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"Mein Vater setzte alles daran, uns in Sicherheit zu bringen"

Else wurde 1930 in Düsseldorf geboren, hatte einen großen Bruder und war die Jüngste der vier Mädchen. Die Eltern hatten schon den Ersten Weltkrieg (1914 - 1918) miterlebt. Die Mutter war gestorben, als Else drei Jahre alt war. Der Vater heiratete bald wieder, die sogenannte Stiefmutter sah sie als ihre liebevolle Mutter an. Ihre Kindheit hat Else trotz der Ängste und Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges (1939 – 1945) in guter Erinnerung. Sie sagte: „Gerade der Krieg hat uns als Familie stark zusammen geschweißt.“


Lange Stunden im Bunker


„Wir haben im Krieg meistens direkt in unserer Kleidung im Bett geschlafen, damit wir bei einem Bombenalarm keine Zeit mit Aus- oder Anziehen verloren. Wir mussten schnell in die Schutzräume kommen. Einmal, wir waren schon zu spät dran und es fielen schon die ersten Bomben, da schrie mein Vater: 'Else, geh ins nächste Haus rein!' Aber ich bin von zu Hause auf der Krahestraße weiter gelaufen, weil ich dachte, dass der öffentliche Schutzraum nur eine Decke über sich hatte, mehr nicht. Ich hatte es, Gott sei Dank, bis zur Mettmanner Schule geschafft, als der große Angriff kam und unzählig viele Bomben fielen. Die lauten Geräusche, die Hilferufe und Schreie der Menschen werde ich nie aus meinem Ohr bekommen. Dort zu sitzen, völlig ausgeliefert zu sein und auf ein Ende hoffend, war grausam. Nach der Entwarnung bin ich wieder nach Hause gegangen um zu sehen, ob unsere Wohnung noch da war. Sie war nicht getroffen worden. Wäre ich in den öffentlichen Schutzraum der apostolischen Gemeinde gelaufen, wäre ich gestorben. Dort war ein Volltreffer reingegangen. Alle Menschen waren tot. Welch ein Glück, dass ich weiter zur Schule gelaufen war.“


Flucht von Düsseldorf nach Schlesien


„Als bei uns in Düsseldorf die Bombenangriffe immer häufiger und intensiver kamen, sagte mein Vater, dass wir, unsere Stiefmutter, meine Schwester und ich, aus Düsseldorf raus müssten, um in Sicherheit zu kommen und wieder mal ohne Angst durchschlafen zu können. Also sind wir, zusammen mit unseren guten Nachbarn, in den Sommerferien 1943 zu meinem Bruder und seiner Frau nach Schlesien (1) geflüchtet. Unsere Nachbarn waren beide über 60 Jahre alt, und uns war sofort klar, dass wir sie nicht zurücklassen, sondern mitnehmen müssten.


Die Zugfahrt ging über Berlin, und auch unterwegs dorthin wurden wir von Luftangriffen nicht verschont. Zum Glück sind wir nicht getroffen worden und heil angekommen. Der Umstieg auf den Zug weiter nach Schlesien wurde ebenfalls von einem großen Bombenangriff begleitet. Die Lok hat, so schnell sie konnte, den Bahnhof verlassen. Die Geschwindigkeit von heute hatten die Züge damals ja nicht mal annähernd. Die Angst, die wir hatten, war unbeschreiblich groß, zumal unser Vater als schützende Person nicht bei uns war. Er musste in Düsseldorf bleiben und durfte nicht ausreisen.


