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Das Dorfleben im ostpreußischen Karkleenen: Für Jungens ein Paradies.

Erich S., 1929 in Ostpreußen geboren, sagt von sich, dass er schon als ganz junger Mensch sehr wohl den Wahnsinn, der sich um ihn herum abspielte, begriffen, und unter dessen Folgen er unsagbar gelitten hatte. Darüber will er aus seiner Sicht berichten. Er ist in einer guten Gemeinschaft mit den Eltern, der Großmutter, den Geschwistern, fünf Jungen und einem Mädchen aufgewachsen.


So war die Kindheit: eine gute Basis

Ostpreußen ist ein sehr schönes Stück Erde mit seinen Seen, Wäldern und weiten Landschaften, die durch Bauern und Viehwirtschaft geprägt waren. Natürlich gab es viele Dinge nicht, die uns das Leben heute erleichtern, aber die Zufriedenheit war da und es fehlte uns an nichts. Es gab zwar keine Busverbindungen in nahe Ortschaften, dafür gab es Pferdewagen und Fahrräder. Alles brauchte mehr Zeit als heute und war nicht von der jetzt so üblichen Hektik geprägt.

Geboren wurde ich am 29. März 1929 in einem winzigen Ort namens Karkleenen im Kreis- und Regierungsbezirk Gumbinnen. Dieses Dorf wurde, wie viele andere Dörfer auch, von den Nazis umbenannt und hieß anschließend Brauersdorf. Unser Dorf hatte die Größe von etwa einhundert Einwohnern, und jeder kannte folglich jeden. Geheimnisse waren nicht so ohne weiteres möglich. Aber gerade dieser dörfliche Charakter war für uns Jungens das Paradies.

Abenteuer in der Natur

Wir waren immer draußen, und die Natur diente uns als Spielzeug. Wir kannten jeden Strauch und Hund mit Namen. Die Wälder und die Sumpflandschaften zu erkunden, war für mich immer auch Abenteuer. Da gab es Wasser in Hülle und Fülle, Seen und weitläufige Sumpfgebiete, die völlig unberührt waren, da man nicht bis an das Wasser heran kam, ohne sich in ernsthafte Gefahr zu bringen. Im Sommer konnten wir die Störche in der Nachbarschaft auf ihren Nestern beobachten, und im Winter war gut Rodeln und Ski laufen.

Der Wald hatte uns Kindern unendlich viel Abwechslung geboten. Wir sind auf Bäume heraufgeklettert und haben uns mit Vorliebe nicht allzu dicke Stämme ausgesucht. Wenn wir diese hoch genug hinauf geklettert waren, konnten wir immer schön hin und her wippen, was uns einen Heidenspaß gemacht hatte. Da ging auch schon mal eine Hose kaputt und es gab sehr deutliche Worte von der Mutter, die die Hose wieder nähen musste. Aber das war spätestens beim nächsten Waldbesuch wieder vergessen.

Geradezu magische Anziehungskraft hatte das Moor auf uns Jungens, obwohl wir über die Gefahren sehr wohl Bescheid wussten. Aber wie das mit den verbotenen Früchten so ist, weiß sicher noch jeder aus eigener Erfahrung.

Besonders im Winter waren wir ganz aus dem Häuschen, dann waren die Wasserflächen zugefroren und die Landschaft lag unter einer dicken Eis- und Schneedecke. Wir konnten es gar nicht abwarten, dass die Eisschicht fest genug wurde und wir auf einer riesigen Eisfläche Schlittschuh laufen konnten.

Mit großer Begeisterung sind wir stundenlang auf dem Eis herum gesaust. Im Frühjahr war es bei uns immer noch sehr kalt, aber das Eis auf dem Moor fing langsam an zu tauen und die Stabilität des Wintereises verlor sich zusehends. Über die Gefahr in den Sumpfgebieten sind wird von den Eltern frühzeitig aufgeklärt worden, denn wenn man einbrach, kam man ohne fremde Hilfe nicht mehr heraus.

Rodeln, Schlitten- und Ski fahren

Aber der Winter hatte neben den extrem kalten Temperaturen auch viel Schönes zu bieten. So gab es etwa anderthalb Kilometer vom Dorf einen Höhenzug, der Bismarckhöhe genannt wurde, weil dort ein etwa zehn Meter hoher Aussichtsturm mit gleichem Namen stand, der uns Kinder magisch anzog. Hier gab es ideale Rodelflächen, die von der Dorfjugend begeistert genutzt wurden. Neben dem Schlittenfahren gab es gute Möglichkeiten zum Ski laufen.

