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Helgas Mutter: Die mutige Beschützerin im Krieg

Helga B. wurde 1938 in Düsseldorf geboren, während des Krieges (1) nach Bayern verschickt und kehrte einige Wochen nach Kriegsende mit der Mutter und der jüngeren Schwester nach Düsseldorf zurück.


Altstadthäuser nach Bombenangriff, Bolkerstr. (1942)

Foto: Stadtmuseum Düsseldorf


Amors heftiger Pfeil: Verlobung mit anderem Mann aufgelöst

Meine Mutter war eine Tochter aus gutem Hause. Sie wurde am 17. Januar 1912 in Essen geboren. Ihr Vater war „Kruppianer“, so nannten sich die Beschäftigten der Firma Krupp. Als Ingenieur verantwortete er Brückenbauten und war in ganz Europa unterwegs. Meine Mutter wuchs zusammen mit ihrer älteren Schwester Anneliese wohlbehütet auf. In den 30er Jahren zog die Familie nach Düsseldorf zur Graf-Adolf-Straße.

Und hier begegneten sich meine Eltern.

Es muss Liebe auf den ersten Blick gewesen sein. Amors Pfeil hatte meine Mutter so heftig getroffen, dass sie sogar ihre Verlobung mit einem anderen Mann löste. Das war damals ein Skandal. Mein Großvater tobte, meine Großmutter redete auf sie ein.

Es half alles nichts: Meine Mutter setzte sich durch und heiratete ihren Carl. Carl wurde im Jahr 1910 als ältestes von vier Kindern geboren und wuchs in Düsseldorf auf.

Kurz nach der Hochzeit übernahmen meine Eltern die Wohnung der Großeltern, die nach Bremen zogen. Ich erinnere mich an viele Einzelheiten dieser Wohnung: Großzügige Maße und edle Ausstattung, Möbel aus Mahagoni, Polster mit blauem Samtbezug. Mir ist, als könnte ich noch heute den weichen pelzigen Samt unter meinen Fingern spüren, und den Duft der Möbelpolitur riechen. Die ersten Jahre ihrer Ehe müssen sehr harmonisch gewesen sein. Finanziell ging es ihnen gut, mein Vater arbeitete in leitender Position für die Fischerwerke im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel, die Konservendosen, Blechplaketten und Geschenkdosen produzierte.

An vielen Abenden erklang Hausmusik in meinem Elternhaus, mein Vater spielte Geige, meine Mutter Klavier. Am 11. Januar 1938 wurde ich in diese Harmonie hineingeboren. Meine Eltern gaben mir den Namen Helga.

Es ist ein nordischer Name, der „glücklich“ oder „gesund“ bedeutet. Zu dieser Zeit war es ein recht verbreiteter Name. Meine ersten Lebensjahre verbrachte ich wohlbehütet, ich hatte sogar ein Kindermädchen, das mit mir über die Kö, durch den Englischen Garten und den Hofgarten spazierte. Damals wussten meine Eltern noch nicht, dass ihr harmonisches Miteinander nur noch von kurzer Dauer sein würde und dass es nie wieder so werden würde.

Inwieweit meine Eltern die politische Entwicklung verfolgten und wie sie damals darüber dachten, vermag ich nicht zu sagen. Meine Mutter erzählte mir später, dass die „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 (2) sie sehr erschüttert hätte. Sie kannte einige von den Ladeninhabern, deren Existenz von heute auf morgen zerstört war.

Menschen verschwanden spurlos. Gerüchte kursierten. Viele Beobachtungen machten meiner Mutter Angst, aber in diesem Klima der Einschüchterung und Diffamierung behielt sie ihre Angst für sich.

Der Krieg machte auch vor uns nicht Halt

Dass im März 1941 der Vater zur Wehrmacht eingezogen worden war, meine Schwester kam zur Welt – und an diesem Freitag auch noch ein schwerer Bombenangriff auf Düsseldorf stattfand, war für mich der Tag, an dem mein bisher sorgloser Alltag von einem Tag auf den anderen zu einem Alptraum geworden war. Dieser Tag gehört zu meinen frühesten Erinnerungen.

