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Flucht aus der DDR: Richtiger Schritt, aber existenzielle Unsicherheit

Hans-Dietrich P. wurde 1925 geboren und wuchs in Güsen und Aken an der Elbe zwischen Magdeburg und Dessau auf. Die Niederschlagung des Volksaufstands am 17. Juni 1953 in der DDR führte zum Entschluss, die DDR zu verlassen. Die Flucht gelang reibungslos, doch der Neustart im Westen war nicht einfach und die Familientrennung problembehaftet.


Notaufnahmelager Marienfelde; Marienfelder Allee (Tempelhof), datiert 8. Oktober 1953

Bildnachweis: Landesarchiv Berlin (F Rep. 290 Nr. 0028281) / Fotograf: Horst Siegmann


Die Fluchtvorbereitungen

Die Niederschlagung des Volksaufstands am 17. Juni 1953 in der DDR öffneten mir die Augen. Hoffnung auf eine Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Situation schwanden. Also fragte ich meine Frau, ob wir nicht nach Westdeutschland gehen wollten.

„Ja, aber was willst Du denn dort machen?“, fragte sie zurück. „Vielleicht Lehrer, und du hast eine Ausbildung, kannst Stenographie und Schreibmaschine, damit bekommt man immer einen Job.“

Wir überlegten hin und her, ob wir die Flucht wagen könnten, auch wegen der Sicherheit unserer kleinen einjährigen Tochter. Wir besprachen uns mit meinen Schwiegereltern, die uns vorschlugen, die Kleine in ihrer Obhut zu lassen, bis wir uns im Westen zurechtgefunden hätten. So beschlossen wir es dann, obwohl es uns schwerfiel, uns von unserer Tochter Sabine zu trennen.

Eilig wurden Vorbereitungen getroffen, die Sorge, dass das russische Militär wiederkäme, war groß. Ich informierte Fritz, einen Schulfreund aus der Volksschule, der mittlerweile in der Nähe von Hannover, in Sarstedt lebte. Er kam vorbei und nahm einen Koffer von mir in den Westen mit, der meine Sachen enthielt. Es waren nur Männersachen im Koffer: Jacken, Wäsche, etc., damit er bei einer Kontrolle keinen Ärger bekam. Er sollte mir den Koffer später zuschicken. Damals konnte man noch mit der Straßenbahn von Ost- nach Westberlin fahren, es war also auch kein Problem, sich ein Bahnticket für Berlin zu kaufen.


Die Flucht

Im Oktober 1953 flohen Gisela und ich in den Westen. Um unauffälliger zu wirken, lösten wir Karten für den Zug nach Eberswalde und nicht nach Berlin. Im Zug von Dessau nach Berlin war es mucksmäuschenstill. Keiner in unserem Abteil sprach.


Kurz vor Berlin hielt der Zug plötzlich auf freier Strecke und eine Durchsage kündigte eine Kontrolle an. Wir wurden aufgefordert, unsere Plätze nicht zu verlassen. Mein Puls schlug höher und ich konnte meiner Frau ansehen, dass auch ihre Nervosität stieg. Keiner rührte sich. Da wurden die Türen aufgerissen. Russische Soldaten starrten uns an. Ohne ein Wort zu sagen, fixierten sie jedes einzelne unserer verängstigten Gesichter, fanden aber offenbar nicht, wen oder was sie suchten und schlugen die Türen wieder zu. Vermutlich hielten sie Ausschau nach russischen Deserteuren und nicht nach Ausreisewilligen, wie uns.


Wir warteten auf eine deutsche Kontrolle, die aber nicht kam. Nach einer Weile folgte eine weitere Durchsage: der Zug würde nunmehr ohne weiteren Halt bis nach Berlin fahren. Wir waren unendlich erleichtert! Am Bahnhof Schöneweide stiegen wir aus und fuhren mit der Straßenbahn bis zum Auffanglager. Der Schaffner nahm uns umsonst mit, nachdem wir ihm erzählt hatten, dass wir frisch geflüchtet waren. So konnten wir die beiden Zwei-Westmark Stücke sparen, die während unserer Flucht in den alten Offiziersstiefeln meines Vaters, unter meinen Fußsohlen versteckt gelegen hatten.


