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Barbara und ihre Geschwister: Das Schicksal von Gotthard

Barbara, 1930 in Oberschlesien – heute Polen – geboren, hatte selbst keine Kinder, wuchs aber in einer Lehrerfamilie mit sechs Geschwistern, Neffen und Nichten auf. An deren Lebensläufen nimmt sie ihr Leben lang Anteil und ist in diese Familien fest integriert.

Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs musste Barbaras Familie das Heimatdorf verlassen. Sie flohen u.a. nach Dresden, wurden aber durch die Bombardierung Dresdens getrennt...

Foto: tatevikmkrtchyan93/Pixabay


Mein Bruder Gotthard und meine Schwester Thea

In Oberschlesien, heute Polen, lebte meine Familie auf einem kleinen Bauerndorf namens Gammau, das ein paar Kilometer von Ratibor (1) entfernt liegt. Ich war das vierte Kind meiner Eltern, es folgten drei weitere. Der Älteste war Gotthard, 1924 geboren, sechs Jahre älter als ich, und meine um zwei Jahre ältere Schwester Thea. Ich erzähle hier von beiden, weil sie in der Zeit der Flucht aus unserer Heimat eine große Rolle in meinem Leben gespielt haben. Doch das Leben Gotthards allein ist folgende Geschichte:

Unser Vater war Schulleiter der kleinen Dorfschule, wo wir auch wohnten. Außerdem war er noch Amtsvorsteher, Standesbeamter und Schiedsmann für unser Dorf Gammau und für das kleinere Nachbardorf Silberkopf. Er stammte aus einer Familie mit 14 Kindern, die auf einem großen Hof mit einer Jagd lebten; dadurch hatten wir viele Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten. Meine Mutter war Hausfrau.

Gotthard, mein älterer Bruder

Gotthards Wunsch, in Breslau (2) zu studieren, war nicht zu erfüllen gewesen, auch nicht, dass er zur Luftwaffe gehen wollte. Seine geburtsbedingte Behinderung verhinderte, dass er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er arbeitete an der Uni in Breslau als Fahrstuhlführer, und als die Stadt von den Russen eingekesselt worden war, machte er sich auf den Weg zu unserem Heimatdorf Gammau. Er hatte einen Plan, packte für eine Flucht alles Notwendige zusammen, um mit seinem Fahrrad abzuhauen.


Ein deutsches Flugzeug stürzte auf einem Bauernhof ab, als Gotthard sich gerade dort aufgehalten hatte. Er hatte einen Splitter ins Auge bekommen und sein Augenlicht verloren. Man brachte ihn ins Nachbardorf ins Lazarett, wo man aber nicht viel für ihn tun konnte, denn es gab keinen Augenarzt. Man konnte das Auge nur entfernen.

Wo war Gotthard?

Meine Schwester Thea und ich waren durch die Bombardierung Dresdens von der Familie getrennt worden, waren auch in Gammau, wussten aber nicht, in welchem Lazarett unser Bruder war. Thea hatte den von Gotthard für die Flucht gepackten Rucksack an sich genommen, der uns später unsagbar gute Dienste geleistet hatte, weil darin Essbares war. Für Thea und mich begann eine Flucht ohne Gotthard, ohne die Eltern und die anderen Geschwister. Unterwegs hatten uns deutsche Soldaten als Ziel das im Süden liegende westdeutsche Bundesland Bayern geraten – da wollten wir hin. Es war ein weiter Weg.


Endlich Kriegsende

Ein paar Tage vor meinem 15. Geburtstag war der Krieg (3) beendet. Wir Deutschen hatten den Krieg verloren. Das erfuhren Thea und ich in Bayern durch die Bauern. Die Amerikaner (4) blieben nicht lange in unserem Dorf, und das Dorfleben wurde wieder ganz normal. Thea und ich arbeiteten bei verschiedenen Bauern, hatten teilweise schwerste und ekligste Arbeit.


Gotthard hatte uns gesucht und gefunden – Hilfe vom Deutschen Roten Kreuz

Als ich gerade wieder bei Eiseskälte den Mist auf dem Feld verteilte, im Winter 1947, sah ich auf dem Weg jemanden, der ging wie mein Bruder Gotthard. Und er war es auch. Gotthard erzählte uns dann, wie es ihm ergangen war: Nachdem er aus dem Lazarett entlassen worden war, fand er Unterkunft im Böhmerwald bei zwei alten Damen, Mutter und Tochter. Trotz seiner Behinderung konnte er ihnen in Haus und Hof helfen.


Durch das Rote Kreuz (5) erfuhr er, wo meine Eltern waren. Im Sommer 1946 erreichte er dann meine Eltern in Sachsen, die mittlerweile auch durchs Rote Kreuz gehört hatten, wo wir, Thea und ich, lebten.



