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Schulzeit in Schlesien und Pflichtjahr in Berlin

Ilse wurde 1925 in Seidenberg (1) in Schlesien (2) geboren. Als ihre Mutter verstarb, war sie neun Jahre alt. Sie wurde mit ihrer jüngeren Schwester vom Vater und zunächst von der Großmutter, dann später von der Stiefmutter, großgezogen. Nach der Vertreibung führte sie das Schicksal nach Lautawerk (3), wo sie 1947 beim Faschingstanz ihren späteren Mann kennenlernte. Als er sich drei Jahre später nach Westdeutschland absetzte, folgte sie ihm wenige Monate später nach Krefeld, von wo aus sie, nach ihrer Heirat 1952, gemeinsam die ganze Welt bereisten.



Mit blondem Bubikopf in die Volksschule

Als ich 1931 eingeschult wurde, hatte ich noch einen blonden Bubikopf. Später trug ich, wie die meisten Mädchen, lange Zöpfe. Bis zum zehnten Lebensjahr besuchte ich die Volksschule in Seidenberg. Die Klassen in der Volksschule waren mit mindestens 30 Schülerinnen und Schülern recht groß, denn auch die Kinder aus den umliegenden Ortschaften besuchten die Grundschule in Seidenberg.


Fachunterricht an der Mittelschule mit Omas Unterstützung

Nach der Grundschule wechselte ich auf die Mittelschule. Hier waren die Klassen bedeutend kleiner. Gerade einmal sechs Schülerinnen und vier Schüler bildeten eine Klasse. Wir waren allerdings immer mit einer anderen Klasse zusammen, entweder mit dem Jahrgang unter uns oder mit dem Jahrgang über uns. 1937 war unsere Klasse recht groß, weil zwei Jahrgänge der Mittelschule zusammengelegt worden waren.


In unserer Mittelschulklasse hatten wir auch einen Mitschüler, der bei Nachbarn gegenüber als Gastkind wohnte. Weil er wegen der großen Entfernung zwischen Elternhaus und Schule diese nicht hätte besuchen können, wurde er bei Gasteltern im Schulort untergebracht.

Im Gegensatz zur Volksschule, wo wir in jeder Klasse von einer einzigen Lehrkraft unterrichtet wurden, lernten wir nun auf der Mittelschule Fachlehrer kennen. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir auch zusätzlich einen Klassenlehrer gehabt haben.


In der Schule mussten wir im Handarbeitsunterricht auch nähen. Manchmal nähte meine Großmutter für mich zuhause die Sachen, die ich eigentlich in der Schule anfertigen sollte.


Jede Menge Streiche – Kletten, Stifte, Mädchenzöpfe

Wir ärgerten die Lehrer oft und spielten ihnen Streiche. Wenn sie uns Schülern den Rücken zukehrten, warfen wir ihnen Kletten auf die Rückseite der Kleidung. Einmal – ich erinnere mich heute noch gut daran – warfen wir aus unserem Klassenzimmer im zweiten Stock all unsere Stifte aus dem Fenster. Der Lehrer war ganz verärgert darüber und ließ uns während der Unterrichtsstunde die Stifte wieder vom Schulhof heraufholen. Dabei waren wir natürlich sehr laut. Wir waren so laut, dass sich die Türen der anderen Klassenzimmer öffneten und die Lehrer fragten „Was ist denn hier los? Was ist das für ein Krach?“ Mit diesem Streich ersparten wir uns viel Unterrichtszeit.


Aber auch untereinander spielten wir uns Streiche. Im Klassenzimmer waren die Heizungsrohre an den Wänden auf dem Putz verlegt. Einmal banden wir eine Mitschülerin mit ihren Zöpfen an diese Heizungsrohre. Als der Lehrer in die Klasse kam, konnte sie sich nicht auf ihren Platz setzen. Die Zöpfe waren so fest an die Heizungsrohre gebunden, dass das Mädchen sich nicht mehr rechtzeitig befreien konnte.


Im Krieg war unsere Schule ein Lazarett

Als der Krieg ausbrach, mussten wir das Gebäude der Mittelschule räumen, denn dort wurde ein Lazarett eingerichtet. Der Unterricht wurde deshalb in verschiedenen anderen Gebäuden abgehalten. Meine Klasse wurde hauptsächlich im HJ-Heim (4), unserem Jugendheim, unterrichtet. Auch in den Nebenräumen einer großen Turnhalle fand Unterricht statt. Manchmal musste man zwischen den verschiedenen Unterrichtsstätten wechseln. Ich war froh, dass wir hauptsächlich im HJ-Heim unterrichtet wurden, denn wenn ich den Hinterausgang des Heims benutzte, war ich nach ein paar Schritten zuhause.


Pflichtjahr: Um Haushalt und Kinder kümmern

Die Mittelschule schloss ich mit der Mittleren Reife ab. Für die Prüfung der Mittleren Reife kamen extra externe Prüfbeamte in die Schule. Nach der Mittleren Reife musste man entweder das Pflichtjahr (5) absolvieren oder zum Reichsarbeitsdienst. Im Pflichtjahr verdiente ich monatlich 60 Mark.