Im Aufnahmelager standen 500 bis 800 Menschen mit Koffern und allem vor uns in der Schlange, die alle darauf warteten, aufgenommen zu werden. Wir waren erschrocken. Aber es war ein warmer Oktobertag, es gab Bänke und die Aufnahme der Personalien erfolgte zügig. Nach Aufnahme der Papiere wurden wir zunächst einer als Übergangslager dienenden alten kaiserlichen Kaserne in der Nähe zugewiesen. Obwohl wir als Ehepaar kamen, wurden wir, wie alle anderen auch, auf Frauen- und Männerzimmern verteilt. Den Luxus von Einzelzimmern gab es nicht. Aber zumindest lagen die Zimmer im gleichen Haus.

Wir bekamen Sozialgeld, um uns das Notwendigste kaufen zu können. Das erste, was wir uns von dem Westgeld gönnten, waren Apfelsinen!


Meine Frau und ich wurden bald darauf zur amerikanischen Botschaft zitiert. Dort las mir ein Deutscher, der für die Amerikaner arbeitete, ein Blatt mit Namen vor: Ich sollte angeben, wer von meinen ehemaligen, noch im Osten verbliebenen Lehrerkollegen Kommunist sei.

„Mein Schulleiter ist ein 300-prozentiger“, konnte ich angeben, ansonsten gab es vielleicht noch einen anderen Kommunisten an der Schule, weitere nicht. In das Lager kamen Werber für die Auswanderung in Länder wie Australien, Kanada oder USA. Meine Frau drängte mich, nach den Bedingungen zu fragen. „Was sind Sie denn von Beruf?“, wollten die Werber wissen. „Ich war drüben Lehrer.“ Sie winkten ab, an Lehrern hatten sie kein Interesse. Arbeiter wurden gesucht, insbesondere Landarbeiter. Auch ein bekannter amerikanischer Prediger kam ins Lager, der die Flüchtlinge für seine Religion gewinnen wollte. Bei uns hatte er keinen Erfolg.


„Wo wollten Sie hin?“, fragte man uns, als wir zur weiteren Verteilung an die Reihe kamen. „Ins Rheinland. Am Niederrhein, in so eine Kleinstadt, da hat die Familie meiner Frau entfernte Bekannte“, erklärte ich. „Ach so, wir hatten Sie eigentlich für Baden-Württemberg vorgesehen. Aber wenn Sie lieber ins Rheinland wollen, dann können wir das machen.“ Meine Frau nahm Kontakt auf und die Bekannten stimmten zu, sie einzuladen.


Das Einleben im Westen

Vom Flughafen Tempelhof in Berlin wurden wir nach Hamburg ausgeflogen. Das kleine Propellerflugzeug geriet in einen Sturm. Es war beängstigend. Das Flugzeug wurde hoch und runter geworfen. Meine Frau war mit ihren Nerven völlig am Ende und wimmerte, sie wolle nie mehr in ihrem Leben in ein Flugzeug einsteigen. Aber das brauchte sie ja auch nicht. Man brachte uns in ein Lager nach Stade bei Hamburg.

Meine Frau nahm den Zug nach Rheinberg am Niederrhein. Ich fuhr etwas später mit einem Bus hinterher, der an verschiedenen Orten weitere Flüchtlinge absetzte. Nach einer endlosen Fahrt lud man mich in Wesel aus. Von dort aus sollte ich einen öffentlichen Bus nach Rheinberg nehmen.


Es war Dezember und es dämmerte bereits, bis ich von Wesel endlich in Rheinberg ankam, war es stockfinster: Da stand ich nun im Dunkeln und wusste überhaupt nicht, wo ich hinsollte. Zum Glück traf ich auf einen Passanten, der mir den Weg weisen konnte. Das war meine Ankunft in Rheinberg. Die Mühen der Reise waren beträchtlich gewesen, die Ankunft in Rheinberg ernüchternd.


Die entfernten Bekannten meiner Frau waren Holländer, die in ganz beengten Verhältnissen in Rheinberg lebten. Sie kümmerten sich nicht weiter um uns, aber wir erhielten bei ihnen immerhin eine kleine Abstellkammer, in der wir schlafen konnten. Ich machte mich auf den Weg zum Arbeitsamt. In der Schlange vor dem Rheinberger Arbeitsamt standen etwa 20 Mann vor mir und warteten auf irgendeine Jobzusage.