Im Spätsommer 1946 erhielten wir zum ersten Mal einen Brief von ihnen, dem ein Foto beigefügt war. Meine Eltern sahen darauf so alt und verhärmt aus, dass wir erschraken.


Von Sachsen nach Bayern – und wieder zurück nach Sachsen

Gotthard hatte in Sachsen keine Möglichkeit zu studieren oder einen Beruf zu erlernen, deshalb hatte er sich entschieden, nach Bayern zu kommen und zu sehen, ob es uns beiden Schwestern gut ging. Er blieb eine Woche beim einem Bauern und kehrte dann nach Sachsen zurück. Thea und ich wären am liebsten sofort zu den Eltern gefahren, aber das ging nicht, denn Sachsen war damals russische Zone und Bayern gehörte zur amerikanischen Zone.

Man konnte nicht so ohne weiteres von einer in die andere Zone ziehen, dazu brauchte man eine Zuzugsgenehmigung, die dann meine Eltern beantragten. Umgekehrt wäre es ganz unmöglich gewesen, denn Bayern nahm keine Flüchtlinge mehr auf. Es dauerte bestimmt ein halbes Jahr, bis Thea und ich nach Sachsen ziehen durften.


1947 bekamen wir die Genehmigung. Nach zweiwöchigem Aufenthalt in einem Quarantänelager konnten wir dann nach Schmölln (6). Doch meine drei kleinen Geschwister waren noch in Polen bei Verwandten.


Es waren ärmliche Verhältnisse

Meine Eltern hatten kein Einkommen, lebten auf sogenannten Lebensmittelmarken; Mutter bastelte in Heimarbeit Papierblumen. Gotthard und ich schliefen in einer Art Abstellkammer. Thea arbeitete und lebte auf einem Bauernhof, allerdings nur kurze Zeit. Gotthard und ich fanden keine Ausbildungsstelle.

Nach seiner Entnazifizierung (7) bekam mein Vater rasch eine Lehrerstelle in Herongen in der Nähe der holländischen Grenze, und meine Eltern fuhren dort hin, ohne Wohnung, sie hatten nur ein Zimmer. Weil wir ja nachziehen wollten, auch die Kleinen, die noch in Polen lebten, brauchten wir eine richtige Wohnung für die ganze Familie. Meine Mutter bemühte sich bei den zuständigen Stellen und hatte Erfolg.

Meinem Vater wurde die Lehrerstelle an der einklassigen Schule in Wallrath bei Grevenbroich am Niederrhein zugesprochen, nicht weit von Schloss Dyk.

Gotthard, Thea und ich erhielten jetzt die Zuzugsgenehmigung und konnten von Sachsen nach Nordrhein-Westfalen einreisen.

Von Nordrhein-Westfalen wieder nach Sachsen

Gotthard hatte im Westen kein Glück bei der Bewerbung um einen Studienplatz. Die Ablehnung wurde dadurch begründet, dass er keinen Kriegsdienst geleistet hatte. Die ehemaligen Soldaten wurden nun bevorzugt. Im Prinzip widerfuhr ihm hier das Gleiche wie in Breslau, wo man ihn aus denselben Gründen nicht zum Studium zugelassen hatte.


Er bewarb sich dann um einen Ausbildungsplatz und bekam eine Zusage von einem Elektromeister in Grevenbroich. Als er dies beim Arbeitsamt meldete, wurde ihm gesagt, der Meister habe bereits einen Lehrling und zwei dürfe er nicht haben.

Gotthard war sehr deprimiert, weil alle seine Bemühungen fruchtlos blieben. Er schrieb seiner Freundin Ruth von seinen Enttäuschungen. Daraufhin schrieb Ruths Vater ihm, er könne ihm in Sachsen eine Lehrstelle besorgen. Im Mai 1949 packte er seine Sachen und siedelte nach Sachsen um, wo er durch Vermittlung von Ruths Vater, einem Steinmetz, eine kaufmännische Lehre begann.

Gotthard heiratet Ruth

Schon im August 1949 heiratete Gotthard seine Ruth, und die beiden lebten im großen Haus der Schwiegereltern, das mitten im Grünen lag, eine eigene Quelle besaß und landwirtschaftlich genutzt wurde. Ruth war das jüngste Kind ihrer Eltern, ihre beiden älteren Brüder waren gestorben. Ruth und Gotthard bekamen sechs Kinder.

Zu Gotthards Hochzeit konnten wir nicht kommen, obwohl es damals politisch möglich gewesen wäre. Aber wir hatten dafür kein Geld. Gotthard arbeitete in einem Obst- und Gemüsehandelsunternehmen, war aber eigentlich nicht glücklich mit seinem Beruf. Er hätte gern Chemie oder Mathematik studiert.