Meine Mutter hatte sich kurz vorher mit Wehen in das Evangelische Krankenhaus geschleppt. Als der Alarm ertönte, wurden alle Patienten zur Sicherheit in den Keller gebracht. Nachdem das Entwarnungssignal ertönt war, kehrten alle wieder auf die Stationen zurück. Meine Schwester wäre um ein Haar auf dem Weg zur Entbindungsstation im Aufzug zur Welt gekommen.

Bomben auf Düsseldorf

Ich war zu dieser Zeit bei den Eltern meines Vaters, die auf der Schadowstraße lebten. Ich weiß noch genau, wie meine Großmutter mit mir über die Straße zum Bunker rannte. Der Bunker war dort, wo heute der Schadowplatz ist. Die lauten Sirenen machten mir Angst, ich rannte so schnell mich meine kleinen Beine trugen.

Im Bunker saßen die Menschen mit versteinerten Gesichtern, es herrschte bedrückende Stille. Unsere Wohnung blieb bei diesem Angriff verschont und so kehrten meine Mutter, meine Schwester und ich nach ein paar Tagen hierhin zurück. An normalen Alltag war aber gar nicht mehr zu denken. Immer wieder gab es Alarm und wir rannten hinunter in den Keller. Unser Haus war mit dem Nachbarhaus durch einen langgezogenen Keller verbunden.

Eines Tages, als wir wieder im Keller saßen und darauf warteten, dass Entwarnung gegeben wurde, lief ich den langen Gang hinunter bis in den Kellergang des anderen Hauses. Hier saß ein älteres Ehepaar, das ich vom Sehen her kannte. Die beiden zwinkerten mir zu und ich rannte schnell zurück zu meiner Mutter.

Neugierig geworden rannte ich kurze Zeit später wieder zu dem Ehepaar, diesmal winkten sie mir zu. Ich winkte auch und rannte lachend zurück zu meiner Mutter. So setzten wir das Spiel fort, ich rannte von einem zum anderen. Sowohl das Ehepaar als auch ich hatten Freude daran. Schließlich wurde es meiner Mutter zu bunt und sie bestand darauf, dass ich mich neben sie setzte. Widerstrebend gehorchte ich.

In diesem Moment hörten wir einen ohrenbetäubenden Knall, im Nu war die Luft voller Staub, ich konnte nichts mehr sehen, kleine Steine flogen durch die Luft. Meine Schwester und ich weinten, unsere Mutter legte schützend ihre Arme um uns. Plötzlich breitete sich Stille aus.

Als sich der Staub allmählich wieder gesetzt hatte, trauten wir unseren Augen kaum: Neben uns hatten sich große Geröllhaufen gebildet, der Ausgang war zugeschüttet, wir waren von der Außenwelt abgeschnitten.

Die Keller waren Orte der Angst

Obwohl ich erst drei Jahre alt war, hat mich diese Erfahrung so geprägt, dass ich eine Kellerphobie entwickelt habe. Ich kann zwar noch in Keller gehen, aber nicht allein, es muss immer jemand mit mir gehen. Ich weiß nicht, wie lange es damals gedauert hat, bis Hilfe kam.

Ich erinnere mich, dass Nachbarn meiner Mutter und meiner Schwester halfen und dass mich ein Soldat auf den Arm nahm und nach draußen trug. Er murmelte beruhigende Worte. Ich hörte ihm kaum zu, denn ich fand seine Umarmung unangenehm, weil seine Orden mich drückten.

Als wir wieder im Freien waren, erfuhren wir, dass das Nachbarhaus komplett zerstört war und dass das nette ältere Ehepaar, mit dem ich eben noch gespielt hatte, unter den Trümmern ums Leben gekommen war.

