Die Liebe unter vier Geschwistern in Zeiten des Krieges
Else M. wurde 1930 in Düsseldorf geboren, hatte einen großen Bruder und zwei Schwestern. Die Eltern hatten schon den Ersten Weltkrieg (1914 - 1918) miterlebt. Die Mutter war gestorben, als Else drei Jahre alt war. Der Vater heiratete bald wieder, die sogenannte Stiefmutter sah sie als ihre liebevolle Mutter an. Ihre Kindheit hat Else trotz der Ängste und Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges (1939 – 1945) in guter Erinnerung. Sie sagte: „Gerade der Krieg hat uns als Familie stark zusammen geschweißt.“
Ferdinand
Wir waren zu viert. Ferdinand war mein großer Bruder, 1921 geboren, neun Jahre älter als ich und der Älteste von uns Kindern. Meine Schwester Hanna war sechs Jahre älter und Inge zwei Jahre älter als ich. Das heißt, ich war die Jüngste.
Mein Bruder spielte eine große Rolle in meinem Leben. Er hatte einen sehr lieben Charakter, hatte sich immer gefügt und selten Streit angefangen.
Mit 14, nach Beendigung der Schulzeit, wollte er Bäcker und Konditor lernen und machte eine dreijährige Ausbildung bei der Bäckerei Plönes in Düsseldorf. Unter der Woche hat er dort auch übernachtet. Es war damals so üblich, dass die Lehrjungen während der Arbeitswoche bei ihren Meistern gewohnt haben.
Samstags kam er immer nach Hause zu uns. Vorher ging sein Weg aber noch zu Tante Henni. Siehatte bei einem älteren Herrn im Krämerladen auf der Corneliusstraße mitgearbeitet. Deshalb stand unten im Keller, versteckt hinter einer Türe, immer eine große Tüte, die mein Bruder mitnehmen sollte. Enthalten waren Lebensmittel wie Quark, Butter, Eier und was wir sonst noch gut gebrauchen konnten. Ganz unten in der Tüte auf dem Boden lagen jedes mal 5 Reichsmark. Ich höre noch meinen Vater, wie er sich darüber aufgeregt und wütend gesagt hat: „Die meint wohl, ihr bekommt bei mir nichts zu essen!“
Um allerdings dem Streit aus dem Weg zu gehen, hat er das nicht weiter ausgebreitet, es irgendwann sogar mit Humor genommen und sich für uns Kinder gefreut.
Soldat statt Bäcker
Ferdinand hatte eine ausgezeichnete Abschlussprüfung abgelegt. Leider hat er kurz danach die Bäckerkrätze bekommen. Das ist eine Allergie gegen Mehl oder dessen Zusätze. Damit durfte er nicht mehr arbeiten. Somit hat er sich mit 17 direkt zum Arbeitsdienst bei Hitler gemeldet. Danach wurde er Soldat. Unser Papa hat ihn oft wehmütig gefragt, weshalb er sich denn freiwillig melden würde. Er hatte immerhin schon einen Krieg miterlebt und wusste, was das heißt, Soldat zu sein. Aber Ferdi antwortete ihm jedes Mal: „Ach Vater, die ziehen mich doch eh ein. Dann kann ich mich auch direkt freiwillig melden.“
Er wurde mit 18 Jahren auf den Balkan, nach Jugoslawien, versetzt. Im Winter 1942 kamen dort die Russen an und er ist auf einen Baum geklettert, um nicht gesehen zu werden. Zwei Tage, ohne Wasser oder Essen, hat er so verbracht. Es war so kalt, dass ihm die Zehen abgefroren sind. Er kam daher für ein halbes Jahr im Riesengebirge in Niederschlesien ins Lazarett, wo man ihm einen großen Zeh abnehmen musste, weil der abgestorben war. Hier hat er Hilde, seine spätere Frau kennen gelernt.