Arbeit auf der Baustelle und als Nachtwächter

Man erklärte mir, dass ich als Hilfsarbeiter beim Bau einer großen neuen Teppichweberfabrik im Ort beginnen könnte. Es stellte sich heraus, dass der Bauherr der Teppichfabrik ein Sachse war. Er bekam für den Bau Geld vom Staat und nahm als Arbeiter alle auf, die von „Drüben“ aus dem Osten kamen. So bekam ich 1954 als Hilfsarbeiter auf der Baustelle im Westen meinen ersten Lohn. Zwei Monate lang arbeitete ich im Bau.


Der Bauführer war ein paar Jahre älter als ich und sprach mich eines Tages an, denn er hatte es wohl erkannt: „Sie kommen aber nicht vom Bau, oder?“ - „Nee“, meinte ich. „Aus welchem Beruf kommen Sie denn?“ - „Lehrer!“ - „Ach so, na, da kann ich mir vorstellen, dass das hier nichts für Sie ist. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir bauen hier nebenbei noch eine Siedlung mit kleinen Familienhäusern. Sie könnten dort eine Arbeit bekommen - als Nachtwächter.“ - „Als Nachtwächter? Was soll ich denn da machen?“ - „Wir stellen Ihnen ein Holzbett und eine Matratze in einen der Keller, dort können Sie übernachten. Und sie bekommen einen Hund.“ Ich hatte noch nie etwas mit einem Hund zu tun. Er beruhigte mich, „das ist ein ganz Zahmer.“ Und so wurde ich Nachtwächter.


Meine Frau hatte eine Anstellung als Schreibkraft beim Amtsgericht gefunden und ich machte nachts meine stündlichen Kontrollgänge mit dem Hund um die Häuser. Bald darauf konnten wir aus den beengten Verhältnissen in zwei Zimmer im Obergeschoss umziehen, die uns der Eigentümer eines der Einfamilienhäuser vermietete, die ich bewachte. Wir besaßen zunächst nicht einmal einen Stuhl, auf den wir uns hätten setzen können. Durch einen Bekannten konnten wir die notwendigsten Möbel günstig auf Ratenzahlung erwerben. Peu à peu kam alles zusammen und unser Leben beruhigte sich langsam. So lebten wir uns im Westen ein.


Die vierjährigen Tochter kommt nach in den Westen

Bei der Flucht hatten wir unsere einjährige Tochter Sabine in Obhut der Schwiegereltern im Osten gelassen. Man konnte Mitte der 50er Jahre noch unbehelligt zwischen Ost- und Westdeutschland hin- und herfahren. So kam im Herbst 1954 mein Schwiegervater mit Sabine zu uns zu Besuch in Rheinberg. Sabine erkannte uns nicht mehr als ihre Eltern wieder.


1955 kündigte sich weiterer Nachwuchs an, Christina kam am 29. Dezember 1955 zur Welt. 1956 reiste meine Frau mit Christina in den Osten, um ihre Eltern und Sabine zu besuchen. Es gab immer noch keine Grenzkontrollen oder, wie später, die Verpflichtung, Geld in Ostmark zu tauschen. Nach acht Tagen Aufenthalt bei ihren Eltern beschloss meine Frau bei ihrer Abreise, die inzwischen vierjährige Sabine mit in den Westen zu nehmen. Mein Schwiegervater bot sich an, sie zu begleiten, denn mit Kinderwagen, Baby, Kleinkind und Gepäck wäre die Reise für sie allein schwierig geworden. Unbehelligt reisten sie in den Westen. Mein Schwiegervater blieb eine Woche bei uns.


In Rheinberg lebten wir uns als wieder zusammengeführte Familie langsam ein. Es war nicht leicht. Für Sabine waren wir Onkel und Tante gewesen, ohne Vorbereitung war sie aus ihrem gewohnten Umfeld bei meinen Schwiegereltern herausgerissen worden. Die Großeltern, die sie bis dahin für ihre Eltern gehalten hatte, waren weit weg. Das Gefühl, wir hätten sie damals sitzen gelassen, nagte lange in ihr. Für uns hingegen war ihr Bleiben bei den Schwiegereltern von Anfang an eine Übergangslösung für zwei bis drei Jahre gewesen. Es ist für ein Kind dennoch kaum nachvollziehbar, warum Eltern sich für einen solchen Schritt entscheiden. Wir hatten später viele unschöne Auseinandersetzungen deswegen und es tut mir heute noch sehr leid.


