Nach der Flucht vor der Roten Armee: Neubeginn in Krefeld
Erich S., 1929 in Ostpreußen geboren, hat schon als ganz junger Mensch sehr wohl den Wahnsinn begriffen, der sich um ihn herum abspielte, und unter dessen Folgen er unsagbar gelitten hatte. Er ist in einer guten Gemeinschaft mit den Eltern, der Großmutter, den Geschwistern, fünf Jungen und einem Mädchen, aufgewachsen. Schon die Schule und dann die Lehre erlebte er mit schlimmen Erfahrungen. Doch dann erfuhr er, was Krieg bedeutete und war immer wieder auf der Flucht vor den Russen.
Das Leben in der DDR
Der Zweite Weltkrieg war 1945 für Deutschland verloren. Ich lebte mit meiner Familie in der Nähe von Schwerin in der damaligen DDR. Es war Januar 1949, ich war 20 Jahre alt, und da wurde mir klar, dass ich weiter musste, wenn ich nicht wie viele andere junge Männer rekrutiert werden wollte, um in den Bergwerken für die Russen Uran (1) abzubauen.
Das war ein Job, den keiner machen wollte. Ich hatte gesehen, dass diejenigen, die am Wochenende aus den Bergwerken nach Hause kamen, zum Gotterbarmen aussahen. Ich wusste sofort, dass ich das nicht mitmachen wollte. Da ich einer der Nächsten gewesen wäre, die in diese unsäglichen Bergwerke einfahren sollten, habe ich mich aus der Not heraus entschlossen, überstürzt wegzugehen – wieder zu flüchten.
Ich habe mich noch von meinen Eltern verabschiedet und bin in den Westen abgehauen, und hatte ein Ziel: Krefeld in Nordrhein-Westfalen. Es war in dieser Zeit noch relativ einfach, in die Bundesrepublik zu kommen – die Mauer gab es noch nicht. Kurt, ein Bekannter, hatte erzählt, dass es dort Möglichkeiten gab zu arbeiten. Das wusste er, weil er schon mal dort war.
Eine weitere Odyssee über die Grüne Grenze
Nur mit einem Rucksack, wenigen Habseligkeiten und mittellos sind Kurt und ich losgezogen. Dabei hatten wir noch unwahrscheinliches Glück. Denn nach kurzer Zeit trafen wir eher zufällig auf einen Mann mit seiner Frau und einem Kind, die sich ebenfalls von dem System der DDR verabschiedeten. So bildeten wir eine Interessengemeinschaft. Dieser Mann verfügte über beachtlich viel Geld und hatte sehr viel Gepäck bei sich. Dafür, dass er uns mitnahm, sollten wir ihm mit dem Gepäck behilflich sein. Irgendwie hatte der Mann wohl zeitig ein Taxi organisiert und so fuhren wir zu einem Rastplatz – ich weiß nicht mehr, wo der war. Hier haben wir die Nacht verbracht, um am anderen Morgen weiter zu kommen. Das war alles schon durchorganisiert und wir waren froh, dass alles so reibungslos klappte.
Am nächsten Morgen hatte der Mann wieder ein Taxi organisiert und so fuhren wir bis nach Wittenberg, nahe der Grenze, um hier die Elbe zu passieren. Unweit der Elbe hat er uns dann raus gelassen, damit wir in der Nacht die Grenze überschreiten konnten. Unsere Flucht war schon von einer großen Unsicherheit begleitet, denn wir wussten ja überhaupt nicht, worauf wir uns eingelassen hatten. Wir wussten nur eins, wir wollten weg.
Zu Fuß schlugen Kurt und ich uns durch Nacht und Wald. Nach endloser Zeit – ich weiß nicht mehr, wie lange wir mit der Angst im Nacken durch den Wald liefen – kamen wir zu einem einsam gelegenen Haus. Vorsichtig haben wir uns angeschlichen, beobachteten das Haus und das Umland. Nach einiger Zeit kamen wir zu dem Schluss, dass wir uns bemerkbar machen konnten, ohne in Gefahr zu geraten, einem Grenzer in die Arme zu laufen.
Kurt wartete draußen und ich bin dann ins Haus rein und habe gefragt: „Wo sind wir hier eigentlich?“ Ein freundlicher Herr, der auch noch Polizist war, gab mir dann Auskunft, dass wir in Westdeutschland sind und ich wurde ausgesprochen freundlich behandelt. Dabei war mir doch ein wenig mulmig, denn ich war ja ein sogenannter Republikflüchtling (2).
Kurt und ich hatten es geschafft
Wir schlugen uns noch bis nach Hamburg durch und von dort aus sind wir mit dem Zug weiter bis nach Krefeld gefahren.
Am Bahnhof in Krefeld gab es einen alten Bunker. Diese Kriegseinrichtung war für Heimatlose und Kriegsheimkehrer als Schlafmöglichkeit umgebaut worden. Hier konnten wir für 1 Mark – die ich nicht hatte – übernachten. Kurt hat mir das Geld für den Schlafplatz gespendet.
Da ich über keinerlei Geldmittel verfügte und mir folglich auch keine eigene Wohnung leisten konnte, bin ich zunächst zum Arbeitsamt gegangen, um mich nach einem Job in der Landwirtschaft umzusehen, denn damit kannte ich mich ja von zu Hause in Ostpreußen gut aus. So fand ich bei einem Bauern in Forstwald Arbeit und Unterkunft. Ein Jahr lang habe ich bei ihm für einen Monatslohn von 50 Deutsche Mark gearbeitet. Von dem ersten Ersparten kaufte ich mir ein Fahrrad und war mächtig stolz auf mich. So war ich recht beweglich und konnte günstig überall hin fahren, was ich auch ausgiebig nutzte. So lernte ich denn auch meine neue Umgebung bzw. das weitere Umland besser kennen. Es folgte eine weitere Stelle bei einem Bauern.
