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"Wer weiß, wo wir sonst landen": Flucht vor russischer Armee

Barbara, 1930 in Oberschlesien – heute Polen – geboren, hatte selbst keine Kinder, wuchs aber in einer Lehrerfamilie mit sechs Geschwistern, Neffen, Nichten auf. An deren Lebensläufen nimmt sie ihr Leben lang Anteil und ist in diese Familien fest integriert. Ihre Eltern hatten ihr ein entsprechendes Familienleben vorgelebt.

Symbolfoto: Bru-nO/Pixabay


Mein Bruder Gotthard und meine Schwester Thea

In Oberschlesien, heute Polen, lebte meine Familie auf einem kleinen Bauerndorf namens Gammau, das ein paar Kilometer von Ratibor (1) entfernt liegt. Ich war das vierte Kind meiner Eltern, es folgten drei weitere. Der Älteste war Gotthard, 1924 geboren, sechs Jahre älter als ich, und meine um zwei Jahre ältere Schwester Thea. Ich erzähle von ihnen, weil sie in der Zeit der Flucht aus unserer Heimat eine große Rolle in meinem Leben gespielt haben.


Vater war Schulleiter der kleinen Dorfschule, wo wir auch wohnten. Außerdem war er auch Amtsvorsteher, Standesbeamter und Schiedsmann für unser Dorf Gammau und für das kleinere Nachbardorf Silberkopf. Er stammte aus einer Familie mit vierzehn Kindern, die auf einem großen Hof mit einer Jagd lebten. Meine Mutter war Hausfrau. Heute würde man sagen: „Sie leitete ein kleines Familienunternehmen“. Ihre Eltern hatten die Gastwirtschaft im Ort und die Post.

Zu siebt auf der Flucht

Als 1945 gegen Ende des Zweiten Weltkriegs (2) die russische Armee immer näher rückte, mussten wir unser Dorf verlassen. Eigentlich sollten alle Gammau verlassen, aber die Bauern sind geblieben. Mein Vater organisierte einen Pferdewagen für uns.

Wir, meine Eltern, meine drei kleineren Geschwister, meine Schwester Thea, 17, und ich mit meinen 15 Jahren, fuhren mit dem Pferdewagen am 8. Februar 1945 zur nächsten Bahnstation. Von da aus ging es mit einem Zug zu den Cousinen meiner Eltern, wo wir eine Nacht blieben. Dann fuhren wir mit einer Art Flüchtlingszug weiter Richtung Dresden.

Als wir einmal umsteigen mussten und im Wartesaal eines Bahnhofs etwas zu essen bekamen, rief die kleine Irma, damals sieben Jahre alt, als sie die mit brauner Soße übergossene Frikadelle sah: „Igitt, da ist ja Soße drauf, das esse ich nicht.“ Das kannte sie nicht, denn zu Hause haben wir sie mit Gemüse und ohne Soße gegessen. Da haben wir uns etwas geschämt, denn man musste damals froh sein, wenn man überhaupt etwas zu essen bekam.

Dann ging es über Neustadt, wo noch viele Verwandte meines Vaters lebten. Er entschied: „Wir fahren nicht weiter, wir steigen in Neustadt aus und fahren zu meinen Geschwistern. Das sind Bauern, und es gibt bei denen immer was zu essen. Wer weiß, wo wir sonst landen.“ Später stellte sich heraus, dass das eine sehr gute Entscheidung war.

Gotthard durfte in Breslau nicht studieren

Mein Bruder Gotthard war in Gammau geblieben, weil er auf unser Haus aufpassen wollte. Er war wegen eines geburtsbedingten Hüftschadens nicht zur Wehrmacht eingezogen worden, obwohl er gern zur Luftwaffe gekommen wäre. Sein Spruch war: „Bei der Luftwaffe muss ich ja nicht laufen, da kann ich fliegen.“ Aber er war abgelehnt worden.

Er hatte sein Abitur gemacht und wollte in Breslau studieren, durfte aber nicht, weil er keinen Kriegsdienst geleistet hatte. An der Universität Breslau arbeitete er dann als Fahrstuhlführer; einen Hörsaal durfte er nicht betreten.

Als Breslau von den Russen eingekesselt worden war, verließ er die Stadt und kam wieder nach Gammau, wo er blieb, als wir das Dorf verließen. Aber er hatte schon alles zusammengepackt und auf sein Fahrrad geladen, um notfalls zu flüchten. In seinem Rucksack hatte er unter anderem einen Esbit-Kocher (3), eine Erbswurst (4) und ein Päckchen Puddingpulver, das weiß ich noch genau.