Damals schien uns das der einzig richtige Schritt zu sein, wir sahen keine Alternative. Viele Kinder starben auf der Flucht, davor hatten wir große Angst. Die existentielle Unsicherheit, die mit der Flucht auf uns zukam, war für meine Frau und für mich eine große Belastung. Wir besaßen kein Geld, wussten nicht, ob die Flucht gelingen würde, wohin sie uns führen würde, wo und wie wir leben würden. Um im Westen Fuß zu fassen und eine Familie aufzubauen, brauchten wir zunächst eine gewisse Sicherheit. Glücklicherweise haben wir wieder zusammengefunden.


20 Jahre später berichtete mein Schwiegervater, dass das Jugendamt eines Tages vor seiner Tür in Aken an der Elbe gestanden hatte. „Bei Ihnen wohnt doch eine Sabine P.“, wurde er gefragt. „Ja, die hat bei mir gelebt, aber die ist schon lange in Westdeutschland.“

Ich fragte mich, woher die wussten, dass wir ein Kind zurückgelassen hatten. Später sah ich im Fernsehen einen Bericht, wie man solch zurückgelassene Kinder eingesammelt und in Erziehungsheime, z.B. nach Bautzen gebracht hat, um sie „sozialistisch zu erziehen“. Sie bekamen einen anderen Namen und wurden von den Familien vollständig getrennt. Zum Glück blieb uns ein solches Schicksal erspart.


Beruflicher Neuanfang

In der DDR war ich sieben Jahre Lehrer gewesen, hatte die erste und zweite Lehrerprüfung absolviert. Doch es kamen nur Absagen. Es war frustrierend. Dann erhielt ich eine Einladung zu einem Gespräch bei einer pädagogischen Prüfstelle in Wuppertal. Meine Angaben zu meiner bisherigen Ausbildung und Erfahrung als Lehrer wurden notiert.

Über Literatur und Pädagogik hatte ich keine Ahnung, von den westdeutschen Standards wusste ich nichts. Wir kannten nur die ostdeutschen pädagogischen Methoden und die Literatur, die dort gelehrt worden war. Ich sollte, um als Lehrer weiterarbeiten zu können, drei bis vier weitere Semester studieren. Das hätte bedeutet, zwei Jahre lang keinen Pfennig zu verdienen. Ich war enttäuscht, wie hätte ich meine junge Familie finanzieren sollen? Ich hatte eine Frau und zwei Kinder, das dritte war unterwegs, ich musste Geld verdienen und hatte keine Zeit für eine unbezahlte Ausbildung. Ich versuchte es bei der Bundesbahn und an anderen Stellen. Alles erfolglos.


Von meiner Frau kam eines Tages der Vorschlag, ich könne doch Rechtspflegeanwärter werden, „da kannste‘ Justizbeamter werden“. Skeptisch stimmte ich zu. In der Ausbildung erhielt ich 150 DM im Monat. Wir verdienten nun beide, das Geld reichte uns. Beim ersten Klassentreffen nach der Wende im Osten wurde ich gefragt, ob ich Pfleger im Krankenhaus war?“ -„Pfleger? Nein, Rechtspfleger war ich. Das ist eine Ausbildung als Justizbeamter!“, klärte ich lachend auf.


Von 1958 bis 1964 arbeitete ich beim Amtsgericht in Rheinberg. Ab 1964 war ich Justizbeamter bei der Wehrbereichsverwaltung und sechs Jahre später wechselte ich in die Verwaltung für den Bereich Soziales der Kreispolizei in Mettmann. Mit 62 Jahren ließ ich mich dort pensionieren.

Lass ich mein Leben Revue passieren und werfe alles auf die Waagschale, dann wiegt schon schwer, dass ich meinen Lehrerberuf aufgeben musste und der Neustart im Westen nicht einfach war. Aber ich bereue nichts, hatte nie Zweifel und fühlte mich willkommen. Denn ich war mit der politischen Situation in der DDR nicht einverstanden, der entscheidende Grund, in den Westen zu flüchten.


Auszug aus „Mein Leben im 20. Jahrhundert“, erzählt von Hans-Dietrich P., aufgeschrieben von Anne P. (2021), bearbeitet von Reinhard R. (2023).


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