Auf einen Schlag alles verloren...
Marlies wird 1921 in Hamburg geboren und verlebt dort mit ihren zwei Brüdern eine unbeschwerte Kindheit in einem Geschäftshaushalt. Nach einer Lehre in einem Ledergeschäft wird sie von der Wehrmacht als Telefonistin für die Marine in Bordeaux eingesetzt und verbringt dort ein beschwingtes, sorgloses Jahr. Umso gefährlicher wird die Situation in ihrer Heimatstadt, die mit der großen Bombardierung im Jahr 1943 zu einem Trümmerhaufen wird.
Auf dem Pulverfass
Während des Krieges fühlten wir uns wie auf einem Pulverfass. Wir wussten nicht, was noch alles auf uns zukommen würde. Seit 1942 stand für uns fest, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Darüber hat man auch mit Menschen, die man gut kannte, offen gesprochen. Alle hatten wir den Hitler gefressen, bloß wir waren machtlos. Aber man hörte auch Galgenhumor: „Kinder, lasst uns den Krieg genießen, der Frieden wird fürchterlich!“
Die vier- und fünfstöckigen Gebäude verwandelten sich augenblicklich in Schutthaufen – Bombenangriff auf Hamburg
In einer Nacht des Jahres 1943 (1) ereilte uns und andere das gleiche Schicksal. Die Häuser der gesamten Straße, vier- und fünfstöckige Gebäude, verwandelten sich augenblicklich in Schutthaufen. Die Häuser des gesamten Viertels wurden dem Erdboden gleich gemacht; allein die Kirche blieb stehen. Aus dem ehemaligen Wohngebiet entstand später des Industriegebiet Hammerbrook.
Nachdem die Häuser bombardiert worden waren, rannten die Menschen in Panik auf die Straße. Auf einen Schlag hatten sie alles verloren. Jetzt rannten sie um ihr Leben. Sie hatten die Klamotten über den Kopf gezogen, damit die Haare nicht zu brennen anfingen. Selbst der Asphalt hatte gebrannt. Viele Menschen sprangen – wie sie waren – in die Kanäle, um sich vor dem Feuer zu retten.
Wir waren zum großen Spielplatz gerannt, wo wir auch die Nacht verbrachten. Von dort wurden wir zur Hafenanlage gebracht und bestiegen Schuten (2), die uns nach Uelzen transportierten. Die darauffolgende Nacht verbrachten wir wieder wartend im Freien. Schließlich führte man uns zum Bahnhof und verfrachtete uns in uralte, klapprige Züge. Unsere Zielvorstellung war entweder Bergedorf oder Reinbek, aber angekommen sind wir in Schlesien.
„Nimm endlich den Stahlhelm ab, ich kann ihn nicht mehr ertragen!“
Als wir im Zug saßen, bin ich endgültig ausgerastet. Mir fiel plötzlich auf, dass mein Vater immer noch seinen alten Stahlhelm trug. Ich wurde so wütend, denn wir hatten nichts gerettet, nicht einmal einen Koffer, nur diesen hässlichen Stahlhelm. Fast schrie ich meinen Vater an: “Papi, nimm endlich den Stahlhelm ab, ich kann ihn nicht mehr ertragen!“
Mitleidsloser Empfang in Schlesien
Unausgeschlafen und total verdreckt erreichten wir Schlesien. Bei einem Cousin meines Vaters kamen wir unter. Wir brauchten Kleidermarken, um das Nötigste zum Anziehen zu kaufen.
Ich war sehr enttäuscht, dass die Menschen nicht nachempfinden konnten, was wir hinter uns hatten. Sie teilten nichts mit uns, obwohl sie Vorräte jeder Art bis zur Decke gestapelt hatten.
Ich hielt es dort nur vier Wochen aus und kämpfte mich dann zurück nach Hamburg durch. Ich meldete mich bei meiner alten Dienststelle zurück. Die Freude auf beiden Seiten war groß. Außerdem konnte ich meinen Mann wiedersehen.
Rückkehr in unsere Straße – das Mauerwerk glühte immer noch
Sechs Wochen nach dem verheerenden Bombenangriff auf unser Viertel kehrten wir in unsere Straße zurück und gelangten durch den Kellereingang unseres früheren Hauses direkt in den Keller. Das Mauerwerk glühte immer noch vor Hitze. Unsere Koffer standen an der Stelle, wo wir sie hingestellt hatten. Wir hoben sie hoch und in diesem Moment fielen sie auseinander. Wir hielten nur noch die Griffe in der Hand. Mein Mann brannte sich beim Aufenthalt im Keller ein Loch in die dicke Sohle seines Stiefels, so heiß war der Boden immer noch!
(1) Im Juli 1943 starteten die Alliierten massive Luftangriffe auf Hamburg. Sie beginnen in der Nacht zum 25.Juli und lösen ein Inferno aus. Im Feuersturm sterben Zehntausende Menschen.
(2) Zum Transport von Schüttgut oder Menschen benutztes offenes Wasserfahrzeug in der Binnenschifffahrt.
Auszug aus „Lebenserinnerungen“, erzählt von Marlies B., geschrieben von Hanne K., Auszug verfasst von Marion PK
Symbolfoto: Carabo Spain/Pixabay
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