Unser Haus stand zwar noch, aber es gab viele Schäden, alle Fensterscheiben waren zerborsten, im Grunde war es nicht mehr bewohnbar.

Ich weiß nicht, wie mein Vater es geschafft hat, aber er sorgte dafür, dass wir nach Bayern umziehen konnten. In aller Eile packte meine Mutter ein paar Sachen zusammen, unter anderem das Silberbesteck und eine edle Tischdecke. Bepackt mit Rucksack und einem Koffer machte sie sich mit uns auf den Weg.

Meine Schwester, die erst ein halbes Jahr alt war, trug sie auf dem Arm, ich lief neben den beiden her. Der Fußweg zum Bahnhof war nicht weit, aber überall lagen Trümmer, obwohl zu dieser Zeit nach den Bombenangriffen noch schnell aufgeräumt und mit Aufbauarbeiten begonnen wurde. Später wurde Düsseldorf so oft bombardiert, mit so verheerenden Schäden, dass an Wiederaufbau nicht mehr zu denken war.

Leben als Evakuierte in Bayern

Wie durch ein Wunder kamen wir heil in einem kleinen bayerischen Dorf an: Kleinbardorf. Wir wurden auf einem Bauernhof einquartiert. Als Großstädter hatten wir so etwas noch nie gesehen. Die Bauersleute begrüßten uns freundlich auf ihrem großen Hof und wiesen uns ein Zimmer zu. Das Zimmer lag genau über der Jauchegrube, es war klein und nur spärlich möbliert, aber wir waren froh, wieder ein Dach über dem Kopf zu haben und hofften, dass wir hier von diesen ständigen Alarmen und Angriffen verschont bleiben würden.

Das Leben auf dem Land mit dem Tagesrhythmus, den Geräuschen, den Gerüchen und natürlich auch der Art der Arbeit war für uns natürlich vollkommen ungewohnt und fremd. Meine Mutter, die früher Mode verkauft hatte, fand sich auf einem Feld wieder und grub stundenlang Kartoffeln aus. Brot wurde in einem großen Ofen gebacken. Als Belag gab es Rahm von gekochter Milch und Zucker oder Pflaumenmus mit Steinen. Aber wir waren dankbar, überhaupt etwas zum Essen zu bekommen. Wenn geschlachtet wurde, auch das war für eine erschreckende neue Erfahrung, bekamen wir unseren Anteil.

In der Umgebung gab es nichts außer Landwirtschaft. Ein kleiner Weiher bildete das Zentrum des Dorfes. Hier tummelten sich Enten, Gänse, Frösche, Libellen und unzählige Fliegen. Mir ist vor allem noch der allgegenwärtige Gestank in Erinnerung.

Vom Dorf in die Kleinstadt

Nach einigen Monaten zogen wir in die nächstgelegene Kreisstadt Königshofen. Hier gab es Geschäfte, ein Kino, eine Schule, eine Kirche, ein Kloster und sogar ein Hotel. Heute heißt der Ort Bad Königshofen, es ist ein Kurort geworden. Wir wurden in eine Zweizimmerwohnung zwangseingewiesen, die aus einer Wohnküche und einem Wohnschlafzimmer bestand. Die Gemeinschaftstoilette befand sich eine Etage tiefer. Mir grauste immer vor dem Toilettengang, weil auch Mäuse und Ratten das Haus bevölkerten. Abends war es am schlimmsten. Das Treppenhaus war nicht beleuchtet, im Schatten sah man die kleinen Nagetiere huschen.

Die Besitzer des Hauses waren alles andere als begeistert davon, ihren Wohnraum mit fremden Menschen teilen zu müssen. Das zeigten sie uns auch deutlich, sie sprachen kaum mit uns und tuschelten hinter unserem Rücken. „Die da aus Nordrhein-Westfalen“ hieß es dann. Tatsächlich lebten in der Region Mainfranken viele Düsseldorfer Frauen mit ihren Kindern. Die Stadt Düsseldorf hatte in Marktheidenfeld eine Barackensiedlung inklusive Kindergarten und Schule errichten lassen. Wir waren jedenfalls froh, etwas mehr Platz zu haben.

