top of page

Kriegsende in Iserlohn: US-Soldaten verteilten Schokolade

Horst G. wurde 1938 geboren und ist in Iserlohn aufgewachsen. Zum Weltkriegsende war er erst sieben Jahre alt. Nicht an alles kann er sich erinnern. Nach dem Schulabschluss startete er seine Ausbildung zum Kfz-Schlosser in Düsseldorf, studierte in München und begann dort seine berufliche Laufbahn.

Nach 15 Jahren in Düsseldorf zog es ihn dann für 30 Jahre ins südliche Niedersachsen. Mit dem Vorruhestand verschlug es ihn nach München; ab 2010 lebte er wieder in Düsseldorf.

Bild: Bauernkirche und Altstadt in Iserlohn, um 1935. Quelle: Postkarte, Verlag Ernst Bischoff, Iserlohn, ungelaufen (Stadtarchiv Iserlohn, Postkartensammlung)


Über die Eltern

Meine Mutter Frieda wurde 1905 in Düsseldorf geboren, mein Vater Hans 1899 in Güstrow. Er war Berufssoldat und hatte schon 1917 als 18-Jähriger im Ersten Weltkrieg gedient.


Ich habe null Erinnerungen an meinen Vater, denn er ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Alles, was ich über ihn weiß, stammt aus Erzählungen meiner Mutter. Kennengelernt haben sich beide 1931 beim Spazierengehen auf der Kö in Düsseldorf.


Meine Mutter war vom Charakter her eher forsch und sprach ihn an. Er hatte Hochwasserhosen an, das war damals modern und galt als chic, übrigens in der heutigen Zeit auch wieder.


Geheiratet haben sie 1931, in dem Jahr, in dem auch meine Schwester zur Welt kam. Mein Vater war damals Amtmann.

Warum war er damals am Amtsgericht, obwohl er doch eigentlich Berufssoldat war? Ich erkläre mir es damit, dass nach dem verlorenen 1. Weltkrieg der Versailler Vertrag (1) die Wiederbewaffnung Deutschlands verbot.

Die Wiedereinführung der Wehrpflicht im Dritten Reich erfolgte 1935 und die Mobilmachung (2) 1939. Der Vater wurde zur Wehrbereichsverwaltung versetzt. Iserlohn war Garnisonsstadt mit drei Kasernen. Zu Hause in Iserlohn hörten wir die Kommandos der nah gelegenen Kaserne. Mein Vater hatte die Musterung der Soldaten unter Aufsicht und wurde auf Grund dieser Position durch die anliegenden Fabrikanten stark hofiert, die auf die Freistellung ihrer Söhne von dem Wehrdienst hofften.


Er hatte den Dienstgrad Major. Im April 1940 begann in Norwegen die deutsche Invasion mit vielen Tunnelkämpfen. Bewundernd erzählte er von den Marinefliegern, die ihn nach Norwegen zum Einsatz flogen. Um den Kampf in den weitverzweigten Tunneln anzunehmen und fortzuführen, mussten die Soldaten raus aus den Schützengräben und rein in die Tunnel gescheucht werden. Im Einsatz war er auch an der deutsch-sowjetischen Front bei der Schlacht um Moskau, die im Oktober 1941 begann. Die Offensive scheiterte jedoch, nachdem am 5. Dezember 1941 die Rote Armee eine großangelegte Gegenoffensive startete.


Meine Schwester starb 1941 an geplatztem Blinddarm. Penicillin war noch nicht weit verbreitet. Die Beerdigung meiner Schwester am 8. Dezember 1941 fand ohne meinen Vater statt.


Symbolfoto: privat, Barbara H.


Unter den Trauergästen waren auch Nachbarn und befreundete Soldaten. Meine Mutter rief in die Runde: „Warum ist denn Hans nicht hier, warum hat er keinen Urlaub erhalten?“

Als sie keine Antwort bekam, sondern sie nur tiefes Schweigen vernahm, wurde ihr klar, dass ihr Mann gefallen war. Kurz darauf besuchte ein Adjutant unsere Familie, um sie über seinen Tod zu informieren. Die Türme von Moskau im Blick, fiel er bei der Überquerung eines Flusses vor den Toren von Moskau am 2. Dezember 1941.