Wir anderen landeten bei Onkel und Tante Weiß in Radstein bei Neustadt. Ihre beiden Söhne waren Soldaten, die beiden Töchter lebten bei ihnen. Sie waren älter als wir Kinder. Wenn wir damals mit dem Zug weiter gefahren wären nach Dresden, hätten wir am 13. Februar 1945 die Bombardierung Dresdens miterlebt.

Zurück nach Gammau: Einmal wegen wegen einer Backschüssel, dann wegen der Fahrräder

Thea und ich langweilten uns, und wir vermissten unsere Freundinnen. Als meine Mutter eines Tages sagte: „Ach, ich habe die Backschüssel in Gammau vergessen“, waren Thea und ich bereit, sie zu holen. Die Züge fuhren noch. Wir erledigten das problemlos, obwohl wir im Zug schrecklich froren. Meine Mutter sagte ein paar Tage später: „Unsere Fahrräder stehen noch im Schuppen, die könnten wir gut gebrauchen.“ Also fuhren Thea und ich noch einmal zurück nach Gammau.

Dort war ein deutsches Flugzeug auf einem Bauernhof abgestürzt, wo sich gerade Gotthard aufgehalten hatte. Er hatte einen Splitter ins Auge bekommen und sein Augenlicht verloren. Dabei hatte er noch Glück, denn der Splitter prallte an seiner Taschenuhr ab und hatte erst dann das Auge getroffen. Man brachte ihn ins Nachbardorf ins Lazarett, wo man aber nicht viel für ihn tun konnte, denn es gab keinen Augenarzt. Man konnte nur das Auge entfernen.

Gotthards Auge war verloren

Wir mussten ein paar Tage warten, bis klar war, in welches Lazarett mein Bruder gebracht worden war. Thea hatte den von Gotthard für die Flucht gepackten Rucksack an sich genommen. Inzwischen rückte die russische Armee zwischen Neustadt und Ratibor soweit vor, dass eine Rückkehr nach Radstein zu unserer Familie unmöglich wurde. In Gammau war eine Feldküche stationiert, von der aus das Essen an die Front gebracht wurde. Die dort stationierten deutschen Soldaten aus einer bayerischen Division empfahlen uns, nach Bayern zu flüchten, da wir nicht bleiben konnten, und gaben uns ihre Heimatadressen. Es dauerte nicht lange, da standen Russen vor einem Ort, der westlich von uns lag (Ratibor lag östlich). Jetzt mussten wir uns beeilen.

Thea floh mit mir weiter – auf Munitionskisten sitzend

Jetzt flohen auch Soldaten mit Panjewagen (5) in Richtung Silberkopf, dem kleinen Nachbardorf von Gammau, wo es eigentlich nur einen großen Gutshof gab. Wir waren zu viert, meine Schwester, ich und zwei weitere junge Frauen, und durften nur auf jeweils einem der Wagen mitfahren. Die Fahrräder konnten wir mitnehmen. Da wir beschossen wurden, dirigierte ein Reiter die Kutscher mal nach rechts, mal nach links.

Ich kam mir vor wie im Kino. Angst hatte ich nicht, ich wollte nur immer wissen, wo sich meine Schwester Thea befand. Als wir dann oben die Chaussee erreichten, waren wir nicht mehr im Schussfeld und wir stiegen von den Panjewagen. Erst dann haben uns die Soldaten gesagt, dass wir auf Munitionskisten gesessen hatten.

Wir wollten nach Bayern

Wir vier Frauen sind dann Richtung Süden weiter geradelt. Ratibor sahen wir in der Ferne brennen, ab und zu kamen Tiefflieger, vor denen wir uns schützen mussten. Als es dunkel wurde, sind wir in das nächstbeste Haus gegangen, wo wir dann bei wildfremden Leuten übernachten durften. Am nächsten Tag ging es weiter. Wie lange wir unterwegs waren, kann ich heute gar nicht mehr sagen. Jedenfalls waren wir irgendwann an der tschechischen Grenze.

Dort trafen wir die Soldaten von dem Verpflegungstross wieder, die uns aus Gammau gerettet hatten. Wir durften wieder mitfahren und auch an ihren Mahlzeiten teilnehmen.

Am 30. März 1945, es war Karfreitag, gab es Leberkäse, den wir nicht kannten. Wir hatten wegen unseres katholischen Glaubens zwar Bedenken an einem solchen Feiertag Fleisch zu essen, aber es schmeckte sehr gut.