Gott sei Dank sind wir, nach einem letzten Umstieg in einen ganz kleinen Zug, in Oberschreiberhau/Landkreis Hirschberg im Riesengebirge in Schlesien ohne Verletzungen angekommen. Unser Bruder hat uns vom Bahnhof abgeholt. Wir waren sichtlich erschöpft von der Reise. Unsere Nachbarn bekamen vom Landratsamt ein Zimmer zugewiesen. Und wir drei haben bei dem Bruder meiner Schwägerin gewohnt. Der hatte im Ort ein Kristallgeschäft, das er für uns ausgeräumt und Betten reingestellt hatte. Das reichte uns vollkommen aus. Die Gewissheit, erst einmal keine Bombenangriffe mehr zu erleben, war das Allerwichtigste für uns. Ich erinnere mich daran, dass ich von dort aus den Schnee oben in den Bergen sehen konnte. Schön und friedlich war das.


Unser Vater schrieb uns immer von zu Hause aus. Im Krieg hatte man nicht die Möglichkeit, einfach so zu telefonieren. In einem Brief stand, dass wir dort bleiben sollten, denn die Bombenangriffe in Düsseldorf würden immer schlimmer werden. Eigentlich wollten wir nur sechs Wochen über die Ferien bleiben, aber daraus sind am Ende dann zwei Jahre geworden.


Wie sich erwies, war dies die richtige Entscheidung, denn im November 1943 wurde unsere Wohnung auf der Krahestraße in Düsseldorf komplett ausgebombt. Unser Vater war ohne jegliche Unterkunft und die Angriffe wurden immer schlimmer. Weil er herzkrank war, hatte er auf dem Arbeitsamt von seiner Notlage gesprochen und durfte nach Bad Warmbrunn reisen. Das war ein Ort in unserer Nähe. Dort hatte er eine Arbeitsstelle in einem Büro bekommen. Nach einiger Zeit konnte er sogar ganz zu uns kommen und wir haben im Oberschreiberhau eine kleine möblierte Wohnung gestellt bekommen. Sie lag etwas außerhalb des Ortes und wir waren oft stark eingeschneit, so dass wir regelrecht rausstapfen mussten, um zur Straße zu kommen. Unser Vater ging als erster morgens zur Arbeit, nach ihm meine etwas ältere Schwester. Sie hatte eine Schneiderlehre angefangen. Wenn ich meinen Schulweg antrat, konnte ich in die Tappsen von ihr und meinem Vater treten, so dass ich recht gut durch den Schnee gekommen bin. Aber es gab auch Zeiten, in denen so viel Schnee lag, dass mein Lehrer zu mir sagte, er könnte mir Skier leihen, was ich dann auch lernte. Meine Stiefmutter war in einem Lazarett als Krankenschwester tätig.


Ab April 1944 begann ich mein sogenanntes Pflichtjahr (2), und zwar in einer Drogerie. Mein Vater wollte, dass ich bei ihnen meine Lehre mache. Etwas Besseres könnte mir schließlich nicht passieren. Anfang Februar 1945 ist mein Vater zu dem Ehepaar gegangen, das die Drogerie führte, um den Arbeitsvertrag für mich aufzusetzen. Aber ich wollte überhaupt nicht. Ich empfand die Aufgaben als Schikanen und die Arbeit als langweilig. Im April wäre das Pflichtjahr regulär zu Ende gewesen, und ich wäre dort Lehrling geworden. Aber es sollte – zum Glück – anders kommen …“


Flucht aus Schlesien nach Süddeutschland


„Mitte Februar 1945 rief mein Vater bei mir in der Drogerie an und sagte, dass ich sofort nach Hause kommen sollte. Wir müssten aus Oberschreiberhau flüchten, denn auch hier wären jetzt die Russen angekommen und die ersten Schüsse fielen. Ich durfte allerdings den Ort nicht verlassen, bevor ich nicht beim Arbeitsamt gewesen war, um mir den offiziellen Abmeldestempel in meinem Arbeitsheft abzuholen. Ich konnte die Schüsse schon überall hören. Trotzdem bin ich regelrecht um mein Leben gerannt, denn ich wusste, die deutsche Bürokratie musste eingehalten werden.


