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Ich hatte keine Wahl...

Klaus-Dieter C. wurde 1935 in Leipzig geboren, wie seine Schwester Sigrid. Die Eltern kamen ursprünglich aus Lübeck, wo auch eine seiner beiden Schwestern, Gisela, noch geboren worden war. Der Vater war von Berufs wegen mit der Familie umgezogen und es ging ihnen finanziell recht gut. Klaus-Dieter erlebt echten Familienzusammenhalt und sagt von seiner Mutter: „… war ein cleveres Mädchen, sie hat viel bewegt.“



Klaus-Dieter besuchte in Leipzig die Schule. Diese Zeit empfand er „nicht so prickelnd“, weshalb er sich mehr sportlichen Aktivitäten zuwandte. Beim Hockey hatte er richtig Spaß. Zum Wochenende konnte seine Mannschaft rausfahren. Auf einer dieser Fahrten, die sie sogar in den Westen nach Heidelberg führte, passierte es: Trotz völliger Beobachtung von Männern der Partei SED (1) oder Stasi war einer seiner Sportkollegen in den Westen abgehauen. Er beschreibt die Folgen.


Harte Arbeit im Ferienjob

Die Heimfahrt verzögerte sich und dadurch kamen alle Mannschaftsmitglieder später als geplant wieder nach Leipzig. Ich war in der Abschlussklasse und die Fahrt hatte kurz vor dem Abitur stattgefunden. Die Abiturprüfung hatte bereits angefangen, als ich in die Schule kam. Ich erfuhr dann, dass ich nicht zur Prüfung zugelassen worden war. Sie hatten mich rausgeschmissen. Das konnte damals jeder einfach machen. Meine Mutter, die damals bei der Stadt beschäftigt war, hatte dagegen Protest eingelegt, aber es war nichts zu machen. Das war das Ende der Fahnenstange. Ich habe lediglich eine Bescheinigung gekriegt, dass ich das Schuljahr absolviert hatte und fertig. Jetzt war ich dadurch natürlich völlig von der Rolle. Meine Mutter holte sich deshalb bei meinem Patenonkel aus Hamburg Rat, wie es nun mit mir weiter gehen könne. Er war ein cleverer Geschäftsmann und sagte: „Der Junge muss einen Beruf lernen. Wichtig ist, dass er eine Grundlage hat.“ Ich habe natürlich versucht, einen Studienplatz zu kriegen, aber da wurde ich nur ausgelacht. Auch eine Lehrstelle kriegte ich nicht.


Meine Mutter besorgte mir dann erst einmal in einer Stahlbaufirma einen Ferienjob. Da ging ich die ganzen Ferien arbeiten. Das war eine ganz schön harte Arbeit und sehr dreckig, aber ich hatte schon mal Arbeitsluft geschnuppert. Das war eigentlich gar nicht so verkehrt, vor allen Dingen, weil es ein Metier war, das ich bis dahin überhaupt noch nicht kannte.


Es war der 17. Juni 1953 (2) in dieser Stahlbaufirma, da sagten meine Kollegen zu mir – nette Kollegen übrigens - : „Junge, pack‘ deine Sachen ein, wir gehen in die Stadt.“ Ich wusste von gar nichts, aber unterwegs trafen wir schon einen ganzen Treck Menschen. Da war nicht nur unsere ganze Firma unterwegs, sondern auch viele Menschen von anderen Firmen. Wir gingen bestimmt zwei Stunden, bis wir auf dem Marktplatz ankamen, auf dem sich alle trafen. Meine Kollegen wussten vom Hörensagen von diesem Treffpunkt. Ich hatte bis dahin immer noch keine rechte Ahnung, was überhaupt los war. Plötzlich rollten mitten auf den Marktplatz russische Panzer an. In der Menschenmenge kam dadurch ein bisschen Tumult auf und auf einmal gab es eine Schnellfeuergewehrgarbe. Ich stand da in einem Trümmergrundstück, zwei Häuser weiter vom ehemaligen Geschäft meines Vaters. Das lag auch in Trümmern, denn auf dem Marktplatz standen generell nicht mehr viele Gebäude. Nachdem der zweite Schuss fiel, machte ich nur noch einen Satz hinter die Trümmermauer und verkrümelte mich schnell in Richtung nach Hause. Erst später habe ich erfahren, dass dies ein Protestzug war, der im Zusammenhang stand mit dem Aufstand am gleichen Tag in Ostberlin.


