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Heimat ist dort, wo der blaue Himmel für Madeleine lacht

Zufall und Unternehmungsgeist haben Madeleine, geb. 1942, an viele Orte der Welt geführt, auf Kontinente wie Afrika, Amerika, Asien und Europa, die durch Veränderungen der politischen Umstände, der Umwelt, der Familie und der Liebe inzwischen einen großen Wandel erfahren haben. Aufgewachsen ist sie in Belgien, daher hat sie auch heute noch ihren leicht französischen Akzent.



Die Großfamilie in Belgien – mit den belgischen Urgroßeltern

Foto: Madeleine B.


Behütete Kindheit in der Großfamilie

Geboren bin ich im Zweiten Weltkrieg (1), anno 1942, da war es noch sehr kalt in Belgien, erzählte mir später meine Mutter. Sie, Gisèle Moll, geboren 1920, eine Französin aus der Touraine, verliebte sich in Henri Lacasse (meinen Vater) aus dem französischen Teil Belgiens. Sie heirateten im Februar 1940 und blieben in Belgien. Mein Bruder wurde im Dezember 1940 geboren, ich, Marie-Madeleine, im April 1942. Wir wohnten zunächst alle gemeinsam im Haus meiner Großeltern in Belgien an der Grenze zu Frankreich: vier Generationen.


Ich entwickelte eine enge Beziehung zu meinen Großeltern, die ich sehr liebte. Nachts durfte ich mich jederzeit gemütlich zwischen sie kuscheln und fühlte mich in ihrer Mitte behaglich und beschützt – im Gegensatz dazu war das Zimmer meiner Eltern stets abgeschlossen; ich wollte gerne auch zu meiner Mutter, aber ich konnte nicht, der Papa ließ das nicht zu. Meine Großeltern haben einige emotionale Defizite der Eltern kompensiert. Großeltern zu haben ist etwas Wunderbares! Sie nahmen sich, wann immer es möglich war, Zeit für ihre Enkelkinder, trotz oder vielleicht gerade wegen des Krieges...


Folgen des Krieges

Über den Krieg wurde nicht gesprochen in unserer Familie – jedenfalls nicht mit uns Kindern. Er war einfach da. Und so wurden die Fenster verdunkelt, was mir große Angst machte. Ich stellte mir vor, es gäbe Monster im Dunkeln, „Bamboula“ nannte ich sie – meine Mutter versuchte natürlich, mich zu überzeugen, dass es solche Kreaturen nicht gab. Aber noch heute kann ich nicht im Dunkeln schlafen.

Eine der Geschichten, die ich als Kind in Kriegszeiten hörte, ist diese: „Als meine Mutter mit meinem Bruder schwanger war, wollte mein Opa sie nach Bordeaux in ein weniger umkämpftes Gebiet bringen, aber kam nie an, da die Brücke gesprengt worden war, die man hätte überqueren müssen. Bei dieser Fahrt ging während einer Pause kurzfristig der Urgroßvater verloren – er wurde später zum Glück gesund und bei guter Laune in einem Bistro wiedergefunden.“


Ich bekam ansonsten nicht viel mit vom Krieg, mich beunruhigten allerdings die großen Hunde der deutschen Soldaten, der „Boches“, an deren Uniformen ich mich noch gut erinnere. Später wohnte meine Mutter mit uns in einem Schloss in einem kleinen Dorf. Mein Vater war in der Résistance (2) und lebte verborgen in den Wäldern. Das war für uns alle sehr gefährlich, daher sagte man uns Kindern nichts darüber, insbesondere, da mein Bruder für sein Alter schon recht gut sprechen konnte.

Die SS (3) scheute sich nicht, durch nette, harmlos scheinende Gespräche kleine Kinder nach ihrer Familie auszufragen. Also wurden uns, zu unserem eigenen Schutz und dem der Familie, alle Details verheimlicht.


Die Geschichte meiner Eltern ist spannend

Mein Großvater, den meine Mutter über alles geliebt hat, ist mit 59 an Bronchitis verstorben, ich habe ihn nicht gekannt. Er besaß eine Art Kino, eines der ersten mit Ton, und für die Vorführungen reiste er mit der Familie durch das Land.


Meine Mutter war eine lebenslustige junge Frau, flott und kokett. Sie war eine begabte Tänzerin und tanzte eine Zeitlang als Ballerina in Südfrankreich an der „Opéra de Pau“. Außerdem schrieb sie wunderbare Gedichte bis ins hohe Alter. Sie hatte sehr viel Humor und hat die Leute immer zum Lachen gebracht. Als ich mit ihr in Spanien war, haben wir viel zusammen gelacht! Mit 16 lernte sie meinen Vater Henri kennen, aber die Familie zog weiter.

