"Wir Bengels glaubten kein Wort von der Propaganda"
Erich, 1929 in Ostpreußen geboren, hat schon als ganz junger Mensch sehr wohl den Wahnsinn begriffen, der sich um ihn herum abspielte, und unter dessen Folgen er unsagbar gelitten hatte. Er ist in einer guten Gemeinschaft mit den Eltern, der Großmutter, den Geschwistern, fünf Jungen und einem Mädchen aufgewachsen. Doch mit der Schulzeit begann das Leiden.
Männer mussten an die Front, also fehlten Lehrer
Erst als die Schulzeit in Ostpreußen für mich begann, das muss 1935 gewesen sein, bemerkte ich als Kind am Verhalten der Lehrer, dass sich etwas änderte, ohne dass ich es ganz verstand.
Klar, wir mussten ja "für das Leben lernen", und mir fiel das Lernen auch nicht wirklich schwer, vielleicht weil ich über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte. Aber dass die Lehrer ständig wechselten, war für alle Beteiligten ein großes Problem, wir Schüler litten jedoch am meisten darunter.
Unser bisheriger Schullehrer wurde nach Russland eingezogen, so wurde es uns Kindern jedenfalls erzählt. Folglich hat die Frau des Lehrers zeitweise die Schüler unterrichtet, was jedoch auch keine Lösung auf Dauer wurde. Etwas später wurde ein Lehrer aus dem Nachbarort geholt, der uns weiter unterrichten sollte. Aber auch das war keine wirkliche Verbesserung, denn der Mann war nur an drei Tagen für unsere Schule anwesend. Er musste aus Mangel an Männern alle möglichen Zusatzverpflichtungen erfüllen, so dass wir oft auf uns allein gestellt waren.
Hausaufgaben hat es häufiger nicht gegeben, aber am folgenden Tag mussten wir dann welche vorlegen können. Das förderte natürlich den Erfindungsgeist von uns Bengels und wir machten in Eigenregie irgendwelche Aufgaben in der Schule, die wir uns selber aufgaben, um diese tags darauf abgeben zu können. Mein Vorteil war natürlich, dass ich bei meinen älteren Brüdern eine Menge gelernt und mitbekommen hatte, was uns in der Schule nicht ausreichend vermittelt wurde, und auch sonst war ich ja nicht auf den Kopf gefallen.
Stockschläge
Mit den Ersatzlehrern gab es immerzu Probleme. Einmal bekamen wir einen jungen Lehrer als Aushilfe, von dem wir sofort den Eindruck hatten, dass er uns zum Narren halten wollte, und der Unterricht bei ihm war eine Katastrophe. Als er in unsere Klasse kam, suchte er sofort nach einem Stock, wobei uns Schülern erst nicht klar war, was er damit wollte. Wir sollten aber recht schnell dahinter kommen, wozu er den Stock brauchte.
Unser vorheriger Lehrer hatte eine Zeigehilfe, mit der er an der Tafel den Lehrstoff aufzeigte, ansonsten brauchte unser Lehrer keinen Stock und schon gar nicht, um seine Schüler zu vertrimmen.
Es war früher durchaus üblich, dass in einem Klassenraum mehrere Schuljahrgänge untergebracht waren, und das war auch bei uns so. Das stellte den Lehrer vor völlig neue Herausforderungen, die wir natürlich auszunutzen wussten.
An einem Tag mussten die Größeren aus der Klasse vor der Schule, auf einem so genannten Sportplatz, antreten. Meine beiden älteren Brüder waren mit von der Partie. Der Sportplatz war durch einen Weg von der Schule begrenzt und hatte eine kleine Hanglage mit angrenzenden Wiesen und Weiden bis hin zum Horizont.
Das war kein Sportplatz nach heutigen Maßstäben. Der wurde von den Schafen gemäht und diente den Schülern zur körperlichen Ertüchtigung. Auf diesem Platz mussten die Schüler Stellung beziehen, und zwar mit der Anweisung, so lange zu laufen, bis der Lehrer sie zurück rufen würde, damit sie dann in die Klasse zurückkehren durften.
Die Bengels waren aber auch nicht blöde und haben den Lehrer dran gekriegt – oder es wenigstens versucht. Sie liefen also wie angewiesen immer geradeaus darauf los, überquerten den Sportplatz, bis über die Weiden und warteten darauf, dass der Lehrer sie zurück rief. Die Jungens waren aber inzwischen lange außer Hörweite des Lehrers, der tobte, weil er die Bengels nicht zurückholen konnte.
