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Nach Volksaufstand in der DDR: Ich musste eine Entscheidung treffen

Hans-Dietrich P. wurde 1925 geboren und wuchs in Güsen und Aken an der Elbe zwischen Magdeburg und Dessau auf. Sein Vater war Dorfschullehrer, seine Großeltern hatten einen großen Bauernhof. Mit der Rückkehr aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft beginnt er die Erzählung. Die Gründe, die zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 geführt haben und die eigenen Erfahrungen hierzu lassen in ihm den Entschluss reifen, die DDR zu verlassen.



Die Russen

Verlaust und dreckig kam ich aus der Kriegsgefangenschaft zurück nach Aken. Wir konnten uns während der Gefangenschaft bei den Amerikanern auf dem freien Feld nicht einmal waschen.

Wie habe ich das ertragen? Ich war jung, mit 18, 19 Jahren kann man das noch gut ertragen. Zu Hause erzählte ich meiner Mutter, was ich über die Russen von den Amerikanern erfahren hatte. Sie war entsetzt: „Was haben die gesagt, die Russen kommen? Das ist furchtbar.“ - „Wieso“, entgegnete ich störrisch, „der Krieg ist doch zu Ende.“ Aber ich war sehr verunsichert und besorgt, was nun passieren würde.


Wir gehörten zu diesem Zeitpunkt noch zur amerikanischen Besatzungszone (1), da durch den ungleichen Frontverlauf der alliierten Armeen in den letzten Kriegsmonaten 1945 die Amerikaner vom Westen her auch Teile von Mitteldeutschland eingenommen hatten. Wir wussten damals aber nicht, dass nach der deutschen Kapitulation die Gebiete östlich der Elbe und Saale zur von der Sowjetunion verwalteten Besatzungszone in Deutschland gehören sollte. Umso überraschender kam für uns im Juli 1945 der Besatzungswechsel und der Rückzug der Amerikaner.


An einem Schaufenster in der Stadt entdeckte ich bald einen Aushang, auf dem genau stand, dass und wann die Russen einen Teil des Gebietes übernehmen würden. Es war also wahr, sie kamen angerückt. Ich besprach mit meiner Mutter und einem Bekannten, ob ich hier bleiben oder besser verschwinden sollte. Ich besaß einen Entlassungsschein der Amerikaner, aber es war ungewiss, ob ich damit sicher war.


Verstanden die Russen überhaupt Englisch? Würden sie meinen Entlassungsschein verstehen, würden sie ihn anerkennen? Für meine Mutter war die Lage klar. Sie wollte Aken wegen der Wohnung, der Einrichtung, den Freunden, der Familie und meinen kleinen Brüdern nicht verlassen. Also beschloss auch ich, zu bleiben. Und ich hatte Glück. Meine Entlassungspapiere wurden bei verschiedenen russischen Kontrollen anerkannt. Und dies, obwohl ich meine alte Wehrmachtsuniform trug , viel mehr besaß ich nicht. Allerdings hatte ich die Rangabzeichen entfernt. Alle jungen Leute, die keinen Entlassungsschein vorweisen konnten, wurden nach Ankunft der Russen „einkassiert“. Polizeiliche Hilfe, die das hätte verhindern können, existierte damals praktisch nicht.


Schuften im Streckenbau

1945, als mein Vater nicht aus dem Krieg wiederkehrte, war ich mit nicht einmal 20 Jahren der Älteste im Haus und trug plötzlich eine große Verantwortung. So blieb mir keine Wahl. Um die Familie zu unterstützen, musste ich im Sommer und Herbst 1945 zum Bauern aufs Dorf gehen, um übriggebliebene Kartoffeln aufzulesen.


Als Dringendstes stellte sich mir die Frage, was ich denn arbeiten wollte. Ich war mir schnell recht sicher: Ich wollte Angestellter bei der Deutschen Reichsbahn werden und nicht weiter Kartoffeln vom Acker holen. Einer meiner Onkel war Reichsbahnbeamter in Halle an der Saale gewesen. Nach dem Krieg wurde er von der Reichsbahn entlassen, da er Anfang 1945 noch in die NSDAP eingetreten war.

Auf Rat meines Onkels fuhr ich nach Magdeburg, um mich persönlich bei der Reichsbahn vorzustellen. Dort erteilte man mir eine Absage, denn es kehrten damals noch viele ehemalige Reichsbahnmitarbeiter aus der Kriegsgefangenschaft zurück, und diese mussten vorher eingestellt werden.

