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Ganz gleich wo - den Bomben schutzlos ausgeliefert

Frau B. wurde am 11.01.1938 in Düsseldorf geboren und während des Krieges nach Bayern evakuiert. Einige Wochen nach Kriegsende kehrte sie mit der Mutter und der jüngeren Schwester nach Düsseldorf zurück.

Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich wohlbehütet, ich hatte sogar ein Kindermädchen, das mit mir über die Königsallee, durch den Englischen Garten und den Hofgarten spazierte. Damals wussten meine Eltern noch nicht, dass ihr harmonisches Miteinander nur noch von kurzer Dauer sein würde und dass es nie wieder so werden würde.


Ab Frühjahr 1941 gab es auf Düsseldorf immer mehr Bombenangriffe. Bei einem von diesen wurde Helga, ihre kleine Schwester und ihre Mutter im Luftschutzkeller verschüttet und konnten erst nach geraumer Zeit wieder befreit werden. Bei diesem Angriff wurde das Nachbarhaus komplett zerstört, ihr eigenes hatte schwere Schäden davongetragen. Deshalb entschloss sich der Vater von Helga, seine Familie nach Bayern in Sicherheit zu bringen.


Verschickung nach Bayern


Ich weiß nicht, wie mein Vater es geschafft hat, aber er sorgte dafür, dass wir nach Bayern umziehen konnten. In aller Eile packte meine Mutter ein paar Sachen zusammen, unter anderem das Silberbesteck und eine edle Tischdecke. Bepackt mit Rucksack und einem Koffer machte sie sich mit uns auf den Weg. Meine Schwester, die erst ein halbes Jahr alt war, trug sie auf dem Arm, ich lief neben den beiden her. Der Fußweg zum Bahnhof war nicht weit, aber überall lagen Trümmer, obwohl zu dieser Zeit nach den Bombenangriffen noch schnell aufgeräumt und mit Aufbauarbeiten begonnen wurde. Später wurde Düsseldorf so oft bombardiert, mit so verheerenden Schäden, dass an Wiederaufbau nicht mehr zu denken war. Wir stiegen in den Zug, der uns nach Bayern in die vermeintliche Sicherheit bringen sollte. Die Züge waren damals ganz anders als heute. Üblicherweise reiste man in der „Holzklasse“, hier waren die Bänke tatsächlich aus Holz und entsprechend unbequem. Hinzu kam, dass unser Zug völlig überfüllt war. Irgendwo war unser spärliches Gepäck gelagert, unsere Mutter hatte uns beide auf den Schoß genommen. Von meinem Platz aus sah ich auf lauter Rücken und Beine. Alle redeten durcheinander, die Luft hätte man schneiden können, es roch nach Angst. Es rüttelte ganz schlimm, wenn der Zug in voller Fahrt war. Selbst in der heutigen Zeit wäre man zwischen Düsseldorf und Mainfranken einige Stunden unterwegs, damals brauchten wir sehr viel länger, es kommt mir vor, als seien wir tagelang unterwegs gewesen. Der Zug fuhr sehr langsam, immer wieder stoppte er, blieb auf freier Strecke stehen. Wir hörten, wie die Flugzeuge über uns hinwegflogen und wir sahen, wie draußen die Christbäume (1) vom Himmel fielen, die die Nacht taghell machten. Um uns herum wurden Bomben abgeworfen. Im Zug war es mucksmäuschenstill, alle hielten den Atem an, als wären wir dadurch weniger sichtbar. Die Kinder wurden flüsternd beruhigt. Hier gab es keinen Keller und keinen Bunker, in dem wir Schutz suchen konnten. Wir waren völlig ausgeliefert. Selbst wenn ich nach so langer Zeit nur daran denke, spüre ich noch die Angst. Wir waren überzeugt: „Nun ist es vorbei!“ Ich klammerte mich an meine Mutter, die genau wie alle anderen schreckensbleich war. Wie durch ein Wunder wurde der Zug nicht getroffen und wir kamen heil in einem kleinen bayrischen Dorf an: Kleinbardorf. Wir wurden auf einem Bauernhof einquartiert. Als Großstädter hatten wir so etwas noch nie gesehen. Die Bauersleute begrüßten uns freundlich auf ihrem großen Hof und wiesen uns ein Zimmer zu. Das Zimmer lag genau über der Jauchegrube, es war klein und nur spärlich möbliert, aber wir waren froh, wieder ein Dach über dem Kopf zu haben und hofften, dass wir hier von diesen ständigen Alarmen und Angriffen verschont bleiben würden. Das Landleben war natürlich vollkommen ungewohnt und fremd. Der Tagesrhythmus, die Geräusche, die Gerüche und natürlich auch die Art der Arbeit. Wir hatten geglaubt, in einer bayrischen Kleinstadt in Sicherheit zu sein, aber auch in Königshofen blieben wir von Bombenangriffen nicht verschont.


Wir hatten wieder einen von vielen schweren Angriffen unverletzt überlebt. So gut wie täglich hörten wir Kanonendonner und erlebten Bombenangriffe. Der allgegenwärtige Alarm ging buchstäblich durch Mark und Bein. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er mir heute noch in den Knochen steckt. Inzwischen schliefen wir nachts nur noch im Trainingsanzug und hatten den Rucksack griffbereit neben uns stehen. Wir mussten allzeit bereit sein, von unserer Wohnung rasch hinüber zum Bunker am Kloster zu laufen.


Rückkehr nach Düsseldorf


Einige Wochen nach Kriegsende kehrten wir 1945 nach Düsseldorf zurück. Unser Vater hatte großes Glück, dass er weder verwundet wurde noch in Gefangenschaft geriet. Nach einem kurzen Besuch in Königshofen war er uns bereits vorausgefahren, um nach einer Wohnmöglichkeit für uns zu schauen. Nicht lange darauf folgten wir ihm in die Heimat.


Vor kurzem habe ich ein Plakat gesehen, auf diesem stand zu lesen: „Ohne Erinnerung verblasst die Vergangenheit.“ Ich finde es wichtig, sich zu erinnern und von seinen Erinnerungen zu berichten. Gerade dann, wenn es um Krieg und Flucht geht. Wenn heute Bilder von Kriegsgebieten über den Bildschirm flimmern, kann ich kaum hinsehen. In den Gesichtern der Menschen spiegelt sich die Angst. Besonders Kindergesichter rühren mich zutiefst. Welchen Schrecken haben diese Kinderaugen schon sehen müssen? Ganze Ströme von Menschen fliehen. Mit einem kümmerlichen Rest ihrer Habe machen sie sich auf den Weg, Hunderte von Kilometern weit. Menschen mit Fluchterfahrung werden sie genannt, ein fast technischer Begriff, der noch nicht einmal im Ansatz beschreibt, was es bedeutet, geliebte Menschen, sein Hab und Gut und alles, woran das Herz hängt, zurückzulassen, in völliger Ungewissheit, ob man jemals zurückkehren wird.


Auszug aus: „Liebe Helga – gutes Kind“,

erzählt von Helga B., Auszug erfasst von Gaby G.


Anmerkungen


(1) Scheinsignalraketen wurden im Zweiten Weltkrieg in deutschen Nachtscheinanlagen verwendet, um die von den alliierten „Pfadfinder“-Flugzeugen gesetzten Leuchtmarkierungen („Christbäume“) an falscher Stelle nachzubilden. So sollte, weit ab vom „richtigen“ Ziel, die Nachtscheinanlage als Ziel markiert und die anfliegenden Bomberverbände in die Irre geführt werden.



Titelbild: Michael Thomaschek

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