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Schwester Fidelis war meine Rettung

Monika S., 1922 geboren, nennt die Zeit, in der sie im Saarland geboren wurde, eine wirre Zeit, allein schon wegen der wirtschaftlichen und finanziellen Veränderungen, die es damals gab. Ihre Familie war nicht arm, hatte „was an den Füßen“, wie sie so sagt. Der Vater war ein jähzorniger Schläger. Als er die Familie verließ, hat sie mit sechs Jahren gesagt: „Der Vogel ist ausgeflogen, Gott sei Dank.“ Als Monika zehn Jahre alt war, starb leider die geliebte Mutter, die ihr viel Gottvertrauen mitgegeben hatte.


Mein Ziel war Krankenschwester zu werden – Ein steiniger Weg

Ich bin das sechste und letzte Kind, meine älteste Schwester ist 13 Jahre älter gewesen als ich und sie war gar nicht einverstanden, dass ich noch gekommen bin. Nach dem Tod der Mutter kam ich zu Tante L., erlebte viele Ungerechtigkeiten und Krankheiten.

Mein Ziel war, Krankenschwester zu werden. 1937 gab die Tante mich in ein Internat in Mainz, das Monika-Haus. Da war ich 15 Jahre alt.


"Da lernst du etwas Besseres"

Das war eine staatlich anerkannte Haushaltungsschule, die einem Kloster angeschlossen war. Die Tante hatte gesagt: „Kind, ich lebe nicht mehr lang, ich geb‘ dich zu den Schwestern, da lernst du etwas Besseres.“ Da war ja die Nazizeit und da wurde überhaupt nicht gebetet. „Hier lernst du nichts Gutes!“, sagte die Tante. Sie wollte nicht, dass ich unter die Fittiche der SS (1) komme und hat gemeint: „Man kann denen nicht entfliehen, ich geb‘ dich weg, da bist du aus ‚de Füß.‘“ Meine Schwester I. war ja schon seit einem Jahr in dem Internat. Bei der Versteigerung unseres Hauses und der Grundstücke war nach Abzug der Schulden noch ein wenig Geld übrig geblieben. Dieses Geld hat die Tante L. dazu verwendet, meine Schwester I. und mich auf dieses Internat zu geben.


Auch hier passierten wieder Ungerechtigkeiten, aber es gab eine Schwester, an die denke ich heute immer noch jeden Tag, die hieß Schwester Fidelis. Die hatte einen goldenen Zahn und so komische Füße, deswegen ist sie auch bestimmt ins Kloster gegangen. Sie stammte aus dem Schwäbischen, aus Sigmaringen und war Arzthelferin bei einem Nervenarzt. Und die war schon ein bisschen clever und intelligent. An der hing ich wie an einer Mutter, und ich wäre nicht schlafen gegangen, ehe sie mir nicht das Kreuzchen auf die Stirn gemacht hat, und dann hat sie mich gestreichelt und ich bin selig schlafen gegangen. Das war meine Rettung, sie hat mich immer aufgerichtet.


Erst hieß es Geldverdienen

Als ich dann 1939 aus dem Internat kam, da musste ich mein Geld verdienen. Es war ja Krieg und ich hatte eine Stelle als „Haustochter mit Familienanschluss“. Ich erhielt 25 Mark Taschengeld. Beschäftigt war ich mit Kochen, Waschen, Bügeln, sieben Zimmer und großes Treppenhaus putzen sowie Keller und Speicher, Einkaufen mit Lebensmittelmarken, oft in langen Warteschlangen. Die Arbeit lief nicht weg dabei. Vor 23 Uhr kam ich nicht ins Bett. Die Stunden habe ich nie gezählt. Nach fast drei Jahren war ich schwermütig, untergewichtig, schwitzte unheimlich, weinte viel und wollte mich umbringen.


Mich plagten Gewissensbisse und die führten mich zur Beichte. Der Priester verlangte zur Buße, ich müsse sofort zum Arzt gehen. Nach erfolgter Behandlung war ich dann noch etwa ein Jahr in Saarbrücken im St. Josef-Kinderheim als Kinderbetreuerin.


Feierlich aufgenommen

Als ich mich später in der Krankenpflegeschule angemeldet habe, hat mir Pastor B. geholfen. „Ich schreibe Ihnen ein schönes Zeugnis, Sie sind ein braves Mädchen und Sie werden angenommen, da werde ich schon dafür sorgen.“ Na ja, also ich bin angenommen worden und absolvierte von 1943 bis 1945 die Krankenpflegeschule in Mainz im Hildegardis-Krankenhaus. Nach dem Examen im April 1945 wurde ich feierlich kirchlich in die „Reichsgemeinschaft freier Caritasschwestern“ aufgenommen.