Ich weiß noch, wie meine Stiefmutter zum Bahnhof mit uns gelaufen ist und auf dem Weg, im Haus der Nachbarn, die Türe weit offen stand. Die hatten es bereits verlassen, aber in der Küche noch leckeres Brot liegen gelassen. Das holte meine Stiefmutter für uns heraus. Es war kein Raub, wir mussten unterwegs ja irgendwas zu essen haben. Keiner wusste, wann wir wieder etwas bekommen würden. Am Bahnhof hatten wir uns mit Vater und unseren Nachbarn verabredet.


Mein Vater hatte einen Auftrag von seiner Firma erhalten, eine Fracht Schreibmaschinen ins Sudetenland zu bringen und hatte deshalb einen LKW, mit dem wir mitfahren konnten. Von hoch oben im Gebirge sahen wir auf die Stadt Görlitz herunter mit Lichtern in den Häusern. Vater meinte, dass die Leute unvorsichtig seien. Wahrscheinlich war die Stadt aber da schon von den Russen eingenommen worden. Der Winter dort war noch unglaublich hart, so dass wir unterwegs immer wieder anhalten mussten, um Schnee zu schippen. Der nächste Ort, in dem wir ankamen, war Leitmeritz. Die Stadt liegt südlich des Böhmischen Mittelgebirges am rechten Elbufer gegenüber der Mündung der Eger. Heute gehört die Stadt zu Tschechien. Leider gab es auch hier wieder Bombenangriffe und wir haben am ganzen Körper gezittert vor Angst. Heute frage ich mich oft, wie wir das alles überleben konnten. Es grenzt für mich noch immer an ein Wunder. Diese Erfahrungen und Erlebnisse waren so prägend, dass ich sie noch immer weiß.


Mein Vater setzte alles daran, uns in Sicherheit zu bringen. Er selbst durfte nicht weiter mit uns flüchten. Die älteren Männer, die nicht im Krieg eingezogen wurden, mussten die örtlichen Städte verteidigen. Deswegen sind wir Kinder, unsere Stiefmutter und unsere Nachbarn, drei Wochen alleine weiter mit dem Zug nach Landau gefahren, unterwegs immer begleitet von weiteren Bombenangriffen, die auch dort nicht aufhörten.


In Landau (3) angekommen, haben wir uns beim Bürgermeister als Flüchtlinge gemeldet und wurden auf einen kleinen Bauernhof verwiesen. Als die Angriffe von oben verstummten, fing die Schießerei am Boden an. Einen Keller hatte dieser alte Bauernhof nicht, so dass wir bei Fliegeralarm sofort zu unseren Nachbarn gelaufen sind, die in einem anderen Haus untergebracht waren, in dem es einen Unterschlupf gab.

Landau wurde dann allerdings auch eingenommen und wir sind ein Dorf weiter geflüchtet, wo wir in einer Schule unterkamen. Gesehen haben wir nichts von dem, was um uns herum passierte, denn wir haben nur auf dem Boden gelegen. Aber von rechts und links wurde die ganze Zeit durch die Fenster der Schule aufeinander geschossen. Auf der einen Seite war die SS (Schutzstaffel der nationalsozialistische Organisation), auf der anderen Seite standen die Amerikaner. Durch eine Brückensprengung waren die Amerikaner einmarschiert. Sie haben uns befreit. Damit war der Krieg für uns tatsächlich endlich beendet.


Trotzdem hatten wir noch Angst und durften nicht raus auf die Straße. Immerhin kannten wir keine ‚Neger‘, wie man damals noch sagte. Einige der Soldaten waren farbig und Menschen mit anderer Hautfarbe waren uns fremd und weckten Furcht. Genauso kannten wir die Sprache der Amerikaner nicht. Jetzt konnten wir wieder zurück zu dem Bauernhof nach Landau, in dem auch die Nachbarn schon warteten.