Der Höhenzug hatte leicht abfallende Flächen, die zum Rodeln geradezu einluden, und es gab steil abfallende Hänge, die im Sommer zum Segelfliegen genutzt wurden. Aber das ging nicht mit einer Winde oder gar einem Schleppflugzeug wie heute, nein, das Flugzeug wurde von Hand in den Himmel gezogen.

Der Segelflieger wurde auf den höchsten Berg gebracht und bis an den Abhang gestellt. Von hier wurde ein Seil den Hang runter gelassen und unten stand eine Gruppe kräftiger Burschen, die das Flugzeug quasi über den Abhang in den Wind zogen.

Not machte erfinderisch, und es hat funktioniert. Es zeigt einmal mehr den Einfallsreichtum der Menschen, wenn die vorhandenen Mittel sehr begrenzt sind.

Das ging alles auch ohne Strom

Im Dorf lebte ein Schreiner, der nebenberuflich auch als Glaser tätig war. Dieser Mann war für mich einfach ein Künstler, denn er musste alle Arbeiten von Hand verrichten, und ich habe ihn wegen seiner Fähigkeiten bewundert.

Das größte Problem in Brauersdorf war, dass alle in Brauersdorf keinen Stromanschluss hatten und somit auch keine Maschinen betreiben konnten. Abends hatte man Petroleumlampen und Kerzen. Mit Kriegsbeginn wurde das Petroleum dann anderweitig gebraucht und wir mussten mit Karbid die Lampen betreiben, was immer eine große Sauerei bedeutete, weil das Zeug bestialisch stank und rußte.

Dann gab es noch Onkel Heinrich, der als Schuster gearbeitet hat und ständig eine Pfeife mit Tabak aus eigenem Anbau geraucht hat. Bei ihm war ich ausgesprochen gern.

Wenn wir Schuhe zum Besohlen hatten, mussten wir uns erstmal hinsetzen, ihm die Pfeife stopfen und diese auch an rauchen, was wir unter starkem Husten dann auch gerne machten. Onkel Heinrich hatte einen ausgeprägten Humor und es gab bei ihm immer was zu lachen. Ab und zu durften wir in seiner Werkstatt kleinere Arbeiten erledigen, was ich immer sehr aufregend fand.

Einer der Nachbarn von uns, auch ein Bauer, musste zum Beispiel sein Wasser für die Tränkung der Kühe mittels eines Pferdewagens und einer riesigen Tonne vom Ortsteich zum Hof schaffen. Das war natürlich ein großer Aufwand zur Versorgung der Tiere.

Aber auch die Bauern mussten eben alle ohne Strom zurecht kommen. Das wurde auch bei der Kornernte sichtbar, wenn anschließend das Korn gedroschen werden musste. Zu diesem Zweck hatten die Bauern bei ihrer Tenne ein großes hölzernes Drehkreuz auf einem Lager stehen, an dem im Bedarfsfall ein Esel oder auch eine Kuh angebunden wurde, um mit dessen Zugkraft das Drehkreuz anzutreiben. Über Riemen wurde eine Mechanik oben auf der Tenne in Bewegung gesetzt, die dann das Dreschen des Korns übernahm. Da die Tiere nicht immer bereitwillig das Drehkreuz in Gang halten wollten, musste jemand die Tiere im Auge behalten, da sie sonst stehen blieben. Um das zu verhindern, gab es in der Mitte des Drehkreuzes eine Holzplatte, auf der jemand saß, der die Tiere – wenn nötig – für das Weiterlaufen begeisterte. Das machten dann ganz oft wir Kinder, wobei mir die Tiere irgendwie schon leid taten, weil sie immer im Kreis laufen mussten. Aber Not machte eben erfinderisch.

Überhaupt war Dummheiten zu machen der schönste Zeitvertreib

Die Bauernhöfe im Dorf übten auf mich immer eine starke Anziehungskraft aus. Die Bauern hatten zumeist eigene Kinder, mit denen wir die Schule besuchten, und mit den meisten waren wir befreundet. Folglich fand sich immer irgendwo eine Gelegenheit, auf den Höfen der Bauern herum zu lungern, was wir natürlich mit Begeisterung machten.

So auch in einem Sommer als ich ungefähr acht Jahre alt war. Ich kam mit meinen Brüdern Ernst und Wille auf den Hof der Eltern von Heinz. Hier haben wir des öfteren auch schon mal kleinere Arbeiten ausgeführt. So war es auch dieses Mal, als dann nach einiger Zeit ein Gewitter aufzog. Nachdem wir in der Küche eine kleine Stärkung bekommen hatten, schlug Heinz vor, in die Scheune zu gehen, um zu sehen, was es da so gibt. Die Scheune war ein altes Gebäude mit oberer Tenne, die durch Querbalken getragen wurde, das waren die so genannten „Hahnenbalken“, weil hier auch die Hühner eine gute Sitzposition hatten.