Maschinenschlosserlehre, obwohl ich nicht der große Handwerker war

Wieder über das Amt konnte mir meine Mutter dann doch noch eine Lehrstelle besorgen. Das war ein Ausbildungsbetrieb, der nur Lehrlinge hatte und an eine Werkzeugmaschinenfabrik angegliedert war. Dort habe ich Maschinenschlosser gelernt. Die Firma hat mich ungern bei sich aufgenommen, weil sie früher schlechte Erfahrungen mit Leuten von der Sporthochschule gemacht hatte. Da die Leute von da älter als die Schulabgänger waren, hatten die wohl immer irgendwelche Vergünstigungen gewollt, zum Beispiel in der Berufsschule keinen Deutsch- und Mathematikunterricht zu machen. Einen von diesen Typen, mit dem der Lehrbetrieb schlechte Erfahrungen gemacht hatte, habe ich kennen gelernt. Er war ein Lehrjahr weiter als ich und hat mich auch darauf gebracht, Vergünstigungen zu fordern. Ich habe das aber nicht gemacht. Dennoch hatte ich Zoff mit der Deutschlehrerin. Sie wollte mir im ersten Halbjahreszeugnis eine Zwei geben, aber Deutsch war bei mir gerade das verkehrte Fach dafür. In Deutsch war ich wirklich nicht schlecht und habe deshalb gesagt: „Also, das geht beim besten Willen nicht.“ Ich habe diese Zensur also beanstandet und mein Zeugnis wurde daraufhin tatsächlich korrigiert. Das habe ich sogar heute noch irgendwo liegen.


Die Berufsschule war im Lehrwerk mit integriert. Ich habe dort also gearbeitet und bin zur Schule gegangen. Ich war nicht sehr praktisch veranlagt, aber bei der Lehrstelle hatte ich ja gar keine Wahl gehabt. Ich habe zwar ab und zu an meinem Fahrrad herumgewerkelt, aber der ganz große Handwerker war ich nicht. Im Nachhinein wäre mir ein Beruf mit Holz lieber gewesen, aber es ist ja trotzdem alles gut gegangen und ich hatte dann auch Spaß an der Lehre.


Als Ausbilder wurden damals alle möglichen Leute rekrutiert. Der Ausbilder, den ich hatte, war zum Beispiel ein Matrose. Er hatte wohl auch eine Ausbildung als Maschinenschlosser und weil die Firma niemand anderen hatte, haben sie uns den hingesetzt. Nach dem Krieg wurden ja alle rausgeschmissen, die irgendetwas mit der Nazivergangenheit zu tun hatten. Da blieben also nicht mehr viele Leute übrig. Mit unserem Ausbilder habe ich mich aber ganz gut verstanden. Als Lehrling musste man beispielsweise ein Berichtsheft über die erlernten Tätigkeiten führen. Jede Ausbildungswoche wurde darin, möglichst mit Skizzen und Zeichnungen, zu Papier gebracht. Dieses Heft war sehr wichtig und wurde zensiert. Es wurde sehr starken Wert darauf gelegt, dass dieses Heft ordentlich war. Unser Ausbilder gab mir dann die Aufgabe, die Berichtshefte von den anderen Jungs zu korrigieren, denn er selbst konnte kein Deutsch. Ich habe mich dann zu ihm ins Büro gesetzt und dort die Berichtshefte korrigiert. Das war wunderbar! Ich habe das alles sehr gut gemacht, denn ich war ja nicht blöd.


Auf diese Art und Weise bin ich also gut durch die Berufsschule gekommen, obwohl ich älter war. Zwischen mir und den anderen Lehrlingen waren ja vier Jahre Altersunterschied. Trotzdem hatte ich aber einen guten Kontakt mit ihnen und habe ihnen auch schon mal geholfen. Wenn zum Beispiel mal ein Werkstück kaputt ging und nicht mehr zu retten war, habe ich ein neues besorgt. Für die Mitlehrlinge hatte ich natürlich ein bisschen Vorbildfunktion, denn ich war genau das Gegenteil von dem, was mein Vorgänger aus der Hochschule gemacht hatte. Das ging also alles ganz gut.


Mein Meister war Meister für alle Lehrlinge im ersten Lehrjahr. Das war ein Kerl! Unsere Werkstatt war riesenlang und wenn er die Stimme erhob, kroch selbst am letzten Ende der Werkstatt alles unter die Werkbank, denn dann wurde es gefährlich. Das kam zwar selten vor, aber wenn, dann hat es richtig gedonnert. Mich hat er auch schon mal zusammen gebrüllt, aber trotzdem hatte ich bei ihm einen Stein im Brett. Einmal kam er auf mich zu. Er wusste, dass ich rauche, und meinte: „Hier hast den Schlüssel für die Meistertoilette, aber das erfährt mir keiner!“ Da durfte ich auf der Toilette rauchen.