Der Krieg war tatsächlich vorbei. Das war im Mai 1945 und im Juni kam unser Papa zu uns. Er sah sehr schlecht und mitgenommen aus. Kein Wunder, war er doch fast komplett zu Fuß von Tschechien nach Landau gekommen. Auf dem Weg durfte er kein Wort Deutsch sprechen, damit er nicht erkannt wurde. Ein Mitarbeiter aus der Fabrik, in der er gearbeitet hatte, gab ihm den Tipp, sich eine weiße Nelke anzustecken. Sie war das äußere Zeichen dafür, dass man stumm war. Genauso hatte er es gemacht. Es war sehr schwierig für ihn, so durchzukommen. Denn alle Deutschen wurden von den Besatzern ermordet. Der Befehl dazu kam sogar über das Radio: 'Mordet alle Deutschen!'. So ist er stückweise nach Landau gekommen. Eine unserer Schwestern fehlte. Sie ist mit dem Lazarett geflohen und wir haben uns nicht verabschieden können.“


Flucht aus Landau nach Düsseldorf


„Im Juni/Juli 1945 sind wir zurück nach Düsseldorf gefahren. Die Amerikaner hatten offene Güterzüge, mit denen Benzinkanister transportiert worden sind. Wir durften mitfahren. Regen, Unwetter, alles bekamen wir ab, aber das war egal. Personenzüge fuhren bei den Amerikanern noch nicht. Aus den Kanistern haben wir uns Bänke gebaut, auf denen wir sitzen und schlafen konnten. Erst ging es von Landau nach Nürnberg. Dort mussten wir von dem Zug mit den Kanistern runter und kamen auf einen neuen Zug, der Grubenholz transportierte, das nach Duisburg ins Ruhrgebiet sollte. Unsere Nachbarn, die zu dem Zeitpunkt schon sehr alt waren, sind mit uns auf den Zug geklettert. Unvorstellbar, was diese beiden Menschen in dem Alter alles auf sich nehmen mussten. Seitlich waren zwar noch Stufen, aber wir mussten bis hoch aufs Holz klettern. Ganz obenauf haben wir dann alle gesessen. Nirgendwo konnte man sich richtig festhalten und zum großen Übel kam noch ein kräftiges Gewitter. Wir hatten einen letzten Koffer mit Habseligkeiten, aber der hat unter dem Regen stark gelitten. Der nächste Stopp war in Gießen. Hier fing die englische Besatzungszone an und wir konnten endlich mit einem Personenzug weiterfahren. Allerdings mussten wir unseren Koffer zurück lassen, damit so viele Menschen wie möglich transportiert werden konnten. Aber das war auch egal, denn es ging, nach all der Zeit, zurück nach Hause.“


Auszug aus: "Meine Geschichte - Aus dem Leben von Else M.",

erzählt von Else M., geschrieben von Jenny D., Auszug erfasst von Barbara H.



Anmerkungen


(1) Schlesien ist eine Region in Mitteleuropa und gehört heute zum großen Teil zu Polen. Ein kleiner Teil im Westen der früheren preußischen Provinz Niederschlesien gehört zu Deutschland, ein südlicher Teil von Oberschlesien zu Tschechien.

Die Familie war praktisch von West nach Ost geflohen und später über den Süden wieder zurück.


(2) Das Pflichtjahr wurde 1938 von den Nationalsozialisten eingeführt. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren und verpflichtete sie zu einem Jahr der Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft…

Die Mädchen und Frauen sollten so auf ihre zukünftigen Rollen als Hausfrau und Mutter vorbereitet und die fehlende Arbeitskraft der Männer, die als Soldaten im Krieg waren, kompensiert werden.


(3) Landau an der Isar ist eine Stadt im niederbayerischen Landkreis Dingolfing-Landau in Bayern.


Auszug aus „Meine Geschichte – Aus dem Leben von Else M.“, geschrieben von Jenny D., bearbeitet von Barbara H.


Titelfoto: aleksandra85foto/Pixabay


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