Nach über einer halben Stunde kamen die Schüler dann von allein wieder zurück in die Klasse, und der Lehrer, inzwischen glücklicher Besitzer eines Stocks, zitierte jeden Einzelnen nach vorne und alle bekamen der Reihe nach Schläge mit dem Stock auf den Hosenboden. Einige Jungen waren so schlau und haben sich Hefte in die Hose gesteckt, aber die Prügel gab es trotzdem.
Doch einer der Bengels, Eduard, ging nach vorne, um sich seinen Anteil an Schläge zu holen, so dachten wir jedenfalls. Als der Lehrer den Stock hob um zuzuschlagen, sauste der Bengel an ihm vorbei und ist aus der Schule abgehauen. Doch der Junge war sofort nach Hause gelaufen und hatte seinem Vater von dem Vorfall erzählt. Eduard kam dann auch wieder, jedoch mit dem Vater im Schlepptau. Der hatte den Lehrer dann mal freundlichst vor die Türe bestellt, um ein klärendes Gespräch zu führen. Wir Schüler hingen alle an der Tür um zu lauschen, aber die beiden sind vor das Gebäude getreten, so dass wir nicht mitbekamen, was passierte. Als der Lehrer in die Klasse zurück kam, war das Thema Stock und Schlagen Geschichte und zwei Tage später dann auch der Lehrer. Ich glaube, der Vater von Eduard hat jemanden angerufen und sich so des Problems entledigt.
Was hatte man uns alles so erzählt
Als junger Mensch nimmt man in der Regel ja noch an, was einem Lehrer und Erwachsene vermitteln. Das galt besonders bei Themen, die den Krieg betrafen. Es erschreckt mich noch heute, wenn ich bedenke, was wir als Schüler erzählt bekommen haben, und wie schnell ich als Schüler von ca. zehn oder elf Jahren dahinter kommen musste, dass die Realität eine völlig andere war. Das war die Zeit des Nationalsozialismus (1).
Neben den ständigen Siegesbekundungen veränderte sich die Umgehensweise von Lehrern und Schülern. So durften wir nicht mehr „guten Morgen“ sagen, wenn wir in die Klasse kamen, was mich als junger Mensch doch sehr verunsichert hatte. Im Gegenzug sind wir alle wie Raketen von den Stühlen hoch geschossen, wenn der Lehrer in die Klasse kam, und das ohne Kommando, eher aus Unsicherheit und einer nicht definierbaren Angst heraus.
Einer unser Lehrer ließ uns Schüler schon mal sonntags auf dem Sportplatz antreten, um das Exerzieren zu üben. Alle Schüler waren da, nicht einer hat sich getraut, fern zu bleiben aus Angst vor Repressalien. Man hatte es verstanden, uns Schüler ständig unter einem gewissen, unbestimmten Druck zu halten, damit keiner aufmuckte oder aus der Reihe tanzte. Es war eine sehr schlimme Zeit für uns Kinder, die uns einschüchterte.
Bürgermeister: Linientreuer Nazi, aber Ehefrau hatte "die Hosen an"
Ich musste eine weitere bittere Erfahrung machen: Der Lehrer, der angeblich nach Russland eingezogen worden war, hatte die Seiten gewechselt, war nämlich zu den Russen übergelaufen. Nach dem Krieg hat er dann einen Posten als Gymnasiallehrer in Berlin bekommen. Aber nicht nur die Lehrer hatten bisweilen eine fragwürdige Persönlichkeit. Auch der Bürgermeister von Brauersdorf war ein eigenartiger Kauz.
Mit dem immer weiter voranschreitenden Nationalsozialismus wurde unser Bürgermeister als SA-Mann (2) zum Ortsgruppenleiter benannt. Der marschierte dann – in voller Montur – auch immer „brav“ fünf Kilometer ins nächste Dorf, um sich mit seinen Nazi-Freunden zu treffen.
In dieser Zeit durfte man beispielsweise eigenständig kein Schwein schlachten, ohne das beim Bürgermeister anzuzeigen. Auch Hühner und Eier durften nicht nach Belieben verbraucht werden. Die Hühner mussten zahlenmäßig angegeben werden. Dieser linientreue Nazi war als Bürgermeister so dreist, dass er bei den Frauen in den Hühnerställen nach Eiern gesucht hatte. Dass sich hieraus die absurdesten Kontrollen ergaben, ist auch ohne Fantasie zu verstehen.