Unsere beiden Wohnräume waren nur mit dem Nötigsten möbliert. Meine Mutter genoss es, wieder mehr Gesellschaft um sich herum zu haben. Sie freundete sich mit einigen Frauen aus Düsseldorf an. Oft saßen sie abends zusammen, warteten auf das Ende des Krieges und auf die Rückkehr ihrer Männer. Manchmal wurden auch Filme gezeigt.

Hans Söhnker, Johannes Heesters und Marika Rökk. Meine Mutter war von Natur aus ein fröhlicher Mensch, aber das Leben so weit weg von ihrem Zuhause drückte sie nieder. Uns zuliebe versuchte sie tapfer, zuversichtlich zu sein und uns Sicherheit zu geben und ihrem unendlichen Heimweh nicht zu sehr nachzugeben. „Heimat, deine Sterne“ wurde zum Lieblingslied meiner Mutter. Wann immer ich dieses Lied heute höre, sehe ich sie vor mir, wie sie dasaß und uns mit traurigem Lächeln ansah.

Mutters Lieblingslied

Heimat deine Sterne, sie strahlen mir auch am fernen Ort.

Was sie sagen, deute ich ja so gerne,

als der Liebe zärtliches Losungswort.

Schöne Abendstunde, der Himmel ist wie ein Diamant.

Tausend Sterne stehen in weiter Runde,

von der Liebsten freundlich mir zugesandt.

Berge und Buchten vom Nordlicht umglänzt,

Golfe des Südens von Reben begrenzt.

Ost und West hab ich durchmessen,

doch die Heimat nicht vergessen.

Hörst du mein Lied in der Ferne.

Heimat.

Heimat deine Sterne, sie strahlen mir auch am fernen Ort.

Was sie sagen, deute ich ja so gerne,

als der Liebe zärtliches Losungswort.

Schöne Abendstunde, der Himmel ist wie ein Diamant.

Tausend Sterne stehen in weiter Runde,

von der Liebsten freundlich mir zugesandt.

In der Ferne träum ich vom Heimatland.

Gelegentlich erreichten uns Nachrichten aus Düsseldorf. Wir erfuhren, dass bei einem schweren Angriff unser Wohnhaus völlig zerstört worden war. Mittlerweile lag die Stadt zur Hälfte in Schutt und Asche, viele Menschen starben oder wurden verletzt, immer mehr Menschen suchten Schutz in anderen Regionen.

Auch aus der Familie gab es schlimme Nachrichten, Onkel Günter, der Schwager meines Vaters, war mit dem „Fieseler Storch“, das Standard-Kurier- und Verbindungsflugzeug der Luftwaffe, abgestürzt.

Wir hatten geglaubt, in einer bayerischen Kleinstadt in Sicherheit zu sein, aber auch in Königshofen blieben wir von Bombenangriffen nicht verschont.

Erlebnisse, die sich ins Gedächtnis eingebrannt haben

Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Begebenheit als ich fünf Jahre alt war. Ich hatte Scharlach und durfte wegen der Ansteckungsgefahr nicht in den Bunker und so mussten wir alle drei in der Wohnung bleiben.

Wir lagen voller Angst auf unserem Bett, das wir uns zu dritt teilten. Wir hörten den ohrenbetäubenden Lärm und zogen uns die Decke über den Kopf. Um uns herum zerbarsten die Fensterscheiben. Unsere Mutter warf sich beschützend über uns, wie eine Henne, die ihre Küken retten will. Bis heute rührt mich diese Geste, die im Ernstfall mit Sicherheit wirkungslos geblieben wäre. Aber sie zeigt den Mut und die Entschlossenheit unserer Mutter.

