Zwischen Heimat und Kinderlandverschickung: Liebe der Eltern vermisst
„Es war so, als hätte der Krieg Bayern verschont“, erzählt Doris P., geboren 1932 in Düsseldorf, von ihrer Kinderlandverschickung (1). Frühkindliche Bindungen prägen und wirken – die bewegende Geschichte ihrer Unterbringung in Bayern, von ihren Pflegeeltern und der Verbindung zu ihren Eltern in Düsseldorf.
Im bayrischen Burghausen war Doris sicher vor den Bombenangriffen in Düsseldorf.
Foto: Makalu/Pixabay
Das Generationenhaus
Ich bin am 1. März 1932 geboren. Hier in diesem über 100 Jahre alten Haus lebe ich seit meiner Geburt. Es ist das Elternhaus meines Vaters.
1926 hat mein Großvater dieses Haus gekauft. Erbaut wurde es 1906 von der Waggonfabrik Weyer & Co. Die ganze Häuserreihe wurde für ihre Angestellten errichtet. Der Prokurist dieser Firma hieß Heggemann. Diese Straße trägt heute seinen Namen. Als die Waggonfabrik nach Krefeld verlegt wurde, standen die Häuser zum Verkauf. Mein Großvater hat sofort zugegriffen.
Ausbruch des Krieges und Kinderlandverschickung
Wir hatten keine ruhige Nacht mehr. Bei Bombenalarm in der Nacht – und dieser Alarm war mehrmals in der Nacht – wurden wir von ganz oben aus dem Schlafzimmer und dem warmen Bett in den kalten Keller gebracht. Ich war im dritten Schuljahr und immer müde. Doch auf die Firma Henkel ist keine Bombe geworfen worden, es schien so, als hätten sie das Chemiewerk schonen wollen.
Die Stadt Düsseldorf startete einen Aufruf in den Schulen. Um einmal aus dem Bombengebiet herauszukommen, konnten die Eltern ihre Kinder zur Kinderlandverschickung anmelden. „Doris, wohin willst du, nach Ostpreußen oder nach Bayern?“, fragte mich meine Mutter. Mit acht Jahren war mir weder Ostpreußen noch Bayern ein Begriff. Ich entschied mich für Bayern.
Ein Bus brachte uns Kinder nach Burghausen an der Salzach. Es war eine nicht enden wollende Fahrt. Es wurden mehrere Stopps eingelegt, dann waren wir endlich da. Burghausen liegt genau 50 km nördlich von Salzburg. Vor dem Gasthof Glöckelhofer wurden wir erwartet. Mein Name wurde aufgerufen, eine freundliche Dame reichte mir beim Aussteigen aus dem Bus die Hand. Sie führte mich zu einem großen Auto mit Chauffeur. Ich stieg ein, jetzt war ich sehr aufgeregt. Die Fahrt ging zu meinen Gasteltern.
Meine neuen Eltern wollten während des Krieges etwas Gutes tun und hatten sich daher bereit erklärt, einem Kind aus dem Bombengebiet ein sicheres Heim zu geben. Zu ihrem Leidwesen waren sie kinderlos. Später erfuhr ich, dass meine Pflegemutter zwei Babys verloren hatte, Einzelheiten habe ich nie erfahren.
Vier Wochen waren für diesen Aufenthalt vorgesehen. Es waren verlängerte Osterferien. Gegen Ende dieser Ferien fuhren meine Pflegeeltern zur Kur in ein Bad. Sie brachten mich bei einer Familie mit einem kleinen Mädchen unter. Auf dieses Mädchen sollte ich aufpassen. Doch in dieser Familie gefiel es mir nicht, so fuhr ich mit den anderen Kindern aus der Kinderlandverschickung wieder nach Hause. Nach ihrer Rückkehr aus der Kur haben die Pflegeeltern meinen Eltern und mir einen Brief geschrieben und gefragt, ob ich nicht wieder zu ihnen kommen wollte. Es hätte mir doch so gut gefallen. Mutter war es wichtig, dass ich in Bayern vor den Bomben in Sicherheit war. Damit war die Entscheidung für eine Rückkehr nach Burghausen gefallen.
Mein Leben in Burghausen: Warum lassen sie mich alleine?
Ich hatte einen regen Briefverkehr mit den Eltern. Vater schrieb oft: lerne fleißig, sei lieb. Einmal im Jahr kam meine Mutter zu Besuch nach Burghausen und blieb vier bis sechs Wochen lang. Es war eine schöne und abwechslungsreiche Zeit, bis der Tag des Abschiednehmens kam.
Dann schaute ich meine Mutter immer wieder an, in der Herzgegend tat mir alles weh. Und innerlich stellte ich mir die Frage: Warum lässt sie mich allein? Damals schwor ich mir: Deine Kinder, die lässt du nicht allein, für die bist du immer da. Einige Tage nach einem solchen Abschied war das Gefühl der Trauer weg.
Die Pflegeeltern waren gut zu mir, es fehlte mir nichts.
Heimweh war es nicht, was ich spürte, ich vermisste Liebe, die Liebe der eigenen Eltern. Obwohl, früher wurde man nicht so oft in den Arm genommen oder abgeküsst, wie das heute der Fall ist.