Auf meine Frage, wann ich denn damit rechnen könne, an die Reihe zu kommen, antwortete man mir: „Wissen mer net. Wenn Se‘ bleiben wolle bei uns, dann müssen Se‘ hier zum Streckendienst gehen, als Gleisbauarbeiter.“

Ich entschied, nicht aufzugeben. Ein halbes Jahr schuftete ich im Streckenbau. Wir waren sechs bis acht Mann und mussten täglich schwere Schwellen schleppen und auswechseln. Der Gruppenführer merkte allerdings gleich, dass ich wenig handwerkliches Geschick besaß. Jedes Vierteljahr sprach ich persönlich in Magdeburg vor – ein Telefon stand mir ohnehin nicht zur Verfügung: „Ist die Laufbahn jetzt wieder geöffnet?“ „Nein“, kam die ernüchternde, konstant gleiche Antwort. Als Streckenarbeiter wollte ich nicht weitermachen, das war nichts für mich. Meine Mutter schlug mir vor: „werd‘ doch Lehrer, wie Dein Vater.“ Ich überlegte: „Lehrer, hm, naja.“ Und dann bin ich Lehrer geworden.

Lehrer: Lieber Russisch als kommunistische Geschichte unterrichten

Das Unterrichten entsprach zwar nicht dem, was ich mir für die Zukunft ausgemalt hatte, aber ich zog dennoch Erkundigungen ein. In Köthen wurde eine Neulehrerausbildung angeboten. An dieser konnte ich teilnehmen. Sie dauerte von Januar bis Herbst 1947.

So fing ich am 1. September 1947 in Aken an der Elbe mit einem Gehalt von 250 Ostmark in der Schule als Lehrer an. Die Kinder meiner Klasse waren nur zehn Jahre jünger als ich. Einer erkannte mich direkt wieder.

„Waren Sie nicht mal Jungvolkführer?“ -„Ja“, antwortete ich, „das ist jetzt vorüber. Jetzt bin ich bei Euch Lehrer.“ Nach einem Jahr wurde ich an eine andere Schule versetzt, dort unterrichtete ich eine Klasse von 12- bis 13-jährigen Mädchen. Wieder zurück in Aken bekam ich eine Klasse mit 10-jährigen Schülern. Ich sollte als Junglehrer Geschichte unterrichten, kommunistische Geschichte. Mir gefiel dieser Gedanke ganz und gar nicht und erteilte dem Schulleiter eine Absage.


An der Schule gab es keinen Russischlehrer, daher wurde mir angeboten, einen sechsmonatigen Lehrgang in Magdeburg zu absolvieren, um Russisch zu lernen und im Anschluss zu unterrichten. Für Russisch hatte ich bislang kein sonderliches Interesse entwickelt, zog es jedoch vor, lieber nach Magdeburg zu gehen und Russisch zu lernen, als kommunistische Geschichte zu unterrichten. Außer mir gab es 1947 keinen einzigen Lehrer an der Schule, der Russisch konnte.

Aber woher hätten wir das auch können sollen? Die Zeit von Oktober 1948 bis März 1949 lernte ich fleißig Russisch. Es gab vier Klassen, alles junge Leute, die ebenfalls Lehrer waren und demnächst Russisch unterrichten sollten. Unsere Lehrerin stammte aus dem Baltikum und sprach perfekt Deutsch, Russisch, Französisch und Englisch. Heute kann ich kaum noch Russisch. Von einer Moskaureise abgesehen hat es mich später im Westen nicht so sehr interessiert, die Sprachkenntnisse zu erhalten. Zurück an der alten Schule unterrichtete ich zunächst Deutsch, Naturkunde und Russisch, später nur noch Russisch.


Das Unterrichten bereitete mir Freude. Eines Tages besuchte ein russischer Kulturoffizier unsere Schule. Er inspizierte, inwieweit Russisch unterrichtet wurde. Er sprach perfekt Deutsch und ich entschuldigte mich gleich, dass ich zwar unterrichtete, aber die Sprache selbst noch lernte. Er verzog keine Miene, als er mir nach etwa zehn Minuten, die er dem Unterricht beiwohnte, dankte und meinte: „Ist gut. Sie müssen noch viel lernen.“ „Das weiß ich!“, lachte ich. „Na ja, ich wünsche Ihnen alles Gute, lernen sie tüchtig“, schloss er und verließ das Klassenzimmer.


Einige meiner Schüler meinten damals natürlich, sie bräuchten kein Russisch im Leben, sie würden ohnehin Bauer. Schlechte Noten nahmen sie in Kauf, das war ihnen egal. Da konnte man als Lehrer nicht viel machen. Ansonsten scheine ich meinen Job damals ganz gut gemacht zu haben. Die Schüler konnten meinen Erklärungen folgen und ich war nicht so streng hörte ich von einigen Ehemaligen, als nach der Wende das erste Klassentreffen stattfand. Gegen Ende meiner Lehrerzeit im Osten habe ich in sechs Klassen ausschließlich Russisch unterrichtet. Nur den Zehnjährigen, meiner eigenen Klasse, gab ich noch weitere Fächer.