Als sie 18/19 Jahre alt war, kamen sie wieder in den Ort, in dem mein Vater lebte und meine Mutter erkundigte sich nach ihm in einem Eiscafé. Zu diesem Zeitpunkt war Henri aber verlobt und die Familie der Braut war sogar mit meinen Großeltern befreundet – trotzdem trafen meine Mutter und mein Vater sich. Er verliebte sich sehr in meine Mutter und löste seine Verlobung, es war ein Skandal. Meine empörte Großmutter nahm theatralisch ein großes Bild von der Wand und zog es meinem Vater wütend über den Kopf. Meine Mutter gestand mir viel, viel später: „Hätte Deine Großmutter deinen Vater nicht so „encadré“ (eingerahmt)..., es tat mir so leid, was er wegen mir ertragen musste und er war so verliebt. Ich glaube, ich hätte ihn sonst vielleicht doch nicht geheiratet, er gefiel mir gar nicht mehr so sehr...“.

Aber sie haben sich verlobt und geheiratet, dann kam der Krieg.


Mein Vater liebte meine Mutter sehr und konnte ohne sie nicht sein, umgekehrt vielleicht schon. Meine Mutter war cleverer, pfiffiger und eine sehr aparte Frau – sie gefiel den Männern, das ist mir schon als kleines Mädchen aufgefallen. Ich habe immer auf sie aufgepasst und sie einige Male gewarnt. Mein Vater war kein lockerer Typ und streng mit uns. Er erwartete stets korrektes und fleißiges Verhalten.

Ich soll einmal gesagt haben: „Mama, können wir einen anderen Papa kaufen?“ Das war nicht böse gemeint, aber ich erinnere mich an keine Zärtlichkeiten gegenüber uns Kindern – vielleicht war die Zeit so. Für die Ehe war die Zeit später in Afrika vielleicht deswegen die beste, weil die beiden sich so sehr aufeinander verlassen mussten und einander so nah waren. Das hat der Ehe gutgetan. Gegen Ende ihrer Ehe schien eher Gewohnheit als Liebe im Vordergrund zu stehen.


Über meine Ehe war mein Vater nicht so begeistert, aber er hat nichts gesagt – und hätte er etwas dagegen gesagt, dann hätte ich erst recht geheiratet. Ich habe nämlich auch viel vom Charakter meines Vaters, nicht nur von meiner Mutter. Meine Mutter und mein Schwiegervater in Indien haben sehr nette Briefe ausgetauscht und darin übereinstimmend gehofft, dass die verschiedenen Kulturen ihrer Kinder gut zueinander finden.

Später ist irgendetwas zwischen meinem Mann und meinem Vater vorgefallen, so dass wir ein Jahr lang gar keinen Kontakt hatten. Später renkte sich das Verhältnis wieder einigermaßen ein, aber nie so richtig. Ich habe es immer sehr für meinen Sohn Pascal bedauert, dass er von seinen Großeltern so wenig hatte und sie wenig emotional mit ihm waren. Sie machten z. B. ein mir unverständliches Theater um sein kleines Velours-Kuschelkissen, das er liebte und gerne bei sich hatte. Sie empfanden es als überflüssig. Das hatte wenig gemein mit dem großelterlichen Verständnis, welches ich in meiner Kindheit genießen durfte – und ich hätte es mir für ihn anders gewünscht.


Mein Bruder

Jean-Henri, auch Geannot genannt, ist 16 Monate älter als ich, war so sportlich veranlagt wie der Großvater. Er hat Fotografie und Cinémateographie studiert, und ich stand ihm für alles mögliche Modell für seine Ausbildung, denn Geld für Modelle gab es nicht. Er hatte sich in meine Freundin Ann verliebt, eine typisch britische und exzentrische Frau. Sie heirateten und ließen sich scheiden. Er heiratete wieder, eine schicke, hübsche Deutsche. Mein Bruder schafft es, alles 100-prozentig zu machen, zum Beispiel Parkett legen, kochen, putzen, Wäsche machen – er ist glücklich mit seiner Familie, hat Kinder, Enkel und Urenkel. Leider sehen wir uns nur noch selten, obwohl wir uns gut verstehen.


Tante Marie-Francoise

Eine Zeitlang wohnte in Belgien eine junge Frau bei uns, Marie-Francoise. Für uns Kinder hieß es, sie sei eine Tante und so nannten wir sie auch. Als Kind nimmt man die Dinge hin und fragt nicht viel. Geschützt durch unsere Alibifamilie arbeitete „Tante Gilda“ unentdeckt als Krankenschwester für die Résistance. Eines Tages war sie einfach verschwunden, aber meine Mutter hielt Kontakt zu ihr und klärte uns später über die damalige Zeit auf.


Amerikaner wurden unsere Freunde

Mein Großvater besaß eine Lagerhalle, die vor unserem Wohnhaus stand. Dort wurden seinerzeit Gasflaschen seines Arbeitgebers Air Liquide gelagert. Diese Halle nutzten die Amerikaner (4) gegen Ende des Krieges als Versteck für Funkgeräte und Jeeps. Daher gingen viele Amerikaner bei uns ein und aus und wurden zum Teil enge Freunde.