Pflegeeltern: Zwischen Vorstellungen und Wünschen
Meine Pflegeeltern betrachteten mich als ihre Tochter. Deshalb wollten sie auch, dass ich Mama und Papa zu ihnen sagte. Das brachte ich nicht über die Lippen. Ich habe stets versucht, die wörtliche Anrede zu umgehen. Meine leibliche Mutter nannte ich Mama, später dann Mutti. Ich hätte meine Pflegeeltern gerne als Onkel Karl und Tante Gretel angesprochen.
Es war, als hätte der Krieg Bayern verschont. In großer Freiheit konnte ich die Tage in der Natur verbringen. Das Haus lag weit ab vom Ort. Keine Bombe fiel. Wir hatten das beste Essen.
Mein Pflegevater sah mich als zukünftige Apothekerin. So kam ich auf das Gymnasium und in der Quarta erhielt ich nach Englisch als zweite Sprache Latein. Auch für meine Mutter war eine gute Ausbildung wichtig. Sie überwies jeden Monat für das Gymnasium an meine Pflegeeltern 20 Mark Schulgeld.
Rituale
Abends las ich gerne. Mein Pflegevater hatte eine Bibliothek mit vielen Büchern. Ich durfte lesen, was mir in die Finger kam. Ab und zu kaufte er mir sogar Kinderbücher. Bis heute lese ich gerne. Jeden Freitagabend machten wir einen Spaziergang als Familie ins nächste Dorf zum Bürgermeister und zum Dampfnudelessen. Jopsi kam mit, denn dort lebte sein Freund Bari, ein großer schwarzer Hund. Auf dem Nachhauseweg nahmen wir immer frische Milch vom Bauern mit. Helfen musste ich nicht im Haushalt. Ich hatte einen langen Schulweg und sollte genügend Zeit für die Hausaufgaben haben. Liesel, das Dienstmädchen, war für alles zuständig. Ich habe mit Liesel in einem Zimmer geschlafen. Wir kamen gut miteinander aus.
Wenn in der Küche Obst eingemacht wurde, Linzer Torte gebacken oder Dampfnudeln oder Nudelteig gefertigt wurden, dann war ich gerne dabei. Ich habe zugeschaut oder mitgeholfen und viel dabei gelernt.
Der Apfelstrudel
Jeden Freitag wurde Apfelstrudel gebacken, denn es gab an diesem Tag kein Fleisch. Ein hauchdünner Teig wurde aus Mehl, Wasser und einem Löffel Öl angerührt. Er wurde geknetet, dann musste er ruhen. Anschließend wurde der Teig über den ganzen Tisch ausgewalzt. Ich schälte und raspelte derweil die Äpfel. Kleine Häufchen mit Äpfeln wurden auf dem Teig verteilt, danach wurde er zu einer langen Wurst aufgerollt. Drei Rollen wurden so hergestellt und geschickt zusammengeschoben. Mit Schwung kam der Apfelstrudel in die eingefettete Kasserolle hinein. Er wurde im Rohr (Ofen) gebacken und anschließend mit Sahne bestrichen. Das war einfach köstlich. In meiner Ehe habe ich anfangs dieses Ritual wieder aufleben lassen und jede Woche einen Apfelstrudel gebacken. Heute bin ich leider Diabetikerin.
Ankommen in der neuen alten Heimat
Ich nahm Abschied von meinen Pflegeeltern, es war hart für sie, die Tochter zu verlieren. Sie gaben meiner Mutter Verpflegung und andere gute Sachen für uns alle mit. Ich versprach, sie so bald wie möglich wieder zu besuchen. Dieses Versprechen habe ich gehalten. Jedes Jahr bin ich zu ihnen gefahren.
Doris und ihre Mutter (Foto: privat)
Auf der Heimreise ist uns nie etwas zugestoßen, wir wurden nicht beraubt und auch nicht belästigt. Viele Deutsche waren auf der Flucht oder Heimreise, jeder hat für sich gekämpft und trotzdem den anderen Menschen geholfen, wenn er konnte.
Geschafft, wir passierten unbehelligt die Kontrollen. An der Haltestelle stand bereits die Linie 18, die Straßenbahn nach Holthausen. Wir stiegen ein und freuten uns auf unser Zuhause.
Mutter holte den Schlüssel aus der Jackentasche und öffnete die Haustüre. Vater saß am Tisch. Abgemagert und krank sah er aus, doch er lebte. Wir hielten uns an den Händen, nahmen uns in den Arm und hatten alle Tränen vor Glück in den Augen. Endlich waren wir wieder alle zusammen. Es fing ein neues, ein anderes Leben an.
(1) Die Bezeichnung Kinderlandverschickung (KLV) wurde vor dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich für die Erholungsverschickung von Kindern verwendet. Heute wird unter diesem Stichwort auch an die Erweiterte Kinderlandverschickung gedacht, bei der ab Oktober 1940 Schulkinder sowie Mütter mit Kleinkindern aus den vom Luftkrieg bedrohten deutschen Städten längerfristig in weniger gefährdeten Gebieten untergebracht wurden. … Dadurch sind wahrscheinlich über 2.000.000 Kinder versorgt worden …
Auszug aus "Neugierig bin ich immer noch", erzählt von Doris P., aufgeschrieben von Veronika K, bearbeitet von Rebecca G.
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