Zu erfahren und aufzuarbeiten, welche Rolle mein Vater in der Hitlerzeit gespielt hat und wie aktiv er dabei war, hatte ich als Erwachsener kein besonderes Interesse. Auf jeden Fall war er überzeugter Nationalsozialist, während meine Mutter sich eindeutig neutral verhielt. Größere Konflikte zwischen beiden über politische Themen gab es wohl nicht, jedenfalls hatte meine Mutter hierüber später nichts erzählt.


Meine Erinnerungen an das Kriegsende

Befreundet war ich mit Uli. Wir waren Nachbarn, unsere Mütter gingen gemeinsam spazieren. Uli lag noch im Kinderwagen, während ich schon im Sportwagen sitzen durfte. Das war 1939. Wir bewohnten eine gemietete Wohnung in der ersten Etage eines hochherrschaftlichen Jugendstilhauses in der Baarstraße. Auf dem Grundstück stand auch ein Kutscherhaus.

Springen wir gleich an das Ende des Zweiten Weltkrieges, denn vom Krieg bekamen wir nicht viel mit. Bei Fliegeralarm waren wir, je nach Stärke der Sirenen, bei Uli im Keller oder stiegen in unseren Keller, zusammen mit den Bewohnern aus dem benachbarten Kutscherhäuschen. Bei besonders starkem Alarm liefen wir in die Baarbach-Katakomben. Das war alles schon Routine für uns.


Ein einziges Mal geschah etwas Aufregendes. Der Nachbar aus dem Kutscherhäuschen wollte einen Blick auf die Bomber werfen, und genau in diesem Moment landete eine Fliegerbombe auf unser Grundstück, seitlich neben dem Anwesen vom Bauer Emden. Die Druckwelle der explodierenden Bombe warf den Neugierigen ins Haus zurück und die Kellertreppe hinunter! Außer ein paar Prellungen hatte er nichts abbekommen. Glück gehabt!


2.000 Schutzsuchenden bot der Luftschutzstollen in der Altstadt eine Zuflucht. Die Baarbach-Katakomben existieren heute noch, ein weit verzweigtes unterirdisches Bauwerk. Die Straße über den Katakomben hieß Weingarten. Das Baarbachtal wurde im späten 19. Jahrhundert überbaut, um den Bau der Baarstraße und der ersten Wohnhäuser zu ermöglichen. Durch die Katakomben fließt der Baarbach als kleines Rinnsal, er kann aber bei starken Niederschlägen zum reißenden Fluss werden. Angst hatten wir damals nie. Im Schutzbunker standen unten Betten, so ähnlich wie in Jugendherbergen.


Auch bei uns gab es eine Einquartierung. Unseren Wohnraum mussten wir 1945 mit einem Ehepaar teilen. Es kam aus Dortmund nach Iserlohn, weil die Stadt durch Bombardierungen in Schutt und Asche gelegt und das Ehepaar, so wie Zehntausende von Ausgebombten, obdachlos geworden waren. Durch die vielen Evakuierten, die hier Zuflucht suchten, wuchs die Einwohnerzahl von Iserlohn von 38.000 auf 100.000 an. Unser Flur wurde durch eine hölzerne Wand geteilt, und die Dortmunder erhielten das Herrenzimmer meines Vaters sowie die Küche mit Balkon als Wohnräume.

Wir hatten also von nun an nicht nur weniger Wohnfläche, sondern auch keine Küche und keinen Balkon mehr. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass es zu Streit oder Unfrieden kam. Wir haben uns vielmehr damit arrangiert und Lösungen gefunden. Durch ein großes Brett auf der Badewanne wurde das Badezimmer zur Küche umfunktioniert.


Das Elend des Krieges zeigte sich uns persönlich, als die deutschen Soldaten, nachdem sie ihre Waffen niederlegt hatten und gefangen genommen waren, auf der Baarstraße an uns vorbeizogen.