Ich konnte mein Pflichtjahr in Berlin ableisten. Meine Großmutter vermittelte mir diese Stelle in einer Familie. Der Familienvater hatte eine Position im Auswärtigen Amt. Ganz allein war ich nicht in dieser großen Stadt, denn ein Mädchen, welches in der Schule eine Klasse über mir gewesen war, diente bereits bei einer anderen Familie in Berlin. Auch die Schwester meiner Mutter wohnte ganz in der Nähe in Klein-Machnow und kannte meine „Pflichtjahr-Familie“. Im Pflichtjahr musste ich im Haushalt helfen und mich um die Kinder kümmern. Die Kinder, das waren ein etwa zehnjähriger Junge und ein Mädchen, welches ein wenig jünger war als ich. Wenn ich frei hatte, ging ich zu meiner Tante und zu meinen beiden Cousinen und unternahm etwas mit ihnen. Sogar eine Hochzeit durfte ich miterleben.


Mein Pflichtjahr in Berlin gefiel mir eigentlich ganz gut, aber in der Hauptstadt bekam man natürlich viel mehr vom Krieg mit als in meiner ruhigen Heimatstadt Seidenberg, welche nahe der tschechischen Grenze zwischen Görlitz und Friedland lag. In Berlin gab es öfter Fliegeralarm. Dann musste man in den Keller und später wieder hinauf in die Wohnung. Wenn Fliegeralarm war, war man am Tag oft müde, denn man bekam viel zu wenig Schlaf. Wenn ich Pech hatte, ertönte der Fliegeralarm, wenn ich bei den Cousinen war. Dann durfte ich nicht bei ihnen bleiben, sondern musste in den Keller zu meiner Familie aus dem Pflichtjahr. Dann hieß es: Schnell das Fahrrad nehmen und sich anstrengen, um den Keller noch rechtzeitig zu erreichen! Ich hatte immer Glück!


(1) Zawidów (deutsch Seidenberg, obersorbisch Zawidow) ist eine Stadt im Powiat Zgorzelecki („Kreis Zgorzelec“) in der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien. Sie ist Mitglied der Euroregion Neiße.

Die Stadt liegt in Niederschlesien rechtsseitig des Grenzbaches Katzbach (Koci Potok) im Isergebirgsvorland, 16 Kilometer südlich von Görlitz/Zgorzelec unmittelbar an der Grenze zu Tschechien im polnischen Teil der Oberlausitz.

(2) Schlesien (schlesisch Schläsing, schlonsakisch Ślůnsk, sorbisch Šleska, polnisch Śląsk, tschechisch Slezsko, lateinisch Silesia) ist eine Region in Mitteleuropa beiderseits des Ober- und Mittellaufs der Oder und erstreckt sich im Süden entlang der Sudeten und Beskiden. Schlesien liegt nach Veränderungen in den Jahren 1922 und 1945 heute zum größten Teil in Polen. Ein kleiner Teil im Westen der früheren preußischen Provinz Niederschlesien gehört zu Deutschland, das Hultschiner Ländchen im südlichen Teil von Oberschlesien zu Tschechien.

(3) Lautawerk ist der Name einer Gemeinde und späteren Ortsteiles der Gemeinde Lauta. Lauta (sorbisch Łuty) ist eine Kleinstadt im Norden des sächsischen Landkreises Bautzen. Lauta gehört historisch zur Oberlausitz, wurde jedoch in der DDR, gleichsam wie Hoyerswerda, zur Niederlausitz gerechnet. Die umliegenden Ortschaften, wie Ruhland und Hoyerswerda, bekennen sich heute wieder zur historischen Oberlausitz. In Lauta wird die Zugehörigkeit zur Niederlausitz betont.


(4) Die Abkürzung HJ steht für: Hitlerjugend, die Jugendorganisation der NSDAP in Deutschland und Österreich zur Zeit des Nationalsozialismus.


(5) Das Pflichtjahr wurde 1938 von den Nationalsozialisten eingeführt. Es galt für alle Frauen unter 25 Jahren – sogenannte Pflichtjahrmädel/-mädchen – und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft. Es stand in Konkurrenz zum etablierten Landjahr sowie ab 1939 durch die Einführung des Reichsjugenddienstpflichtgesetzes zum Dienst im Rahmen des Reichsarbeitsdienstes. Dies betraf vor allem jene Jugendlichen, die bis dahin keiner Parteijugendorganisation angehörten und zudem auch keine Berufsausbildung absolvierten. Die Zwangsverpflichtung im RAD erfolgte dabei nach rein willkürlichen Richtlinien, ohne Rücksicht auf Interessen, Fähigkeiten oder Affinitäten jeglicher Art. Weder der Dienstort noch die Art der Tätigkeit standen dabei zur Auswahl.

Die Mädchen und Frauen sollten so auf ihre zukünftigen Rollen als Hausfrau und Mutter vorbereitet werden. Darüber hinaus konnte so in vielen Haushalten die fehlende Arbeitskraft der Männer, die als Soldaten im Krieg waren, kompensiert werden. Ausgenommen waren Frauen mit Kindern und Frauen, die ohnehin in diesen Bereichen arbeiteten. Ohne den Nachweis über das abgeleistete Pflichtjahr konnte keine Lehre oder anderweitige Ausbildung begonnen werden.

Auszug aus: „Von Schlesien an den Niederrhein – und weiter in die ganze Welt“, erzählt von Ilse und Horst W., geschrieben von Marlies S., bearbeitet von Uwe S.


Fotos: Bruno/Germany / Jaqueline Macou / Pixabay

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