"Stoppeln" auf den Feldern: Nach Lebensmitteln suchen
Anna C. wurde 1914 in Düsseldorf geboren, wo sie auch aufwuchs und ihr ganzes Leben verbrachte. Während des Zweiten Weltkrieges (1) wurden ihre beiden Kinder geboren. Ihr Mann kehrte mit Malaria aus dem Krieg zurück und starb später an den Folgen dieser Erkrankung. Aber sie bekam Enkel und Urenkel, und obwohl sie in ihrem Leben häufig krank war, fuhr sie noch mit 85 Jahren allein in den Urlaub und lebte selbständig in ihrer Wohnung. Anna starb im Alter von 95 Jahren.
Rassistische Drohungen und Hohn
Wir hatten die Soldaten in den schwarzen Uniformen, mit einem Totenkopfabzeichen am Ärmel und auf der Brust, schon einige Male gesehen. Es schien, als ob sie das Geschäft unseres Nachbarn beobachten würden. Es waren sehr junge Soldaten.
Das Kurzwarengeschäft gehörte jüdischen Mitbürgern – freundlichen, unauffälligen Leuten. Außer Knöpfen, Garn und Nadeln konnte man nichts Besonderes dort kaufen. Eines Tages wurde ich angehalten mit den Worten: „Hier werden Sie ja wohl nichts kaufen! Es sind schließlich Juden! Bei Juden kauft man nichts!“
Weil ich Angst hatte, antwortete ich schnell: „Nein, nein, ich habe nur nach Knöpfen gesucht. Ich habe aber nichts gekauft.“
Am nächsten Tag gab es plötzlich großen Lärm auf der Straße. Es flogen Möbel aus den Fenstern des Hauses gegenüber. Dann folgten Bücher, Kleidung, gutes Porzellan – kurz, der ganze Hausrat. Ein alter Mann aus der Familie bückte sich und wollte einen Löffel aufheben. Ein junger Soldat trat auf den Löffel, bis er krumm und schief war. „Nun kannst du damit fressen“, waren die höhnischen Worte des Soldaten.
Bombenalarm, Fliegerangriffe und ständiger Hunger
Bei Alarm sind wir nur noch gerannt – mit zwei keinen Kindern, eins an der Hand und das andere auf dem Arm. Wichtig war auch, dass man Strom und Gas abgeschaltet hatte. Wir wären sonst in die Luft geflogen.
Schon um 3 Uhr früh sind wir aufgestanden und haben uns beim Bäcker in der Lorettostraße angestellt, um Brot zu bekommen. Und der Magen hat uns vor Hunger geknurrt. Der ständige Hunger, zu knappe Lebensmittelzustellungen, langes Anstehen vor den Geschäften und die allgemein gegenwärtige Not bestimmten den Tagesablauf.
Das Brot war kurze Zeit später schon ausverkauft. Nein, diese Zeit darf nie mehr wiederkommen! Gegen den ständigen Hunger haben wir abgekochtes Wasser getrunken. Dann war der Magen wenigstens voll Wasser. Eine Familie in der Nachbarschaft hatte zehn Kinder. Wie die dem Hungertod entkommen sind, ist ein Wunder. Zehn Kinder sind ja doch sehr viel.
Trotz Lebensmittelkarten sind wir „Stoppeln“ gewesen
Dann kam die Zeit der Lebensmittelkarten (2). Zuerst waren die Zuteilungen einigermaßen gut – für jeden etwas Butter, etwas Mehl, etwas Fleisch, etwas Zucker. Aber plötzlich waren die Lebensmittelkarten da, und wir mussten unterschreiben, wenn wir sie erhalten hatten. Es reichte einfach nicht.
Nach Oberkassel (3) sind wir gelaufen und haben auf den abgeernteten Feldern nach Kartoffeln und Möhren gesucht. „Stoppeln“ nannten die Leute das. Äpfel waren eine Kostbarkeit. Die angefaulten Stellen wurden einfach herausgeschnitten. Einmal kam der Bauer und hat uns vom Acker vertrieben. Mit dem großen Hund hat er gedroht. Da haben wir uns nicht mehr hin getraut.
Knappheit in allen Bereichen
Im Wirtschaftsamt mussten wir uns um Bezugsscheine anstellen. Die Kinder brauchten dringend Schuhe. Einige Nachbarn haben es verstanden, Schuhe zu bekommen – wie auch immer.
Später, bei Kriegsende, hat sich herausgestellt, wie viel Paar Schuhe sich diese Leute ergaunert hatten. Die aufgebrachten Nachbarn haben diesen Leuten gedroht: „Entweder zieht ihr hier aus, oder ihr liegt bald auf dem Friedhof.“
Der geteilte Weihnachtsbaum
Zu Weihnachten gab es kaum etwas. Aber die Kinder waren mit kleinen, einfachen Geschenken zufrieden.
Einen Tannenbaum? Ja, den hatten wir auch. Drei Familien haben sich einen Baum geteilt: Unterteil, Mittelteil und Spitze. Ein paar Kugeln kamen dran und ganz viel Engelshaar. Da konnte man gar nicht sehen, dass oben oder unten ein Stück fehlte.
Verbrechen in der Nazizeit
Erschießungen müssen da unten an der Stromstraße passiert sein. Aber die Menschen haben vieles nicht richtig mitgekriegt – die Machtergreifung der Nazis, den Kriegsbeginn und dann die vielen, vielen Gräueltaten.
Die Mütter bekamen das Mutterkreuz in Silber oder Gold verliehen, wenn die Familie kinderreich war. „Soldaten für den Führer!“ Gebracht hat es nichts.
(1) Als Zweiter Weltkrieg wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er am 1. September 1939 mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen … Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945.
(2) Eine Lebensmittelmarke ist ein von öffentlichen Behörden ausgegebenes Dokument zur Bescheinigung, dass der Besitzer ein bestimmtes Lebensmittel in einer bestimmten Menge kaufen darf. Lebensmittelmarken werden in der Regel in Notzeiten, vor allem im Krieg, an die Bevölkerung ausgegeben, um den allgemeinen Mangel an Konsumgütern besser verwalten zu können. Die Marken sind in Lebensmittelkarten zusammen gefasst …
Quelle: wikipedia
(3) Oberkassel ist ein Stadtteil von Düsseldorf, der linksrheinisch liegt.
Auszug aus "Scherbenbilder: Der geteilte Weihnachtsbaum“, erzählt von Anna C´., gesprochen mit Irmgard H., bearbeitet von Barbara H.
Symbolfoto: Gerhard G./Pixabay
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