Wir, Uli sechs und ich sieben Jahre alt, haben mit staunenden Augen am Straßenrand gestanden. Ein einziger Landser führte ein Pferd am Halfter. Er kam auf mich zu und schenkte mir dieses Pferd, das ihn sicherlich auf manches Schlachtfeld begleitet hatte. Ich führte das Pferd in unseren Park, damit es auf der Rasenfläche grasen konnte. Doch da kamen schon die Nachbarn, entrissen mir die Zügel und brachten das Pferd ins Kutscherhäuschen. Dort waren die Stallungen. Wiedergesehen habe ich das Pferd nie wieder. Ob ich bei den regelmäßigen Einladungen zum Mittagsessen bei Ulis Eltern mal Pferdefleisch auf dem Teller hatte? Ich weiß es nicht, will es aber auch nicht ausschließen!


Diese Erfahrung muss es wohl gewesen sein, die mich aktiv werden ließ, als die amerikanischen Soldaten Einzug hielten. Vom Panzer aus verteilten sie Süßigkeiten, vorwiegend Schokolade. Als mir ein Mädchen zuvorkam und eine Tafel Schokolade erwischte, riss ich ihr diese aus der Hand und stieb davon, denn rennen konnte ich ja.


Die Offiziere der US-Armee wohnten nicht in den beschlagnahmten Kasernen oder in den Armee-Zelten, sondern beschlagnahmten die Villen direkt an der Baarstraße. Was tat meine Mutter? Sie setzte unseren Keller unter Wasser! Als der inspizierende Offizier das sah, verzichtete er auf eine Beschlagnahme. Aber gegenüber wurde die große Villa konfisziert, etwas erhöht am Hang liegend an der Straße „Am Tyrol“. Die Besitzer wurden evakuiert, zogen aber später wieder ein. Ulis Elternhaus blieb verschont, weil sich die Räume des väterlichen Geschäfts darin befanden. Der Offizier, der bei uns gegenüber einzog, muss wohl Opernsänger gewesen sein, er schmetterte Arien vom Balkon in unsere Richtung.

Vielleicht hat ihm meine Mutter, 40 Jahre jung, imponiert!


An was ich mich nicht erinnern kann

Da ich mich an vieles nicht mehr erinnern kann, zitiere ich in Auszügen aus Veröffentlichungen in 2020 von IKZ-online und Stadtkurier:

„Immer schlechter wurde die Versorgungslage. Für die seit Ende August 1939 verteilten Lebensmittelkarten hatte es schon in den vergangenen Monaten immer weniger gegeben, die Schlangen an den letzten geöffneten Geschäften waren immer länger geworden. In den letzten Kriegswochen wurde vor allem in der Stadt selber der Mangel am Allernötigsten immer größer. Es war ein täglicher Überlebenskampf, sobald man die Luftschutzräume verlassen konnte, was aber eben immer seltener der Fall war. An die steigenden täglichen Störungsangriffe durch Moskito- und Lancester-Flugzeuge erinnert sich der damalige Polizist, spätere Buchhändler und Oberbürgermeister von Iserlohn, Alfred Potthoff, nach Kriegsende in einem Bericht über die letzten Wochen vor dem 16. April: „Dauernd ertönten die Luftschutzsirenen. Die Stimmung der Bevölkerung war apathisch und verzweifelt. Blinder Gehorsam der vergangenen zwölf Jahre und Angst vor dem Regime hatten jeden Gedanken an eine offene Auflehnung gegen Partei und kampfgewillte Militärs, die bis zum letzten, bis zur Vernichtung kämpfen wollten, zunichte gemacht.

In den Kriegsjahren hatte die Stadt verhältnismäßig Glück. Während das Ruhrgebiet ständiges Ziel von alliierten Luftangriffen war und die Iserlohner in den Nächten oftmals am Horizont den Widerschein der brennenden Städte beobachten konnten, blieb ihre Heimatstadt von Bomben und Minen noch weitestgehend verschont.