Da die Situation immer gefährlicher wurde, stellten uns die Soldaten aus dem Verpflegungstross eine Bescheinigung aus, dass wir Flüchtlinge sind und dass man uns kostenlos mit der Bahn befördern sollte. Wir konnten dann einen Fronturlauberzug benutzen und sogar unsere Fahrräder mitnehmen, wurden aber ermahnt, uns nicht ans Fenster zu setzen und auch nicht die Tür zu öffnen, weil wir durch die Tschechei mussten, wo es schon rumorte und Partisanenaufstände gab. Deutsche Frauen waren in Gefahr.

Von Wien in Österreich nach München in Bayern

In Wien angekommen, stand die russische Front vor Wien, und viele Menschen waren auf der Flucht. Der Bahnhof war überfüllt, nur Mütter mit Kindern wurden befördert.

Wir vier jungen Frauen machten uns also auf den Weg. Am Stadtrand von Wien sahen wir zwei Soldaten, die sich auf polnisch unterhielten. Eine der jungen Frauen sprachen sie an, denn sie konnten gut Polnisch. Die beiden Soldaten kamen aus Ostpreußen und waren die Besatzung einer großen Zugmaschine, mit der sie Richtung Regensburg zu ihrer Truppe unterwegs waren. Verbotenerweise durften wir vier auf der Ladefläche mitfahren. Wir wollten ja nach München, aber die Richtung stimmte, also ließen wir uns mitnehmen. In der Nacht stiegen noch viele junge Frauen aus einem aufgelösten Arbeitsdienstlager zu, mit Taschen und Koffern beladen. Es waren ja alle auf der Flucht.

Als diese Frauen am Morgen ausgestiegen waren, blieben ein Koffer und eine Tasche auf dem LKW zurück. Das war für uns ein Geschenk des Himmels, denn wir hatten ja außer den Kleidern, die wir trugen, nichts dabei, also auch keine Wäsche zum Wechseln. In den Gepäckstücken fanden wir zum Glück Unterwäsche und andere Kleidungsstücke. In bester Stimmung fuhren wir dann mit bis Regensburg.

Gotthards Rucksack war unser Segen

Unterwegs kochten wir auf Gotthards Esbit-Kocher eine Erbsensuppe und Pudding. Damit konnten wir auch die beiden Soldaten verpflegen, die sich freuten, denn sie hatten selbst nichts zu essen. In dem Rucksack von Gotthard war übrigens auch das Familienalbum mit den einzigen Fotos, die aus der Heimat geblieben sind.

Es folgten mehrere Stationen: Wolfratshausen am Starnberger See – zu Fuß weiter nach Königsdorf zu einem Bauernhof, diese Anschrift hatten wir von einem der Soldaten, der dort zu Hause war – dann nach Amberg bei Buchloe in der Nähe von Bad Wörishofen, wo eine der anderen jungen Frauen gelandet war. Wir fanden Arbeit auf verschiedenen Bauernhöfen. Ich hatte aber von Landwirtschaft wenig Ahnung und fühlte mich überfordert, blieb dort nicht lange.

Endlich Kriegsende

Ungefähr in diese Zeit fiel das Kriegsende, ein paar Tage vor meinem 15. Geburtstag. Wir Deutschen hatten den Krieg verloren. Das erfuhren wir durch die Bauern. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir irgendwo mal Radio gehört hätten.

Die Menschen waren zwar froh, dass der Krieg endlich vorbei war, betrachteten aber die amerikanischen Soldaten (6) mit großer Skepsis!

Thea, ich und eine andere junge Frau konnten uns mit den Soldaten unterhalten, weil wir in der Schule Englisch gelernt hatten. Als man der jungen Frau mal hinterher gepfiffen hatte, rief sie den Soldaten zu: „Ich bin kein Hund, nach dem Sie pfeifen können.“ Danach waren sie sehr freundlich und nett. Und ich bekam von ihnen sogar eine Tafel Schokolade zum Geburtstag, nachdem ihnen Thea von meinem Geburtstag erzählt hatte. Das war eine tolle Überraschung!

Die Amerikaner blieben nicht lange in unserem Dorf, und das Dorfleben wurde wieder ganz normal. Thea und ich arbeiteten bei verschiedenen Bauern, hatten teilweise schwerste und ekligste Arbeit. Nur sonntags durften wir in die Kirche und hatten nachmittags frei. Ich hatte dann das Glück, dass ich wegen meiner 16 Jahre noch schulpflichtig war und die Landwirtschaftliche Berufsschule besuchten musste. Jedenfalls durfte ich dann zusammen mit den anderen Kindern aus der Umgebung einmal in der Woche zur Schule nach Türkheim bei Amberg gehen. Das war für mich immer sehr erholsam. Ich habe es wirklich genossen, dort zu sein.