Unter der Tenne hatte der Bauer eine offene Pferdekutsche stehen, die zu beiden Seite schöne Lampen mit Pickelhauben hatte, die auch noch mit Kerzen oder Karbid betrieben wurden. Wir Bengels sind also über eine alte Holzleiter rauf auf die Tenne, deren Bretter zur Abdeckung in loser Form als Boden dienten. Ich war von uns Vieren der Jüngste und auch der Kleinste und hatte das Pech, auf eines der Bretter zu treten, die nicht befestigt oder beladen waren und so plumpste ich von da oben herunter und schlug unglücklich auf diese offene Pferdekutsche auf.

Leicht benommen spürte ich sofort einen höllischen Schmerz im linken Bein und als ich mir die Bescherung anschaute, war alles voller Blut. Ich schrie aus Leibeskräften nach meinen Brüdern, die auch sofort mit Heinz zur Stelle waren.

Heinz holte seine Mutter. Die Männer des Hofes waren alle auswärts beschäftigt. Als die Mutter das Bein sah, bekam sie einen riesigen Schreck, versuchte die Blutung zu stillen, um mich anschließend notdürftig mit Lappen zu verbinden. Doch sofort ergab sich ein neues, viel größeres Problem: Wie sollte ich nun nach Hause zu meiner Mutter kommen?

Also holte die Mutter von Heinz in ihrer Not einen alten Kinderwagen hervor, ein uraltes Modell mit sehr großen Rädern. Ich wurde in den Kinderwagen geladen, hing überall darüber. Mit vereinten Kräften haben mich die Jungens gut einen Kilometer über unbefestigte Wege geschoben, um mich – unter unsagbaren Schmerzen – bei meiner Mutter abzuliefern. Das war für die Bengels schiere Schwerstarbeit. Als meine Mama uns sah, fiel sie aus allen Wolken, war geschockt, als sie das Malheur erkannte und mich da so mit dem schwer verletzten Bein in dem Kinderwagen hocken sah.

Linker Wadenmuskel bis zur Ferse aufgerissen

Die Mutter ist dann in Windeseile zum Nachbarhof gelaufen, um von dort einen Arzt anzurufen, denn wir hatten selbst kein Telefon und im Dorf auch keinen eigenen Doktor. Nach einiger Zeit kam ein Arzt aus Nemmersdorf, und er hat sich rührend um mich gekümmert. Es stelle sich heraus, dass ich mir den linken Wadenmuskel bis hinunter zur Ferse aufgerissen hatte.

Der Arzt ist noch einige Male zu uns gekommen, denn ich konnte und durfte ja nicht laufen. Besonders schmerzhaft war, die Rückentwicklung des Muskels wieder herzustellen, um nicht eine Schiefstellung des Beines zu riskieren. Hierzu musste das Bein gestreckt und gedehnt werden, und auf diese Prozedur hätte ich liebend gern verzichtet, denn ich empfand sie als genauso schmerzhaft wie die eigentliche Verletzung. Aber ich hatte noch unverschämtes Glück, denn ich hätte mir auch das Genick brechen können. Der einzige Vorteil war, dass ich nicht in die Schule brauchte. Aber meine Brüder waren so lieb, und haben mir immer die Hausaufgaben mitgebracht. Im Gegenzug habe ich die Aufgaben für die beiden direkt mitgemacht. Nach über vier Wochen musste ich aber wieder in die Schule.

Schafbock ärgern – der fackelte nicht lange

Ernst, ein etwas jüngerer Mitschüler, gehörte zu einer Familie, die eine Kleintierwirtschaft hatte. Hierzu gehörte eine Schafherde, in der ein Bock das Sagen hatte. Der kleine Ernst hatte also gerade nichts Besseres zu tun, als den Schafbock zu ärgern.So stelle er sich in einiger Entfernung zu dem Bock breitbeinig, in gebückter Haltung, auf die Wiese. Mit imitierendem Geblöke wollte Ernst den Bock auf sich aufmerksam machen, was auch hervorragend gelang.

Der Bock fackelte nicht lange, nahm Anlauf und rammte seinen Kopf schnell gegen Erichs Brustkorb, dass dieser abhob und nach zwei Metern unglücklich auf dem Rücken landete. Als er wieder aufstehen wollte, hatte der Bock ihn erneut attackiert, aber inzwischen war ich dicht genug heran gekommen, so dass der Bock von Erich abließ und sich wieder trollte. Aber dass ich mich zuerst kaputt gelacht hatte, will ich dann doch nicht verschweigen.