Aber am Abend des 13. April 1945 begann die Bombardierung und Artilleriebeschuss durch amerikanische Truppen, was die härteste Bewährungsprobe für die Bevölkerung bedeutete.

Der Grund war, dass sich im April die verbleibenden Wehrmachtruppen aus dem Ruhrkessel (3) nach Iserlohn zurückzogen. Drei Tage lang nahmen die Amerikaner die Stadt unter Beschuss, um im immer kleiner werdenden Ruhrkessel die hier verbliebenen Soldaten der Wehrmacht zur Aufgabe zu bewegen. 180 Menschen verlieren in den knapp drei Tagen ihr Leben. Die Kirche erhielt acht Volltreffer und ringsum gab es gewaltige Granattrichter. Trotzdem waren die Zerstörungen leichter im Vergleich zu den Schäden im Ruhrgebiet.

Erst ein Waffenstillstand ließ die Geschütze verstummen, bevor es schließlich nach dem Ultimatum der Amerikaner und in Erkennung der Aussichtslosigkeit zur Kapitulation und Übergabe der Stadt am 16. April 1945 kam."

Bild: Blick auf die Iserlohner Innenstadt von Süden, um 1941

Quelle: Postkarte, Foto und Verlag Ernst Bischoff, Iserlohn, gelaufen 1942 (Stadtarchiv Iserlohn, Postkartensammlung)


Meine Erinnerungen an den Neuanfang

Zweimal wurde ich eingeschult. Das war ungewöhnlich, mag man glauben, doch dies erging vielen aus meiner Altersgruppe genauso. Das erste Mal im Jahr 1944. Doch im Chaos ein Jahr vor Kriegsende war an Schule nicht zu denken, deshalb startete die Einschulung für Erstklässler erneut im Jahr 1946.

So ging auch diese Zeit vorbei, aber nicht ohne Narben zu hinterlassen. Vom Amt kam kein Geld mehr, es wäre sowieso nichts wert gewesen. Wie denn sich selbst und zwei Söhne über Wasser halten? Unsere Mutter war Schneiderin, nähte uns Jacken und Mäntel. Getauscht hat sie auf dem Schwarzmarkt mit Vaters Uniform und verkaufte Zeitschriften-Abos.

Als sie nur noch Haut und Knochen war, wurde sie durch das Müttergenesungswerk verschickt. Wir beiden Jungen kamen ins Iserlohner Waisenhaus. Von dort brachen wir auch mal aus und schlugen uns auf dem Obsthof von Bauer Emde den Magen voll.

Auch diese Zeit verging, bis endlich Anfang 1952 unsere Mutter ihre Kriegerwitwenrente inklusive einer Nachzahlung erhielt! Mein Bruder und ich bekamen jeder ein Fahrrad, ich zu Weihnachten eine Märklin-Eisenbahn, später noch einen Stabil-Baukasten. Auch Ulis Vater schenkte seinem Sohn ein Fahrrad und eine Eisenbahn.


(1) Der Friedensvertrag von Versailles  wurde am 28. Juni 1919 zwischen dem  Deutschen Reich einerseits sowie  Frankreich, Großbritannien, den  Vereinigten Staaten  und ihren Verbündeten andererseits geschlossen und beendete den  Ersten Weltkrieg  auf  völkerrechtlicher  Ebene. Der Friedensvertrag war auf der Pariser Friedenskonferenz 1919  im  Schloss von Versailles  von den Alliierten und Assoziierten Mächten  ohne Beteiligung Deutschlands ausgehandelt worden (Quelle: Wikipedia).

(2) Die Mobilmachung bedeutet dieVorbereitung der Streitkräfte eines Staates auf den Kriegseinsatz.

(3) Als Ruhrkessel wird eine Kesselschlacht bezeichnet, die im April 1945 im Rheinland und Westfalen stattfand. Sie gehörte zu den letzten großen Schlachten im Zweiten Weltkrieg.

Auszug aus „Ich hatte alles! – Meine One-Way-Ticket“ erzählt von Horst G., geschrieben 2021 von Reinhard R.

bottom of page