Meine Eltern adoptierten und pflegten nach dem Krieg sogar das Grab eines der amerikanischen gefallenen Söhne, Mikel, und sandten Fotos vom Grab zu den weit entfernten Eltern nach New York in die USA. Sie hatten den gutaussehenden sympathischen Mikel gekannt und gemocht und ein Foto von ihm stand lange in unserem Wohnzimmer.

Meine Eltern besuchten später einige Freunde aus dieser Zeit in Kalifornien, und ich ebenfalls, als ich später nach New York reiste. Meine Urgroßmutter rümpfte zwar oft die Nase über einige Unsitten der „Gäste“, wie z. B. den Genuss gekochter Frühstückseier mit Konfitüre. Aber sie lauschte gebannt den Erzählungen des so viel einfacher und wunderbar erscheinenden Lebens in Amerika, der Modernität, den Annehmlichkeiten durch die vielen Haushaltsgeräte, von denen man hier noch weit entfernt war.


Die Hoover – Waschgerät mit Kurbel

Wir wuschen unsere Wäsche z. B. noch in großen Bottichen, die auf dem Herd erhitzt wurde. Es war eine Heidenarbeit für die große Familie. Aber dank der Amerikaner gab es irgendwann ein einfaches Waschgerät mit einer Kurbel in unserem Haus, das war die erste Waschmaschine des Ortes, eine Hoover (5)! Wir waren sehr stolz und glücklich darüber und alle Nachbarinnen kamen, um dieses „Wunder“ zu bestaunen.


Ich war ein Kind, mir ging es zum Glück gut, es gab nicht viele Autos auf den Straßen, wir waren nicht in unmittelbarer Gefahr, und ich konnte draußen mit meinem Holzroller und meinem sommersprossigen Freund Freddy bei Wind und Wetter sorglos spielen.


Auswandern nach Amerika war zu teuer

1945 ging der Zweite Weltkrieg endlich zu Ende. Mein Vater bekam in Belgien eine Anstellung als technischer Lehrer in einer Schule, verdiente aber – laut meiner Mutter nicht genug, um Frau und zwei Kinder gut durchzubringen, also entschied sich mein Vater, auszuwandern. Sein Wunschland war Amerika. Allerdings konnten meine Eltern die Gebühren, die seinerzeit für die Einwanderung bezahlt werden sollten, nicht aufbringen.

Dann bekam Papa die Möglichkeit, für die belgische Entwicklungsgesellschaft „SCAM“ als Mechaniker / Techniker in Afrika zu arbeiten, in Mayumbe – tief im Kongo. Er plante zunächst, sechs Monate allein dorthin zu gehen, Mama und wir Kinder sollten also nach sechs Monaten nachkommen und … das taten wir auch!


Aufbruch in den Kongo

Foto: Madeleine B.



Alle Quellen: wikipedia.org


(1) Als Zweiter Weltkrieg (1.9.1939 – 2.9.1945) wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen. …. Im Kriegsverlauf bildeten sich militärische Allianzen, die als Achsenmächte und Alliierte (Anti-Hitler-Koalition) bezeichnet werden. Hauptgegner des nationalsozialistischen Deutschen Reiches waren in Europa das Vereinigte Königreich mit dem … Premierminister Winston Churchill an der Spitze sowie (ab Juni 1941) die unter der Diktatur Stalins stehende Sowjetunion. … Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945; die beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki führten zur Kapitulation Japans am 2. 9.1945. … Über 60 Staaten auf der Erde waren direkt oder indirekt am Weltkrieg beteiligt, mehr als 110 Millionen Menschen trugen Waffen.


(2) Die Résistance ist ein Sammelbegriff für französische, belgische und luxemburgische Bewegungen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs sowie gegen die mit den deutschen Besatzungsmacht kollaborierenden inländischen Institutionen und Bevölkerungsgruppen.


(3) Die Schutzstaffel (SS) war eine nationalsozialistische Organisation in der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus, die der NSDAP und Adolf Hitler als Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument diente. In ihren Verantwortungsbereich fielen ab 1934 Betrieb und Verwaltung von Konzentrations-, ab 1941 auch von Vernichtungslagern, sie war sowohl an der Planung wie an der Durchführung des Holocaust und anderer Völkermorde vorrangig beteiligt ...


(4) US-Truppen halfen im Zweiten Weltkrieg bei der Befreiung Belgiens von der deutschen Besatzung, zusammen mit britischen und kanadischen Truppen und Mitgliedern des belgischen Widerstands. ... die amerikanische Politik konzentrierte sich nach der Vertreibung der Nazis auf die Schaffung politischer Stabilität und die Unterstützung alliierter Militäroperationen ...


(5) Hoover ist eine Marke für Elektrohaushaltsgeräte ...; ursprünglich war Hoover ein selbständiges US-amerikanisches Unternehmen.


Auszug aus „WAS, WO, Wie ich gelebt habe …", erzählt von Madeleine B., aufgeschrieben von Madeleine B. und Anne P. (2020), bearbeitet von Barbara H. (2024)


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