In diesem Zusammenhang kann ich mich an zwei Ereignisse besonders gut erinnern. Ich war inzwischen sechs Jahre alt, meine Schwester drei. Wir hatten kaum etwas zu essen, die Versorgung mit Lebensmitteln war längst nicht ausreichend. Auch die Marken, die wir zugeteilt bekamen, halfen uns gar nichts, wenn wir stundenlang vor einer Bäckerei anstanden und in dem Moment, als wir an die Reihe kamen, das Brot ausverkauft war. Nicht selten bekamen wir zum Abendbrot nur ein Glas Wasser, damit der Magen nicht so knurrte.

Aber unsere Mutter wusste sich zu helfen. Sie tauschte unsere wenigen Habseligkeiten gegen einen kleinen Vorrat Lebensmittel ein. Hier zahlte es sich aus, dass sie bei unserer Flucht aus Düsseldorf das Silberbesteck mitgenommen hatte. Meine Mutter schulterte ihren Rucksack und machte sich auf den Weg in eines der umliegenden Dörfer, um bei den Bauern einzelne Besteckteile gegen etwas Essbares einzutauschen. Sie legte auf solchen Wanderungen nicht selten mehr als 20 Kilometer zurück. „Hamstertouren“ nannte sie ihre Ausflüge. Ich kümmerte mich während dieser Zeiten um meine kleine Schwester.

Eines Tages brachte unsere Mutter uns in die Nähe des Eingangs vom Bunker. „Ich gehe auf Hamstertour“, erklärte sie. „Sobald ein Alarm kommt, geht Ihr sofort in den Bunker!“

Ich sah, wie sie auch mit dem Bunkerwart sprach, während sie auf uns deutete. Der Bunkerwart nickte. Es kam, wie es kommen musste: Meine Mutter war bereits seit Stunden unterwegs, als Fliegeralarm ertönte. Sofort kamen die Menschen aus allen Richtungen, rannten an uns vorbei und verschwanden im Bunker.

„Wir warten auf die Mama!“ sagte ich zu meiner Schwester. Ich rechnete damit, dass meine Mutter jeden Augenblick zurückkehren würde. Sie war schließlich ganz allein da draußen, ich hatte große Angst um sie. Der Bunkerwart rief uns: „Kommt Ihr?“ – „Wir warten noch!“ behauptete ich tapfer.

Inzwischen hatte meine Schwester zu weinen begonnen. Die Straßen waren menschenleer, ganz allein standen wir Hand in Hand vor dem Bunker. Verzweifelt starrte ich auf die Landstraße, unsere Mutter müsste doch jeden Augenblick dort auftauchen. Vor lauter Angst und Sorge begann schließlich auch ich zu weinen. Hinter uns öffnete sich eine Tür und der Bunkerwart zog uns buchstäblich im letzten Moment in den Schutzraum, kurz darauf schlug in unmittelbarer Nähe eine Bombe ein.

Später erfuhren wir, dass unsere Mutter auf dem Rückweg von dem Angriff überrascht worden war. Sie hatte sich kurzerhand bäuchlings in einen Straßengraben geworfen, neben sich den Rucksack mit Butter, Eiern und einer Speckseite. Wie mutig sie war!

Und noch ein anderes Erlebnis hat sich regelrecht in mein Gedächtnis eingebrannt. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Bilder deutlich vor mir. Wieder ertönte mitten in der Nacht Alarm. Wir schlüpften so schnell wir konnten in Jacke und Hausschuhe und rannten los. Während ich hinter meiner Mutter herstolperte, starrte ich mit großen Augen in den Himmel. In dem Moment stürzte ein brennendes Flugzeug ab. Ich blieb wie angewurzelt stehen, vor Angst war ich wie betäubt. Meine Mutter zog mich hinter sich her, ich verlor dabei meine kostbaren Hausschuhe und rannte auf Socken hinter ihr her.