Nichts wurde leichter

Doch es gab immer wieder Ungerechtigkeiten, wenig Geld, Ausbeutungen und schlechte Wohnverhältnisse in Rüsselsheim. Und es folgten Krankheiten. Dann sollte ich als OP-Hilfe arbeiten. Vor jeder OP musste ich Kreislaufmittel einnehmen, oft noch einmal während der OP, weil mir immer schlecht geworden ist. Die Operationen haben meist morgens um 6 Uhr angefangen, und ich kam erst tags zuvor um 15 Uhr heraus und war danach immer sehr erschöpft.

Der Chef meinte dann, es sei ihm zu gefährlich. Mir wurde geraten, lieber als Stationsschwester zu arbeiten. Der Diözesan-Oberin musste ich ja Bescheid sagen, dass ich nicht geeignet bin für die Arbeit als OP-Hilfe. Sie versetzte mich in ein Altersheim nach Bensheim-Schönberg bei Heppenheim, wo Obdachlose lebten, 25 Leute, einige Kranke, teils bettlägerig. Es fehlte an nötigen Pflegemitteln, Wäsche und vieles mehr. Ich musste viel improvisieren, selbst händisch waschen. Nachts stellte ich den Wecker, um meine Patienten vor Dekubitus (Wundliegen) zu bewahren. Ich erhielt 50 DM netto Gehalt. Das Essen war mehr als dürftig. Vor mir waren in drei Jahren sechs Schwestern gekommen und gegangen. Ich war drei Jahre dort.


Lange Gespräche halfen

Ich lernte dann den Dechant von Bensheim kennen und der hielt – das gibt es auch heute noch – jeden Monat eine Glaubensstunde. An diesen Glaubensgesprächen habe ich mit unserer Sekretärin vom Haus teilgenommen. Ich bin auch zu ihm beichten gegangen und das war für mich Horror gewesen. Ich war melancholisch, hielt nichts mehr von Gottesdiensten, nichts vom Beten, hielt alle für zweifelhaft, hatte keinen Halt. Und der Pfarrer merkte, dass irgendwas mit mir nicht stimmte und hat mich eingeladen, zu ihm ins Pfarrhaus zu kommen. Das habe ich auch gemacht und wir haben Kaffee getrunken und ein langes Gespräch gehabt.

Da habe ich ihm von meinem Elternhaus erzählt und, und, und. Und von da an hielt er seine Hand über mich. Durch ihn kam ich aus der melancholischen Phase heraus und hatte auch wieder ein Fundament; ich war stabiler und habe etwas Aufwind bekommen. Und er hat erlaubt, dass ich immer und immer zu ihm kommen könne. Das war ein großes Glück für mich. Er ist dann recht bald danach nach Mainz geholt worden.


Viel passiert

In einem Kurlaub verunglückte ich bei einer Schlittenfahrt. Die Genesung dauerte monatelang. Ich wurde krank aus dem Krankenhaus entlassen und war voller Sorge. Ich hatte eine gekündigte Stellung. Die neue Stelle konnte ich nicht antreten, polizeilich war ich abgemeldet. Da ich erfuhr, dass eine Arbeit als Krankenpflegerin wohl künftig ausgeschlossen sei, lernte ich im Liegen im Gipsbett die Anfänge der Stenografie, noch während der Behandlung im Düsseldorfer Krankenhaus, in dem ich acht Monate in einem Gipsbett lag. Meine Stimmung war ganz unten wegen der Zukunft, weder Geld noch eine Bleibe – es war schlimm. Ich war erst 27 Jahre alt. Da hat der Arbeitgeber meiner Schwester I. in Düsseldorf mich aufgenommen.


Manchmal fuhr ich wieder nach Mainz zur Domstraße zum Domdekan. Ich bin durch eine harte Schule gegangen und war immer allein. Wenn ich dann Weihnachten in Mainz sein wollte, haben meine Angehörigen, vor allem meine Schwester J., das überhaupt nicht verstanden. Dabei war es Gottes Fügung, dass ich diese väterliche Betreuung erleben durfte. Leider Gottes ist er mit 69 Jahren gestorben.


Arzthelferin – das waren furchtbare Jahre

Als Arbeitslose bewarb ich mich um eine Stelle als Arzthelferin. Die Arbeit wurde gering bezahlt – 90 DM netto – zwölf Stunden. Fast immer kam ich erst um 23 Uhr heim mit zwei Straßenbahnlinien, die um diese Zeit selten fuhren – das waren furchtbare Jahre.


Danach fand ich Arbeit bei Dr. N. am Fürstenplatz. Zu der Zeit habe ich bei einer Witwe gewohnt, auch nur ein Zimmerchen mit Bett und Schränkchen. Bei ihm blieb ich zehn Jahre. Anfangsgehalt war netto 120 Mark bei mindestens zehn Stunden Dienst. Die Samstage waren für private Patienten, vor allem für Gutachten für Kriegsbeschädigte reserviert.