Die Lehre dauerte zwei Jahre, was damals die übliche Dauer war. Wer das in der Zeit nicht schaffte, durfte auch länger machen, aber der Lernstoff wurde so komprimiert, dass es in den zwei Jahren ganz gut zu schaffen war. Das reichte eigentlich auch den jüngeren Lehrlingen, wenn die sich ein bisschen zusammen gerissen haben. Im ersten Lehrjahr kriegte ich eine Grundausbildung, in der ich also alle Grundfertigkeiten lernte. Im zweiten Lehrjahr wurden diese Fertigkeiten dann ausgeweitet. Unsere Stammfirma baute Werkzeugprüfmaschinen. Als ich im zweiten Lehrjahr war, wurde der Werkzeugprüfmaschinenbau von meiner Lehrwerkstatt, einer Kranbaufirma, übernommen. Wir fertigten und montierten dann für die Werkstattprüfmaschinen die Teile. In den letzten Monaten der Ausbildung durften wir das selber machen. Das war das Tollste! Diese Werkzeugprüfmaschinen waren nicht sehr groß, bestanden aber aus ziemlich diffizilen Teilen. Im Prinzip war das schon fast Feinmechanik.


Meine Ausbildung war also eigentlich ganz in Ordnung und ich bin dort ganz gut raus gekommen. Zu DDR-Zeiten konnte man nach der Lehre allerdings nicht selbst entscheiden, was man machen oder in welche Firma man gehen wollte. Das gab es nicht, sondern das wurde alles reglementiert und und ich konnte mir nichts selbst aussuchen. Es wurde deshalb festgelegt, dass ich in eine Kranbaufirma übernommen wurde und diese Arbeit war ganz schön heftig.


Als Geselle im Kirow-Werk

Die Kranbaufirma, in der ich als Geselle arbeitete, hieß Kirow-Werk. Das war eine ganz bekannte, sogar weltbekannte Firma, die für die Russen produzierte. Das Werk war eine ziemlich große und sehr hohe Halle, in der vorwiegend Portalkräne hergestellt wurden. Das sind Kräne, die oben auf seitlichen Schienen, an einer sogenannten Katze, laufen. Rechts und links befindet sich ein Stahlträger und darüber eine Traverse und ein Häuschen. An der Traverse ist unten ein Kranhaken, mit dem man eine Last hochziehen und verteilen kann. Wir bauten Kräne, die bis zu 50 Tonnen ziehen konnten.


Ich kam beim Kirow-Werk zu einem etwas mürrischen, wortkargen, alten Mann. Er war sogar sehr wortkarg, aber trotzdem ein Tausendprozentiger. Die Firma war im Westen Leipzigs und er kam vom anderen Ende der Stadt. Das war also richtig weit weg und er musste immer mit dem Bus und dann die ganze Straßenbahnlinie fahren. Am Anfang hatte er nichts zum Arbeiten für mich und ich machte ein paar Tage gar nichts. Irgendwann sagte er dann aber: „Heute kriegen wir was.“ Und dann bekamen wir eine Winde. Das ist ein Rad, in dem die Seile laufen, damit man den Kranhaken hoch und runter holen kann. Diese Winde besteht aus Seilrollen, großen Seitenteilen und unten einem Art Bolzen, in dem der Haken dranhängt. Die Welle war das Kernteil der ganzen Sache und war geschliffen. Sie war sehr empfindlich und musste von Hand eingepresst werden, was heute undenkbar ist. So etwas geht nur mindestens zu zweit und das hat dieser Mann mir beigebracht. Er hat das sogar auch alleine gemacht, was allerdings ein bisschen schwierig war. Nachdem wir das ein paar mal zusammen gemacht hatten, ließ er mich damit alleine. Obwohl das eine riesige Halle war, hatten wir nur einen ganz kleinen Platz, aber für die paar Teile brauchten wir auch nicht viel.


Dieser wortkarge Mann war mit dem Meister der ganzen Halle eng verbunden. Dieser war nicht nur ein Tausendprozentiger, sondern ein Zehntausendprozentiger. Er war, wie der Meister während meiner Lehre, auch so ein lauter Mensch. Er hat sich oft oben auf die Galerie der Halle gestellt, wo er sein Büro hatte, und dann hat er einen in der hintersten Ecke der Halle angesprochen. Seine Stimme erinnert mich an den einen Mann aus dem amerikanischen Film „The Voice“ - Die Stimme. Mein Meister brüllte also den ganzen Konzernhof zusammen. Er hatte außerdem riesige Hände und Arme. Wenn man den sah, war das schon furchterregend. Nichtsdestotrotz hatte er ein ganz weiches Herz und konnte mich, gleich von Anfang an, ganz gut leiden. Es dauerte deshalb auch gar nicht lange, dass ich in dem Betrieb selbständig arbeiten durfte.