Es war auch immer sehr schön, wenn die Pferde auf die Wiesen und Weiden gebracht werden mussten. Dabei durften wir Jungens mithelfen und es ergab sich für uns immer wieder die Gelegenheit, die Pferde zu reiten, allerdings ohne Sattel. Aber das machte uns Bengels überhaupt nichts aus, wir hatten sehr schnell heraus, die Pferde ohne Sattel zu reiten. Dass auch schon mal jemand vom Pferd gefallen ist, gehörte dazu, aber davon ließen wir uns natürlich nicht abhalten.

Vaters Arbeit: Reichsbahn im Sommer, Holzfäller im Winter

Mein Vater war einer der Arbeiter im Dorf, der im Sommer bei der Reichsbahn arbeitete, im Winter aber als Holzfäller im nahen Buylener Forst Bäume fällte, um in den Wintermonaten Holz für die Stubenöfen zu haben. Der Weg zur Arbeit war durch den vielen Schnee mit dem Fahrrad nicht zu bewältigen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Andere Verkehrsanbindung gab es nicht. Damit hatte der Wald auch im Winter für mich und meine Familie eine gewichtige Bedeutung. Das Holzfällen war nicht so einfach, in Wirklichkeit war es harte Knochenarbeit, und besonders unangenehm bei den sehr kalten Temperaturen.

Als elfjähriger Bengel bin ich dann oft nach der Schule mit in den Wald gegangen, um bei kleineren Arbeiten mit helfen zu können. Mich begeisterte der Umgang mit Axt und den großen Handsägen schon sehr früh, denn da wurden die Bäume noch von Hand gefällt. So musste ich Äste und Holz zusammensuchen, und wenn der Vater die großen Schrotsägen geschärft hatte, durfte ich den Schleifstein, der über eine Handkurbel angetrieben wurde, drehen.

Die Schrotsägen waren so groß, dass sie von zwei Arbeitern abwechselnd gezogen werden mussten. Und das war eine harte Arbeit in gebückter Körperhaltung, selbst wenn die Sägen noch so scharf waren.

Im einkalten Winterwald verlauf – Bart zugefroren

Einmal hatte sich mein Vater, der sich in der Gegend gut auskannte, im Winter verlaufen. Alles war schneebedeckt und er war auf dem Weg aus dem Wald nach Hause. Durch die beginnende Dunkelheit und den Schnee waren Wege und Landschaft nicht mehr zu erkennen und so irrte er stundenlang durch die Gegend, da es für ihn unmöglich war, sich zurecht zu finden. Meine Familie wartete schon und war in großer Sorge.

Wir hätten den Vater auch nicht suchen können, denn wir wussten ja nicht, wo er sich gerade befand und die Gefahr des eigenen Verlaufens war ja auch für uns Kinder gegeben. Als der Vater dann viele Stunden später endlich nach Hause kam, war der Bart zugefroren und er war einem Eiszapfen näher als einem Menschen.

Wenn man bei diesen Temperaturen einen Fehler machte, konnte das sehr schnell der Letzte gewesen sein. Aber zum Glück fand der Vater noch rechtzeitig nach Hause zurück.

Tante-Emma-Laden

In unserem Dorf gab es fast alles, was man so zum Leben brauchte. Was es nicht gab, war eine Möglichkeit zum Einkaufen. Die Menschen waren in der Hauptsache Selbstversorger und jeder hatte seinen Garten, seine Äcker, Hühner, Gänse, Enten, Schweine und so weiter. Auch meine Mutter hat die Familie mit Kleinwirtschaft über Wasser gehalten.

So wurden wir Kinder dann auch früh in die Garten- und Feldarbeiten mit eingebunden und ich lernte somit frühzeitig, wie Kartoffeln und Gemüse gepflanzt wurden, was mir später noch sehr zugute kam. Brauchte man aber doch mal Zucker, Salz oder ähnliches, fuhr man mit dem Fahrrad ins fünf Kilometer entfernte Nachbardorf, nach Schulzenwalde.

Dort gab es einen Tante-Emma-Laden, wo man alles, was so benötigt wurde, bekommen konnte. Die Kunden kamen von überall aus den umliegenden Dörfern, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen und um den neuesten Klatsch auszutauschen. Da der Laden auch über einen Ausschank verfügte, wurden warme Getränke wie Tee und Grog zum Aufwärmen verabreicht, was die Besucher besonders in der kalten Jahreszeit sehr zu schätzen wussten.