Weiterbildung und Ausbeutung

Mit meinem geringen Einkommen habe ich Kurse für Fort- und Weiterbildung selbst bezahlt, weil meine Ausbildung mehr im Luftschutzkeller als im Schulsaal stattgefunden hatte. Auf diese Weise habe ich noch Labor, Verwaltung, Steno und Schreibmaschine gelernt, Kinderpflege und Psychologie studiert, in Nächten auf einer dicken Decke Schulaufgaben getippt, um Nachbarn nicht zu stören. Die Diplomarbeiten gelangen mir immer. Gewöhnlich ging ich einmal wöchentlich zu den Ursulinen zum preiswerten Mittagessen. Ich wohnte ja damals immer noch möbliert. Alle paar Jahre bekam ich etwas mehr Lohn, so etwa 10 bis 20 Mark, was jedoch nie der Versicherung gemeldet wurde. Nach vollen zehn Jahren war ich bei einem Gehalt von 410 DM netto angelangt mit 41 Jahren. Ich war also unterversichert. Zufällig fand ich das heraus. Ich bat einen Versicherungsmenschen, mir bei der Berechnung behilflich zu sein, was ich an Rente zu erwarten hätte. Er war entsetzt über meine Papiere. Schließlich hängt die Rentenhöhe von dem ab, was vom Arbeitgeber abgeführt wurde. Nach meinen Unterlagen würde ich später einmal nur 110 DM Rente bekommen.


Ein Gespräch mit Dr. N. endete nur: „Wenn Sie meinen, wo anders mehr zu verdienen, ich halte sie nicht.“ Obwohl ich oft samstags auch noch seine langen Gutachten getippt hatte und er die Schreibgebühr einnahm, tröstete ich mich damit, dass ich durch die Gutachten über Anamnese, Befund und Ergebnisbeurteilung sehr viel lernte. Ich war keine Kämpfernatur für mich selbst, wenn, dann kämpfte ich nur für andere.


Aufstieg: Erster freier Sonntag im Leben

1964 nahm ich im Gesundheitsamt in der Tuberkulose-Fürsorge die Arbeit auf. Anfangsgehalt war brutto 694 DM. Das war eine Mordserhöhung für mich. Mit Kerze und Blumen feierte ich den ersten freien Sonntag in meinem Leben. Schneller als ich gedacht hatte, wurde ich in eine höhere Gruppe beim Medizinaldirektor ins Vorzimmer genommen. Ich war die einzige Arzthelferin, die Stenografie und Schreibmaschine konnte. Nun war es mir auch möglich, mehrmals zum warmen Essen zu gehen, vorher konnte ich mir das nur ein Mal die Woche leisten. Bald war ich auch imstande, eine eigene Wohnung zu mieten, und zwar in der Düsselstraße, dort wohnte ich 20 Jahre.


Nach 19 Jahren verschlechterte sich mein gesundheitlicher Zustand wieder und ich befürchtete Nachteile. Mein Chef, ein Medizinaldirektor, stand trotzdem so hinter mir, dass es nicht zur Kündigung kam, sondern mir eine „Schonstelle“ zugewiesen wurde. Dadurch ist letztendlich meine Rente heute ausreichend.


Nicht alles Misere

Wenn ich früher ins Kino ging, bin ich auf den billigsten Platz gegangen. Ach, was war das schön. Und wenn ich mich sonst immer plagen musste, dann war das Erholung. Dann habe ich gelacht und es war nicht alles Misere. Sehr gern und viel habe ich gebastelt, jede freie Minute. Für Osterbasare, für Straßenbasare und Weihnachtsmärkte habe ich hauptsächlich Dekorationen angefertigt. Ich war sehr kreativ mit den großen Zapfen aus Aleppokiefern aus Griechenland, die ich säckeweise von meinen Reisen mitgebracht hatte. Die Verkaufserlöse gingen immer an die Leprahilfe.


Oft bin ich zu den Bibelseminaren nach Neustadt/Weinstraße zu den Herz-Jesu-Priestern gefahren, obwohl ich wenig Geld hatte. Ich hatte immer das Bedürfnis nach Kräftigung und ich erlebte diese Gemeinschaft in der Bibelfamilie. Man hatte mich aufgenommen und ich gehörte dazu, das brauchte ich für meinen psychischen Aufbau.



(1) SS – Im Nationalsozialismus verbreitete die sogenannte „Schutzstaffel“ (kurz: SS) Angst und Schrecken. Gegründet 1923 als Leibgarde Hitlers, stieg die SS unter Heinrich Himmler zur mächtigsten Organisation im nationalsozialistischen Regime.


Auszug aus „95 pralle Jahre“, erzählt von Monika S., aufgeschrieben von Edith S. (2017),

bearbeitet von Barbara H.

Foto: Nasalune-FcK/Pixabay

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