Ich kann nur immer wieder betonen, dass es ein Wunder war, dass wir all diese Situationen unverletzt überstanden haben. Während dieser schweren Kriegstage hatte meine Mutter auch noch einen schlimmen Unfall. In der Wohnküche unserer Zweizimmer-Wohnung stand unter anderem ein wackeliger Gaskocher. Wie oft schärfte sie uns ein, dass wir nicht gegen den Gaskocher stoßen dürften, weil dieser sonst umfallen könnte.

An jenem Tag hatte meine Mutter eine Hühnersuppe aufgesetzt und widmete sich anschließend der Hausarbeit. Kurz vor dem Mittagessen wischte sie den Küchenboden, stieß rückwärts gegen den Kocher, dieser fiel um und die kochende Hühnersuppe ergoss sich über meine Mutter. Ihre Schmerzensschreie waren in der ganzen Nachbarschaft zu hören. Es war ganz furchtbar. Da das Krankenhaus größtenteils zerstört war, versorgten die Nonnen des Krankenhauses meine Mutter zu Hause. Lange musste sie das Bett hüten. So gut ich es mit meinen sechs Jahren vermochte, versorgte ich Mutter und Schwester.

Immer, wenn ich an diese Zeit denke, bin ich voller Bewunderung für meine Mutter. Ihr Leben hatte ganz anders begonnen, sie kam aus gutem Hause, hatte bis Kriegsbeginn ein privilegiertes Leben in der Großstadt geführt und von einem Tag auf den anderen war sie in eine völlig andere Existenz geworfen worden. Sie verrichtete Feldarbeit, betrieb Tauschhandel, schützte ihre Kinder und gab unserem Alltag durch ihre Haltung Stabilität. Sie, die daran gewöhnt war, großzügig zu haushalten, musste plötzlich sparen. Und es gelang ihr sogar, aus der Not eine Tugend zu machen. Sie ging sehr kreativ mit den wenigen Lebensmitteln und auch mit gesammelten Pflanzen um.

Erinnerungen an die Mutter

Es war eine schlimme Zeit, aber dank der Fürsorge meiner Mutter haben wir auch diese Zeiten überstanden. Für alles, was sie für uns getan und erlitten hast, danke ich ihr.

Ich habe aber auch Erniedrigungen als Kind erfahren müssen. Ich weiß nicht, warum man so mit mir umging, vielleicht hatten sich meine Eltern als erstes Kind einen Stammhalter gewünscht und waren enttäuscht, dass ich ein Mädchen war. Jedenfalls litt ich während meiner ganzen Kindheit darunter. Meine Schwester war der Liebling meiner Eltern und der Sonnenschein unserer Großeltern väterlicherseits. Ich tat alles, um die Gunst meiner Mutter zu erwirken. Das Bemühen um mütterliche Anerkennung wurde wenigstens mit dem Slogan belohnt, der mich durch mein ganzes Leben begleitete: „Liebe Helga, gutes Kind!“

(1) Als Zweiter Weltkrieg (1939 – 1945) wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er am 1. September 1939 mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen. …

Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945.

Quelle: wikipedia

(2) Die Novemberpogrome 1938 – bezogen auf die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 (auch Reichskristallnacht oder Kristallnacht, Jahrzehnte später Reichspogromnacht genannt) waren vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden im Deutschen Reich. Dabei wurden zwischen dem 7. und 13. November im ganzen Reichsgebiet mehrere hundert Juden ermordet, mindestens 300 nahmen sich das Leben. Um die 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume jüdischer Menschen sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden gestürmt und zerstört. Ab dem 10. November folgten Deportationen jüdischer Menschen in Konzentrationslager. Mindestens 30.000 Menschen wurden dabei interniert. Hunderte starben an den Folgen der mörderischen Haftbedingungen oder wurden hingerichtet.

Quelle: wikipedia

Auzug aus „Liebe Helga – gutes Kind“, erzählt von Helga B., aufgeschrieben von Susanne H.(2017), bearbeitet von Barbara H. (2023)

Foto: Stadtmuseum Düsseldorf

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