Der 17. Juni 1953

An der Schule ging es mit der Zeit immer strenger zu. Es gab viele politisch motivierte Reibereien mit dem Schulleiter. Er wollte, dass ich in die SED (2) eintrete, was ich ablehnte. Die Auseinandersetzungen hörten nicht auf. Dann kam der Volksaufstand in der DDR (3).


Am 17. Juni 1953 stand der Marktplatz von Aken voller russischer Fahrzeuge, Panzer und Lastwagen. Dazwischen bewegten sich schwer bewaffnete russische Infanteristen. Ich kam in meine Klasse und wunderte mich: alle Bilder waren von den Wänden verschwunden, von Stalin (4), Ulbricht (5), Piek (6).

Ein Schüler rief mir zu: „Die haben wir alle aus dem Fenster geworfen. Wie im Betrieb meines Vaters!“ Ich dachte nur: „Na gut, jetzt sind die eben weg.“

Dann kam der Schulleiter, ein 300-prozentiger Kommunist. „Wo sind die Bilder?“, herrschte er mich an. „Die haben wir aus dem Fenster geschmissen.“ - „Und wo soll ich jetzt andere Bilder herholen?“ Damit war das Thema erst einmal erledigt. Nach dem Aufstand wurde es auf einmal ruhiger. Die Anordnungen der Schulleitung blieben aus. Wahrscheinlich mussten sich die Kommunisten erst einmal erholen.

Ich ahnte, dass sich die ruhigen Zeiten bald wieder ändern würden, nämlich sobald sich die Bonzen „da oben“ beruhigt hätten, Die politische Lage wird sich nicht entscheidend verbessern, davon war ich überzeugt.

Ich musste eine Entscheidung treffen und mit der Familie, insbesondere mit Gisela, mit der ich seit 1950 verheiratet war, ob es nicht besser sei, der DDR den Rücken zu kehren...


(1) Besatzungszonen: Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa beendet war, übernahmen die vier Hauptsiegermächte Sowjetunion, USA und Großbritannien sowie Frankreich die Hoheitsgewalt über das Deutsche Reich und teilten sein Gebiet untereinander in Besatzungszonen auf. In Deutschland bezeichnet der Begriff meist nur die Zeit von 1945 bis 1949, also bis zur Gründung der Bundesrepublik und der DDR, obwohl die Besatzung auch in Westdeutschland erst 1955 mit dem Deutschlandvertrag beendet wurde.

Quelle: Wikipedia


(2) Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) war eine marxistisch-leninistische Partei, die 1946 in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der Viersektorenstadt Berlin aus der Zwangsvereinigung von SPD und KPD hervorging und sich anschließend unter sowjetischem Einfluss zur Kader- und Staatspartei der 1949 gegründeten DDR entwickelte und ihn zum Arbeiter-und-Bauern-Staat umgestaltete.

Quelle: Wikipedia


(3) 17. Juni 1953: Welle von Demonstrationen, Protesten und Streiks in der DDR aufgrund des schnell und rücksichtslos fortschreitenden Ausbaus des Sozialismus, ignorant gegenüber den Bedürfnissen der Arbeiterklasse. Die Proteste waren verbunden mit politischen und wirtschaftlichen Forderungen und wurden durch die Sowjetarmee rücksichtslos niedergeschlagen. Der 17. Juni war bis 1990 „Tag der deutschen Einheit“ in der Bundesrepublik Deutschland und ist nunmehr Gedenktag.

Quelle: Wikipedia


(4) Stalin (*1878, † 1953) war ein sowjetischer kommunistischer Politiker und Diktator der Sowjetunion von 1927 bis 1953.

Quelle: Wikipedia

(5) Walter Ulbricht (*1893,† 1973) war ein deutscher Kommunist. Von 1950 bis zu seiner Entmachtung 1971 war er der maßgebliche Politiker der Deutschen Demokratischen Republik. Aus dem sowjetischen Exil 1945 als Leiter der Gruppe Ulbricht nach Berlin zurückgekehrt, wirkte er in der sowjetischen Besatzungszone in enger Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht als führender Funktionär der KPD und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) prägend am Aufbau des Staatsapparates der späteren DDR mit.

Wikipedia

(6) Friedrich Wilhelm Reinhold Pieck (* 1876; † 1960), 1919 Mitbegründer und führender Funktionär der KPD (Kommunistische Partei Deutschland). Maßgeblicher Betreiber der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zu SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschland. Nach Gründung der DDR 1949 bis zu seinem Tod einziger jemals amtierende Präsident der DDR (Deutsche Demokratische Republik).

Quelle: Wikipedia


Auszug aus „ Mein Leben im 20. Jahrhundert“, erzählt von Hans-Dietrich P., aufgeschrieben von Anne P. (2021), bearbeitet von Reinhard R. (2023).

Symbolfoto (russ. Panzer T-34): Vladvictoria/Pixabay


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