Gotthard hatte uns gesucht und gefunden – Hilfe vom Deutschen Roten Kreuz

Als ich gerade wieder bei Eiseskälte den Mist auf dem Feld verteilte, im Winter 1947, sah ich auf dem Weg jemanden, der ging wie mein Bruder Gotthard. Und er war es auch. Ich winkte, und er kam näher. Aber zwischen uns war ein Wassergraben, und wir konnten uns nicht umarmen. Er ging dann weiter in den Ort zu Thea. Ich musste weiter arbeiten bis zum Abend, bevor ich zu Thea laufen durfte.

Gotthard erzählte uns dann, wie es ihm ergangen war. Nachdem er aus dem Lazarett entlassen worden war, fand er Unterkunft im Böhmerwald bei zwei alten Damen, Mutter und Tochter. Trotz seiner Behinderung konnte er ihnen in Haus und Hof helfen. Durch das Rote Kreuz (7) erfuhr er, wo meine Eltern waren. Im Sommer 1946 erreichte er dann meine Eltern in Sachsen, die mittlerweile durchs Rote Kreuz gehört hatten, wo wir, Thea und ich, lebten.

(1) Ratibor ist eine Stadt in der polnischen Woiwodschaft Schlesien (heute Racibórz). Sie liegt in Oberschlesien an der oberen Oder, etwa 23 Kilometer westlich von Rybnik und rund 60 Kilometer südwestlich von Kattowitz. Im Süden verläuft die Grenze zu Tschechien.


(2) Als Zweiter Weltkrieg (1.9.1939 – 2.9.1945) wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen. …. Im Kriegsverlauf bildeten sich militärische Allianzen, die als Achsenmächte und Alliierte (Anti-Hitler-Koalition) bezeichnet werden. Hauptgegner des nationalsozialistischen Deutschen Reiches waren in Europa das Vereinigte Königreich mit dem … Premierminister Winston Churchill an der Spitze sowie (ab Juni 1941) die unter der Diktatur Stalins stehende Sowjetunion. … Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945; die beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki führten zur Kapitulation Japans am 2. 9.1945. … Über 60 Staaten auf der Erde waren direkt oder indirekt am Weltkrieg beteiligt, mehr als 110 Millionen Menschen trugen Waffen.


(3) ESBIT (für Erich Schumms Brennstoff in Tablettenform“) ist ein Markenname … für Brennstofftabletten … Ein damit betriebener spezieller Notkocher wurde schon in der Wehrmacht benutzt und kommt auch heute noch bei Bundeswehr … Camping und bei Rettungsorganisationen in der Auslandshilfe zum Einsatz ...

(4) Die Erbswurst war eine der ältesten industriell hergestellten Fertiggerichte. Es handelt sich dabei um keine Wurst im eigentlichen Sinne, sondern um Portionstabletten, die in eine wurstförmige mit Aluminium beschichtete Papierrolle verpackt werden. Daraus konnte in kurzer Zeit eine sämige Erbsensuppe hergestellt werden, indem man die Portionsstücke zerdrückte, in kaltem Wasser auflöste und einige Minuten kochte.

(5) Panjewagen fanden vor allem in der Landwirtschaft in Osteuropa Verwendung. Es war in der Regel ein kleinrahmiger zweiachsiger Bockwagen, der einspännig von einem Panjepferd gezogen wurde.

(6) Die amerikanische Besatzungszone … war eine der vier Besatzungszonen, in die Deutschland westlich der Oder-Neiße-Linie von den alliierten Siegermächten im Juli 1945, rund zwei Monate nach der deutschen Kapitulation und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa aufgeteilt wurde. Sie unterstand der US-Militärregierung und endete nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Inkrafttreten des Besatzungsstatus am 21. September 1949.

(7) Das DRK (Deutsches Rotes Kreuz) rettet Menschen, hilft in Notlagen, bietet Menschen eine Gemeinschaft, steht den Armen und Bedürftigen bei und wacht über das humanitäre Völkerrecht - in Deutschland und in der ganzen Welt. Die Geschichte des DRK ist über 150 Jahre alt. 1863 wurde in Baden-Württemberg die allererste Rotkreuzgesellschaft gegründet. Die Rotkreuz-Idee geht auf den Schweizer Henry Dunant zurück.


alle Quellen: wikipedia


Auszug aus „Mittendrin – Das Leben der Barbara D.“, erzählt von Barbara D.; aufgeschrieben von Rosi A. (2017), bearbeitet von Barbara H. (2023)

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