Mutters liebevolle Erziehung – aber auch strenges Regiment

Als meine Mutter einmal etwas aus diesem Laden brauchte, bat sie mich, mit dem Fahrrad mal eben nach Schulzehnwalde zu fahren. Da ich als Bengel aber gerade anderweitig beschäftigt war, habe ich zu meiner Mutter gesagt: „Zähl doch zweimal bis sechzig, dann fahre ich los.“ Eine schallende Ohrfeige hat mich dann von der Dringlichkeit ihres Anliegens überzeugt und so bin ich direkt mit dem Fahrrad nach Schulzenwalde gefahren um das Gewünschte schnellstmöglich zu holen.

So war die Mutter. Sie hat uns alle liebevoll umsorgt, musste aber ein strenges Regiment führen, sonst hätte sie sich bei uns Bengels nicht durchsetzen können. Sie blieb aber immer der Familienmittelpunkt.

Aber auch meine Großmutter war für mich als Knirps von großer Wichtigkeit, denn ich war immer ihr Liebling. Wenn ich bei meiner Oma war, wurde ich von ihr verwöhnt. Es gab dann schon mal ein Stück Kuchen oder eine andere Leckerei. Hin und wieder fuhr die Oma nach Gumbinnen und wenn ich mit durfte, gab es immer ein kleines Extra. Bei einer dieser Reisen nach Gumbinnen musste ich zum ersten mal in der Stadt auf ein Klo. Als ich das Klo sah, habe ich die Oma gefragt: „Oma, darf man denn auch in die Schüssel machen?“ Oma hat gelächelt aber meine Frage verstanden, denn auf dem Lande gab es ausschließlich Plumpsklos und ich kannte diese Form einer Toilette überhaupt nicht.

Allwissende Oma

Oma schien mir allwissend, kannte sich in vielen Dingen gut aus, aber ganz besonders im Wald und in der Natur. Sie hatte lange bei einem Förster als Magd gearbeitet und in der Zeit gelernt, was so ein Wald zu bieten hatte. Oft bin ich mit ihr losgezogen, um Himbeeren, Blaubeeren oder Pilze zu suchen. Sie wusste immer, wo man suchen musste und kannte die unterschiedlichsten Sorten genau. So konnte ich lernen, von welchen Pilzen man besser die Finger lässt und welche genießbar waren. Champignons lernte ich als erste kennen, denn die wuchsen sogar bei unserem Nachbarn auf dessen Wiese, wo wir uns bei Bedarf bedienten. Oma blieb für mich zeitlebens unvergesslich.

Zur Schule über Feldwege

Zur Schule mussten wir immer zu Fuß ins Nachbardorf nach Wusterwitz laufen, das gut zweieinhalb Kilometer von Brauersdorf entfernt war. Da wir über Feldwege mussten, war es nötig, dass wir uns hinreichend auskannten, denn der Schnee machte es schwer bis unmöglich, den richtigen Weg zu finden, da alles gleich aussah unter der weißen Pracht. Oftmals sind wir auch gar nicht zur Schule gekommen, weil Wind und Schnee ein Vorwärtskommen, bei Temperaturen bis 30 Grad minus, unmöglich machte.

Manchmal musste uns auch ein Bauer mit einem Pferdeschlitten in die Schule fahren, was wir Kinder natürlich prima fanden. In der Schule war es in den Räumen durch Kachelöfen recht angenehm warm. Wie bei uns zu Hause verbreiteten die Öfen eine wohlige Wärme. Sie wurden mit Holz betrieben. Ab und an kauften wir mal einen Zentner Briketts, die aus Kostengründen nur zum Anheizen genommen wurden, ansonsten gab es im nahen Wald ja mehr Holz als genug.

Es war eine gute Gemeinschaft, in der ich gelebt hatte. Da ich der Jüngste meiner Geschwister war, ist mir eine Einberufung zur Wehrmacht zum Glück erspart geblieben, was aber die Entbehrungen und das Leid für mich und die Menschen um mich herum nicht wirklich verringerte. Der Besuch der Schule hinterließ keinen guten Eindruck. Ich erlebte dort den Wandel der Zeit am Verhalten der Lehrer. Doch davon mehr an anderer Stelle ...

Auszug aus „Jung, wir sind am Arsch der Welt gelandet – oder wie das Leben so spielt“, erzählt von Erich S., aufgeschrieben von Andreas L. (2017), bearbeitet von Barbara H., 2022

Symbolfoto: ivabalk/Pixabay

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