Ein Pferd war vor Schwäche mitten auf der Straße umgefallen. Die Menschen stürzten sich auf das tote Tier und zerstückelten es, wobei das Fleisch noch dampfte. Ich habe mich regelrecht vor dieser Geschichte gegruselt, ich habe nie Pferdefleisch essen können. Irgendwann, das genaue Jahr kenne ich nicht, zog die Familie nach Düsseldorf, auf die Graf-Adolf-Straße. Später übernahmen meine Eltern die Wohnung, während meine Großeltern zurück in den Norden zogen.
Mein Großvater wurde 72 Jahre alt. Einfach nur Rentner zu sein, kam für ihn nicht in Frage. Er brauchte eine Beschäftigung und so hat er nebenbei gearbeitet, hat Firmen besucht und sie beraten. Bei einem Firmenbesuch klopfte er an die Tür des Pförtnerhäuschens und fragte: „Kann ich mich mal setzen, mir ist nicht gut.“ Der Pförtner ließ ihn herein, „Vati“ setzte sich und im nächsten Moment war er tot.
„Muttchen“ überlebte ihren Mann um viele Jahre. Kurz nach seinem Tod gab sie das große Haus auf. Sie blieb zunächst in Bremen und zog ins Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses. Sie hatte einige Freundinnen, mit denen sie ihre Freizeit verbrachte. Gern war sie mit ihnen im Bürgerpark unterwegs, dort saßen sie stundenlang auf einer bestimmten Parkbank, "Lästerbank" genannt, und tauschten sich aus.
Regelmäßig besuchte „Muttchen“, ihre Töchter in Essen und Düsseldorf. Wenn sie bei uns war, liebte sie es, in einem Café an der Kö zu sitzen und gutmütig über die vorbeigehenden Passanten zu lästern. Im Laufe der Zeit wurden ihre Freundinnen pflegebedürftig oder verstarben, Muttchens eigene Kräfte schwanden auch immer mehr. Schließlich zog sie zu ihrer Tochter, meiner Tante Anneliese, die inzwischen in einem Einfamilienhaus in Essen lebte. Hier verbrachte meine Großmutter die letzten Jahre bis zu ihrem Tod, fürsorglich von ihrer Ältesten gepflegt.
Voller Dankbarkeit denke ich an sie zurück. Wie oft munterte sie mich mit ihren Weisheiten auf: „Jeder hat seinen Wert im Leben, egal was derjenige macht.“, „Gefallen macht schön“ oder, wenn es um den „richtigen“ Mann ging: „Von einem schönen Teller isst man nicht. Der Charakter zählt.“
Ich hatte die Bremer Großeltern auf meiner Seite. Sie akzeptierten und liebten mich so, wie ich war.
Die Eltern: Warum sich der Berufswunsch nicht erfüllte
Ich glaube an einen liebenden und gütigen Gott. Bereits in jungen Jahren, noch während der Zeit in Königshofen/Bayern, wurde der Grundstein für meinen Glauben gelegt. Es gab dort einen sehr netten Pfarrer. Meine Mutter ging oft in die Kirche und hatte mich immer mit am Händchen. Sie ist weniger aus Gläubigkeit hingegangen, sondern eher um in Kontakt zu kommen mit Gemeindemitgliedern und dem Pfarrer. Aber mir hat es gut gefallen, ich fühlte mich in der Kirche gut aufgehoben.
Jahre später ging ich in Düsseldorf zum Konfirmandenunterricht in die Matthäi-Kirche auf der Lindemannstraße. Missionar Halfmann war zu dieser Zeit Gast in der Gemeinde. Er hatte viele Jahre in Afrika verbracht und erzählte uns aus dieser Zeit. Er brachte das so anschaulich herüber, dass ich unbedingt direkt nach der Schule in Kaiserswerth Diakonisse werden wollte.
Ich konnte die Gelegenheit nutzen und machte ein Schulpraktikum bei den Diakonissen. Ich wurde in der Kinderabteilung eingesetzt und war total begeistert, sowohl von der Arbeit mit Kindern als auch von den Diakonissen. Ich habe zugeschaut und durfte auch mithelfen. Jeden Morgen fieberte ich dem Tag in Kaiserswerth entgegen, jeden Abend erzählte ich meiner Mutter begeistert von allem, was ich erlebt hatte. Ich war sehr stolz auf meinen Einsatz, empfand es auch als Privileg, dort mitarbeiten zu können.
Am Ende des Praktikums stand für mich fest: Ich wollte Diakonisse werden.
Meine Mutter lehnte meinen Wunsch ganz entschieden ab. Sie meinte, das Leben würde dann an mir vorbeigehen. Sie verbot mir, diesen Weg weiter zu verfolgen. Man widersprach damals nicht. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, mich durchzusetzen, trotzig für meinen Berufswunsch zu kämpfen im Sinne von: „Ich mache was ich will!“
Ich muss einerseits gestehen, dass ich schon bedauert habe, dass ich meinen Berufswunsch nicht verwirklichen konnte. Ich glaube andererseits, dass ich sehr darunter gelitten hätte, wenn die Kinder krank geworden oder gar gestorben wären. Man sagt mir nach, ich hätte ein Helfersyndrom.