„Euer Bruder ist da!“
Wenn er aus dem Krieg „auf Urlaub“ nach Hause gekommen ist, haben die Nachbarskinder auf der Straße schon: „Euer Bruder ist da!“, gerufen, als ich mit meiner Schwester Inge von der Schule gekommen bin. Das war immer unser Highlight!
So schnell unsere Beine uns tragen konnten, sind wir zu uns nach Hause gelaufen. Dann haben wir Sturm geklingelt und Ferdinand kam uns mindestens genauso schnell die Treppe herunter entgegen. Wir haben ihn sehr vermisst und waren froh, ihn zu sehen und dass es ihm gut ging.
Hochzeitsnacht im Bunker
Ferdinand heiratete seine Hilde während des Krieges in Düsseldorf, doch das ist eine andere Geschichte …
Alles wurde improvisiert und zum Schluss musste die Familie doch noch bei einem Bombenalarm in den Bunker. Ferdinand wollte nicht. „Ach nee, ich gehe doch nicht am Tag meiner Hochzeit in einen Bunker!“.
Wir Mädchen lagen bereits in unseren Betten. Natürlich schon mit angezogenem Unterrock, für den Fall, dass Alarm kommen sollte. Hilde, die Braut, hatte starke Angst und daher gab Ferdinand letztendlich nach, kam zu uns und sagte: „Kommt, steht auf, zieht euch fertig an, wir gehen.“
Während wir im Bunker saßen, hörte ich Ferdinand sagen: „Nee, dann will ich lieber an die Front. Da kann ich mich wehren. Aber hier, hier sitzen wir nur wehrlos rum!“
Jedes mal, wenn eine Bombe fiel, wölbte sich die eingezogene Decke und die Leute haben vor Angst fürchterlich geschrien. Wir hatten Glück, denn unser Haus blieb in der Nacht unversehrt.
Was aus ihnen wurde
Ferdinand und seine Frau haben später in ihrer Ehe acht Kinder bekommen und sind zurück nach Schlesien in die Heimat seiner Frau gegangen. Er ist im Januar 1992 gestorben.
Inge und ich standen uns beide sehr, sehr nah. Durch unseren geringen Altersunterschied von zwei Jahren hatten wir viele Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen. Meine Schwester Hanne und Ferdinand waren deutlich älter als wir. Für sie waren wir eher „die Kleinen“. Wenn die Beiden aber zu uns zu Besuch kamen - nachdem sie schon aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen waren und eigenständig lebten – war es für Inge und mich immer wie ein Feiertag.
Hanne war zu Kriegsende mit dem Lazarett, in dem sie arbeitete, geflüchtet. Sie war zwar auch auf einem Zug in Richtung Heimat, war für uns aber verschwunden. Wir wussten über Jahre nicht, dass sie 1947 eine Tochter, Rosi, geboren hatte, denn es gab keine Möglichkeit der Kommunikation direkt nach dem Krieg. Diese langen Jahre der Ungewissheit waren unglaublich schlimm. Durch Suchmeldungen, die über die Radios verbreitet wurden, haben wir uns erst viel später wiedergefunden.
Sicherlich gab es unter uns auch mal das übliche Gezänk, bei dem man sich geschworen hatte, nie wieder ein Wort mit dem Anderen zu wechseln. Wirklich lange hielt das dann aber nie an. Dafür hatten wir uns alle untereinander zu gern.
Ich bin die Einzige, die von uns Vieren noch lebt, Inge verstarb bereits 1954 und Hanne 1976. Es gibt sehr viele Momente, wo ich jeden einzelnen von ihnen vermisse und mir wünschte, sie wären noch hier - jetzt, wo man die Zeit füreinander hätte.
Auszug aus „Meine Geschichte. Aus dem Leben von Else M.“, geschrieben von Jenny D. (2017), Auszug bearbeitet von Barbara H.
Foto: Pexels/Pixabay
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