Aber bei seiner eigenen Frau hatte der Mann nichts zu melden, denn Frau Bürgermeister hatte zu Hause die Hosen an. Die Aussage: „Steck einen kleinen Mann in eine Uniform und es lebe der Größenwahn“, traf auch bei unserem Dorfobersten voll und ganz zu.
Verlogener Sieges- und Größenwahn
Durch die steten Truppenbewegungen ist es bei uns im Ort früh zu Einquartierungen gekommen. Viele Soldaten wurden vorübergehend bei den Bauern in Scheunen und auf Weiden untergebracht. Sie waren auf dem Weg nach Polen. Ich habe als Junge oft mit den Menschen gesprochen, weil ich großes Interesse an den Aktivitäten der Soldaten hatte. Sie erzählten mir dann, dass sie überhaupt nicht begeistert darüber waren, nach Polen zu reisen, um dort kämpfen zu müssen.
Der Siegestaumel und die künstliche Euphorie waren bei den Soldaten in keiner Weise vorhanden, denn sie ahnten wohl schon, dass sie ins Chaos mussten, begleitet von einer unbestimmten, aber mehr als berechtigten Angst. So war ich in der Lage, mir schon recht früh ein eigenes Bild über den verlogenen Sieges- und Größenwahn der Nationalsozialisten zu machen.
Kein Wort war von der Propaganda zu glauben. Und ganz viele Menschen sahen das genauso wie ich als junger Bengel.
Nach der Schule, die ich mit vierzehn Jahren beendete, musste ich, wie auch meine Brüder, in die Lehre gehen. Sie hatten alle etwas anderes gelernt. Ich fuhr mit der Mutter nach Gumbinnen zum Arbeitsamt, denn wir brauchten für mich eine Lehrstelle mit Unterbringung, denn zu meinem neun Kilometer entfernten Heimatdorf gab es keine Verkehrsanbindung. So fanden wir schließlich eine Lehrstelle in einer Bäckerei in Gumbinnen.
(1) Der Nationalsozialismus ist eine radikal antisemitische, rassistische, nationalistische, völkische, sozialdarwinistische, antikommunistische, antiliberale und antidemokratische Ideologie. Seine Wurzeln hat er in der völkischen Bewegung, die sich etwa zu Beginn der 1880 Jahre im deutschen Kaiserreich und in Österreich-Ungarn entwickelte. Ab 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde er zu einer eigenständigen politischen Bewegung im deutschsprachigen Raum. Die 1920 gegründete Nationalistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) gelangte unter Adolf Hitler am 30. Januar 1933 in Deutschland zur Macht, wandelte die Weimarer Republik durch Terror, Rechtsbrüche und die sogenannte Gleichschaltung in die Diktatur des NS-Staats um. Dieser löste 1939 mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg aus, in dessen Verlauf die Nationalsozialisten und ihre Kollaborateure zahlreiche Kriegsverbrechen und Massenmorde verübten, darunter den Holocaust an etwa sechs Millionen europäischen Juden und den Porajmos an den europäischen Roma. Die Zeit des Nationalsozialismus endete mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945.
Quelle: wikipedia
(2) Die Sturmabteilung (SA) war die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP während der Weimarer Republik und spielte als Ordnertruppe eine entscheidende Rolle beim Aufstieg der Nationalsozialisten, indem sie deren Versammlungen vor Gruppen politischer Gegner mit Gewalt abschirmte oder gegnerische Veranstaltungen behinderte. Aufgrund ihrer Uniformierung mit braunen Hemden ab 1924 wurde die Truppe auch „Braunhemden“ genannt. Im Vorfeld der Machtergreifung 1933 widmete sich die Organisation, neben der Propaganda, intensiv dem Straßenkampf und Überfällen auf Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden. Dabei wurden Konflikte mit der Staatsmacht sorgfältig vermieden. Nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 wurde die SA, wie auch die NSDAP und SS, mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 2 verboten und aufgelöst.
Quelle: wikipedia
Auszug aus „Jung, wir sind am Arsch der Welt gelandet – oder wie das Leben so spielt“, erzählt von Erich S., aufgeschrieben von Andreas L. (2017), bearbeitet von Barbara H. (2022)
Symbolfoto: Kerstin Riemer/Pixabay
Comments