Da ich aber das Reisen von der Flucht her gewohnt war, hielt es mich auch dort nicht wirklich und nach einem halben Jahr zog ich wieder weiter, denn ich verdiente einfach zu wenig.
Was wollte ich werden?
Irgendwann fand ich bei einer Familie mehrere Jahre Unterschlupf und Arbeit. Diese Familie hatte auch Kinder und so teilte ich mir mit zwei weiteren Jungen ein Zimmer im Haus. Der Mann hatte einen Stuckateurbetrieb, in dem ich erste Erfahrungen in dem Bereich machte. Doch auch das war nicht wirklich meine Berufung und als Bäcker waren die Möglichkeiten in Krefeld zur damaligen Zeit eher nicht so günstig und ich wollte das eigentlich auch nicht mehr. Und eine dritte Lehre zu beginnen, nee, das war es auf keinen Fall. Nach den schlechten Erfahrungen hatte ich jedes Interesse an dem Beruf des Bäckers verloren. So schaute ich mich bald nach etwas anderem um und kam schließlich zur Bayer AG in Uerdingen, nicht weit von Krefeld.
Und hier wurde ich nach Jahren des Einarbeitens und des umfassenden internen Lernens Werksmeister und bekam eine spezielle Ausbildung. Aufgaben und Verantwortung wuchsen. Ich stieg in den Angestelltenbereich auf und mein Gehalt wurde immer wieder angepasst. Die Arbeit war im Ganzen umfassender, aber ich habe mich in diesem Betrieb schon zu Hause gefühlt.
Langanhaltende Folgen des Krieges
Das Leben ist aber nicht nur auf beruflicher Ebene weiter gegangen. Zwischenzeitlich war ich auch Vater einer unehelichen Tochter geworden. Die Beziehung zu der Mutter dieser Tochter hatte nach meiner Flucht aus der DDR begonnen. Ich war zu unerfahren, um die Situation richtig einzuschätzen. Aber der beste Lehrer ist ja bekanntlich das Leben selbst. Ich hatte damals 60 Deutsche Mark im Monat zur Verfügung. Alimente zu zahlen war für mich eine Herausforderung. Kurt, mein Fluchtbegleiter, war zu der Zeit der einzige Mensch, der mir geholfen hat, mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden. Ich meine, dass der Grund dafür in diesem verdammten Krieg und den Folgeerscheinungen lag. Wie das alles auf mich gewirkt hatte, ist vielfach gar nicht richtig erkannt und eingeschätzt worden. Denn ein Krieg ist mit der Beendigung von Kampfhandlungen noch viele Jahre später nicht vorbei. Ich habe meinen Kindern oft erklärt, dass ein Krieg niemals Sieger haben wird, deshalb darf es keinen Krieg mehr geben.
Meine uneheliche Tochter stand meinen anderen Kindern in nichts nach. Die Frau, mit der ich das Kind habe, ist schon länger verstorben und die Tochter ist verheiratet und inzwischen auch schon 67 Jahre alt. Meine spätere Ehefrau und ich hatten diesen Teil der Familie immer gern zu Besuch.
Familie war für mich immer irgendwie am Wichtigsten, was auch mit der ungewollten Trennung von meinen Eltern und den Geschwistern zu tun hatte. Als ich meine Frau kennen lernte und wir dann geheiratet hatten, wurden die Familienverhältnisse wieder stabil. Das war gut und wichtig für uns beide und für mich ganz besonders, denn ich hatte meinen Platz im Leben endgültig gefunden, hatte begonnen Wurzeln zu schlagen, wie man so sagt. Ansonsten wäre mein Leben mit Sicherheit anders verlaufen. Aber gemeinsam haben wir die anstehenden Probleme immer irgendwie in den Griff bekommen. Unsere Kinder (zwei Söhne, eine Tochter) sind auch ein schönes und unerschöpfliches Thema und wir hatten viel Freude und auch Sorgen mit dem Nachwuchs, wie das wohl in jeder Familie so ist.
(1) Das auf dem Territorium der Sowjetischen Besatzungszone und DDR an Standorten in Sachsen und Thüringen geförderte und aufbereitete Uran war die Rohstoffbasis der sowjetischen Atomindustrie. ...
… Mit Ende des Zweiten Weltkriegs kamen unverzüglich sowjetische Experten ins Land. Diese sollten zuerst den Stand der deutschen Atomforschung untersuchen.
Quelle: wikipedia
(2) Republikflucht war die umgangssprachliche Bezeichnung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) für illegale Auswanderung nach Westdeutschland, West-Berlin und Nicht-Warschauer-Pakt-Staaten; die offizielle Bezeichnung lautete „ungesetzlicher Grenzübertritt“. Die Republikflucht galt sowohl für die 3,5 Millionen Deutschen, die vor dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 legal aus der sowjetischen Besatzungszone und Ostdeutschland emigrierten, als auch für die Tausenden, die bis zum 23. Dezember 1989 illegal über den „Eisernen Vorhang“ wanderten. Schätzungen zufolge verließen zwischen 1984 und 1988 jährlich 30.000 Menschen die DDR, vor dem Bau der Berliner Mauer 1961 bis zu 300.000 pro Jahr.
Quelle: wikipedia
Auszug aus „Jung, wir sind am Arsch der Welt gelandet – oder wie das Leben so spielt“, erzählt von Erich S., aufgeschrieben von Andreas L. (2017), bearbeitet von Barbara H. (2022)
Foto: Pixabay
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