Von Demokratie keine Spur

Eines Tages rief mein Meister mich zu sich hoch ins Büro: „C., du warst doch in der Schule und bist bei der FDJ (3). Du kommst in die Partei!“ Er kannte meine Lebensgeschichte, denn das wurde ja alles von der Partei und vom Staat weiter gereicht. Angefangen bei der Schule bis hin zur Firma wurden alle Informationen über mich weitergegeben. Alles war total vernetzt und der Staat war über alles und jeden Weg, den man ging, informiert. Der Staat wusste auch alles von zu Hause aus den Wohnungen, denn in jedem größeren Haus gab es Hausbeauftragte, die alles was im Haus passierte, weitergaben. Über dem Hausbeauftragten stand der Straßenbeauftrage. Es kam darauf an, wie groß die Straße war, manchmal gab es auch mehrere Beauftragte pro Straße. Noch eine Ebene höher gab es dann einen Bezirksbeauftragten und so weiter. Zumindest wusste mein Meister hundertprozentig über mich Bescheid.


Ich wurde also gar nicht gefragt, sondern der Parteieintritt war Fakt. Für mich war das allerdings ein rotes Tuch. Ganz so einfach funktionierte der Parteieintritt dann doch nicht, denn man musste vorher erst Kandidat der Partei werden. Das war eine Vorstufe, sozusagen als Prüfzeit. Da musste man aber schon alles mitmachen, was so lief. Ich hatte keine Lust dazu, aber wenn ich nicht eingetreten wäre, wäre ich auf Arbeit rausgeflogen. Ich kannte diese Schicksale. Zum Beispiel ging es zwei meiner ehemaligen Mitlehrlingen so. Bei ihnen hatte das zwar andere Gründe, aber die wurden auch als Strafmaßnahmen in ein Straßenbahnausbesserungswerk verlegt. Zum Teil fand diese Arbeit unter freiem Himmel und immer in der Grube statt. Ich habe die beiden dort auch mal besucht und da haben sie ziemlich lange Gesichter gemacht.


Man hatte ja keine Arbeitsplatzwahl, so dass man entweder das machen musste was verlangt wurde, oder man wäre in den Westen abgehauen. Das System war eben so, von Demokratie keine Spur. Ich habe natürlich versucht, mich herauszureden, um nicht in die Partei zu müssen, aber ich kam nicht drum herum. Ich bin dann Kandidat der Partei geworden, zum Glück aber war das nur ganz kurz, denn mein Weg brachte mich als nächstes nach Berlin, aber das ist eine andere Geschichte...



(1) Die Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED) war eine marxistisch-lennistische Partei, die 1946 in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der Viersektorenstadt Berlin aus der Zwangsvereinigung von SPD und KPD hervorgegangen war und sich anschließend unter sowjetischem Einfluss zur Kader- und Staatspartei der 1949 gegründeten DDR entwickelte. Da die Verfassung der DDR seit 1968 den Führungsanspruch der SED festschrieb und deren Nomenklaturkader die Organe aller drei Gewalten, Legislative, Exekutive und Judikative, durchdrangen, war das politische System der DDR de facto eine Ein-Parteien-Herrschaft der SED. Neben der SED gab es noch einige Blockparteien, die den Anschein einer Mehrparteiendemokratie erwecken sollten.


(2) Als Aufstand vom 17. Juni 1953 wird der Aufstand bezeichnet, bei dem es in den Tagen um den 17. Juni 1953 in der DDR zu einer Welle von Streiks, Demonstrationen und Protesten kam, die mit politischen und wirtschaftlichen Forderungen verbunden waren. Er wurde von der Sowjetarmee gewaltsam niedergeschlagen; 34 Demonstranten und Zuschauer sowie fünf Angehörige von Sicherheitsorganen wurden getötet. Dieser Tag war von 1954 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990 als „Tag der deutschen Einheit“ der Nationalfeiertag der Bundesrepublik Deutschland; er ist weiterhin Gedenktag.


(3) Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) ist ein kommunistischer Jugendverband. In der DDR war die FDJ die einzige staatlich anerkannte und geförderte Jugendorganisation. Sie war als Massenorganisation Teil eines parallelen Erziehungssystems zur Schule. Die FDJ ist Mitglied im Weltbund der demokratischen Jugend und im internationalen Studentenbund. Nach dem Ende der DDR versank sie in der politischen Bedeutungslosigkeit. Die „FDJ in Westdeutschland“ ist seit 1954 als verfassungswidrige Organisation verboten, während die FDJ heute legal operieren kann.


Auszug aus „Ein Leben in Bewegung“, erzählt von Klaus-Dieter C., geschrieben von Alexandra P., Auszug von Barbara H.

Foto: Michael Gaida/Gentle 07 auf Pixabay

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