Einmal bewarb er sich um eine andere Stelle in einer Behörde, aber dort verschwand sein Abiturzeugnis, das er im Original eingereicht hatte. Und es tauchte auch nie wieder auf. Er war deshalb sehr verbittert. Er hat noch versucht, von seinem Gymnasium in Oppeln eine Kopie seines Abiturzeugnisses zu bekommen, aber ohne Erfolg.


Seine sechs Kinder wurde alle nicht zur weiterführenden Schule zugelassen, weil er nicht in der SED und dazu noch katholisch war. Nur der mittlere Sohn Hubert hat nach einer Ausbildung zum Radio- und Fernsehtechniker durch die Förderung seines Meisters studieren können. Er ist heute Ingenieur. Die anderen Kinder haben Handwerksberufe erlernt.

Gotthard starb mit 68 Jahren.



(1) Ratibor ist eine Stadt in der polnischen Woiwodschaft Schlesien (heute Racibórz). Sie liegt in Oberschlesien an der oberen Oder, etwa 23 Kilometer westlich von Rybnik und rund 60 Kilometer südwestlich von Kattowitz. Im Süden verläuft die Grenze zu Tschechien.

(2) Breslau ist eine Großstadt in Polen sowie Hauptstadt der Woiwodschaft Niederschlesien – die drittgrößte Stadt in Polen. … 1945 wurde Breslau gemäß dem Potsdamer Abkommen unter polnische Verwaltung gestellt. Diese vertrieb bis 1948 die gesamte deutsche Bevölkerung Breslaus und besiedelte die Stadt mit Polen, die meist aus Zentralpolen oder aus den an die Sowjetunion gefallenen Landesteilen kamen. … Mit ihren zahlreichen historischen Bauten, Parkanlagen und Plätzen ist die Stadt Anziehungspunkt für Besucher aus alle Welt. Breslau war 2012 einer der Austragungsorte der Fußball- und Europameisterschaft und 2016 Kulturhauptstadt Europas ...

(3) Als Zweiter Weltkrieg (1.9.1939 – 2.9.1945) wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen. …. Im Kriegsverlauf bildeten sich militärische Allianzen, die als Achsenmächte und Alliierte (Anti-Hitler-Koalition) bezeichnet werden. Hauptgegner des nationalsozialistischen Deutschen Reiches waren in Europa das Vereinigte Königreich mit dem … Premierminister Winston Churchill an der Spitze sowie (ab Juni 1941) die unter der Diktatur Stalins stehende Sowjetunion. … Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945; die beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki führten zur Kapitulation Japans am 2. 9.1945. … Über 60 Staaten auf der Erde waren direkt oder indirekt am Weltkrieg beteiligt, mehr als 110 Millionen Menschen trugen Waffen.

(4) Die amerikanische Besatzungszone … war eine der vier Besatzungszonen, in die Deutschland westlich der Oder-Neiße-Linie von den alliierten Siegermächten im Juli 1945, rund zwei Monate nach der deutschen Kapitulation und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa aufgeteilt wurde. Sie unterstand der US-Militärregierung und endete nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Inkrafttreten des Besatzungsstatus am 21. September 1949.

(5) Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) rettet Menschen, hilft in Notlagen, bietet Menschen eine Gemeinschaft, steht den Armen und Bedürftigen bei und wacht über das humanitäre Völkerrecht - in Deutschland und in der ganzen Welt. Die Geschichte des DRK ist über 150 Jahre alt.

(6) Schmölln ist eine Stadt im thüringischen Landkreis Altenburger Land, dem Bundesland Thüringen.

(7) Als Entnazifizierung wird die ab Juli 1945 umgesetzte Politik der Vier Mächte bezeichnet, die darauf abzielte, die deutsche und österreichische Gesellschaft, Kultur, Presse, Ökonomie, Justiz und Politik von allen Einflüssen des Nationalsozialismus zu befreien. Deutschland und Österreich sollten umfassend demokratisiert und von Militarismus befreit werden. Vordringliche Ziele waren die Auflösung der NSDAP und der ihr angeschlossenen Organisationen sowie die Einziehung ihres Vermögens … außerdem die Verfolgung von Kriegsverbrechen. … Es ging vor allem darum, belastete Personen aus ihren Ämtern zu entfernen, zu bestrafen und zur Wiedergutmachung zu verpflichten. ...


alle Quellen: wikipedia

Auszug aus „Mittendrin – Das Leben der Barbara D.“, erzählt von Barbara D., aufgeschrieben von Rosi A. (2017), bearbeitet von Barbara H. (2023)

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