Vielleicht stimmt das, vielleicht hätte ich mich als Diakonisse völlig verausgabt.
Heute kann ich rückblickend sagen: Der liebe Gott hatte andere Pläne mit mir.
Ich fühlte mich wertlos
Aber ich habe auch erfahren müssen, wie es sich anfühlt, wenn man behandelt wird als wäre man wertlos. Ich finde das einfach grauenhaft. Das war schon so als ich Kind war. Meine Schwester war der Liebling meiner Eltern und der Sonnenschein unserer Großeltern väterlicherseits. Ob es daran lag, dass sie sehr klein und zart war oder daran, dass sie unserem Vater und damit der großen Liebe unserer Mutter ähnelte … ich weiß es bis heute nicht.
Ich tat alles, um die Gunst meiner Mutter zu erwirken. Ich machte sogar zeitweise die Schularbeiten für meine Schwester, die dazu keine Lust hatte. Merkwürdigerweise tolerierte meine Mutter alles, was meine Schwester tat. Sie wurde auch nicht zu irgendwelchen Haushaltspflichten herangezogen. Im Gegenteil. Ich musste ihre weißen Blusen und Petticoats bügeln.
Da stand ich dann sonntags morgens und bügelte, während meine Schwester bis mittags schlief. Heute wohnen meine Schwester und ich nicht weit voneinander entfernt. Ich besuche sie jeden Samstag, weil sie krank ist.
Ehe gescheitert – Vater entwurzelt
Die Ehe meiner Eltern hatte durch die Kriegsjahre so gelitten, dass sie sich immer weiter auseinanderlebten und schließlich auch trennten. Beide hatten sich neuen Partnern zugewandt. Mein Vater, zu dem ich nie ein enges Verhältnis aufbauen konnte, verschwand regelrecht aus meinem Leben. Damals war es nicht üblich, dass geschiedene Väter Unterhalt zahlten, dazu wäre mein Vater auch gar nicht in der Lage gewesen. Vor dem Krieg hatte er in gehobener Stellung für die Fischer-Werke gearbeitet, im Krieg war er Offizier gewesen.
Nach dem Krieg kehrte er zwar zu seiner alten Firma zurück, fasste aber dort nicht mehr Fuß. Im Anschluss arbeitete er für verschiedene Firmen, blieb dort nie lange, schlug keine Wurzeln mehr. Der Krieg hatte ihn buchstäblich entwurzelt. Wir hörten nur noch selten von ihm. Irgendwann erfuhr ich, dass er bereits mit Anfang 60 verstorben ist.
Unmittelbar nach der Scheidung musste meine Mutter allein für unseren Lebensunterhalt sorgen. Sie sei jung und gesund und es gäbe keinen Grund, dass sie nicht selbst für ihre Kinder sorge, befand der Scheidungsrichter. Außerdem könne ihre Tochter (gemeint war ich) auch ihren Anteil zum Lebensunterhalt beitragen. Meine Mutter war froh, dass sie in ihrer Jugend eine Lehre bei Coppel & Goldschmidt als Modeverkäuferin gemacht hatte. Damals hatte ihr ihr Vater dazu geraten. Sie fand eine Stelle bei Brenninkmeyer (später C&A) und wurde wieder berufstätig. Wir zogen um zur Ehrenstraße, in eine sehr schöne Wohnung ganz in der Nähe vom Hofgarten, in der meine Mutter auch bis zum Schluss geblieben ist.
Die ungute Entwicklung der Ehe meiner Eltern hatte bei mir dazu geführt, dass ich keinem Mann richtig trauen konnte, als ich erwachsen wurde. Ich war ziemlich eigen und signalisierte immer: „Rühr mich bloß nicht an!“
Aber es dauerte nicht mehr lange, bis der Richtige kam….
Mein Bemühen um mütterliche Anerkennung wurde wenigstens mit dem Slogan belohnt, der mich durch mein ganzes Leben begleitete: "Liebe Helga, gutes Kind!“.
(1) Als Zweiter Weltkrieg (1939 – 1945) wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er am 1. September 1939 mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen. … Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945.
Quelle: wikipedia
(2) „Lindenstraße“ war eine Fernsehserie des WDR. Sie wurde seit 1985 sonntags ausgestrahlt und galt als erste deutsche Seifenoper. Die letzte Folge der Lindenstraße wurde im März 2020 gesendet.
Quelle: wikipedia
Auzug aus „Liebe Helga – gutes Kind“, erzählt von Helga B., aufgeschrieben von Susanne H. (2017), bearbeitet von Barbara H. (2023)
Foto: K.Paulick/Pixabay
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