Ausquartiert und ausgebombt
Gerda K. wurde 1933 als drittes Kind geboren. Da waren ihre Geschwister schon elf und zwölf Jahre alt. Der Vater war Maschinenschlosser in der GEG-Seifenfabrik im Düsseldorfer Hafen und verdiente nicht viel Geld. In ihrem Geburtsjahr wurden Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt und der Reichstag durch Hindenburg aufgelöst. Die Nationalsozialisten errangen bei der Neuwahl mit den Konservativen die Mehrheit. Der Umbruch von einer Demokratie zu einer Diktatur nahm seinen Lauf. Gerda war acht Jahre alt, da starb ihre geliebte Mutter.
Wir Kinder hatten große Angst
Seit 1940 wurde Düsseldorf bombardiert. Nach und nach schlug der Krieg immer brutaler zu. Die Bombenangriffe auf die Stadt wurden immer stärker und häufiger. Hunger, Angst ums Überleben ergriffen mich und meine Familie.
1942 und 1943 gab es überall Trümmerhaufen, zerstörte Häuser, wohin das Auge reichte. Verrußte Menschen sah man neben Haufen von geretteten Habseligkeiten. Die Erwachsenen waren alle im Zustand der Erstarrung, auch wir Kinder hatten große Angst.
Flucht in den Bunker
Heulten die Sirenen, hieß es, alles stehen und liegen zu lassen und sich schleunigst in Sicherheit zu bringen. Für mich war es ganz wichtig, meine Puppen mitzunehmen. Dann hasteten wir zum Bunkereingang auf der Weseler Straße und mit uns auch viele andere Flüchtende.
Vor und in dem Bunker war ein großes Gedränge. Man musste aufpassen, dass kleine Kinder nicht zu Boden gestoßen wurden. Ich konnte mit meinen zehn Jahren schon auf mich selbst aufpassen. Jeder hatte seinen festen Platz. So saßen wir in großen nassen, kalten Räumen und warteten darauf, dass Entwarnung gegeben würde. Manch einer betete, dass der Bunker die Bombeneinschläge aushalten werde. Soweit ich mich erinnere, gab es mehrere Etagen in dem Bunker.
Manches Mal mussten wir lange ausharren. Wir Kinder liefen dann durch die Gänge, spielten und sangen. Die Erwachsenen unterhielten sich zumeist. Es war ein Stehenbleiben der Zeit, während draußen der Krieg tobte. Als endlich der langgezogene Ton der Entwarnung ertönte, strömten die Menschen aus dem Bunker ins Leben zurück, das oft Zerstörung und Sterben mit sich brachte. Jeder hoffte, dass sein Zuhause noch stehen würde und betete darum, dass niemand aus seinem Bekannten- und Verwandtenkreis umgekommen war.
"Woanders wirst du es gut haben"
In dieser Situation beschlossen meine Eltern, mich aus Düsseldorf wegzuschicken. Eines Tages nahm mich mein Vater beiseite und sagte: „Weißt du, Gerda, es ist das Beste, wenn du woanders wohnst. Es ist zu gefährlich hier mit den vielen Bomben. Dort, wo wir dich hinschicken, fallen keine Bomben und da wirst du es gut haben.“
So gaben sie mich nach Haan zu einer Familie L. Der Mann war Friseur. Sie hatten drei Kinder. Der Jüngste war Gerd. Er war nicht ganz so alt wie ich, aber er wurde mein liebster Spielkamerad. In Haan vergaß ich den Krieg, hatte das Haus doch einen wunderschönen Garten und wir hatten genug zu essen. Als Krönung des Ganzen stand in meinem Zimmer ein Zuckerglas mit wunderbaren Süßigkeiten. Ich konnte nicht umhin, aus ihm manchmal heimlich zu naschen. Frau L. tat so, als würde sie nichts bemerken. Es war wie im Paradies!
Gerd und ich konnten nachmittags auf den Straßen spielen. Es gab keinen Fliegeralarm. Wir organisierten uns Traktorreifen, setzten uns hinein und ließen uns die bergige Straßen hinunterrollen. War das ein Vergnügen! Es war herrlich!!
Eines Tages brachen Frau L. und ich auf, um zu meinen Eltern nach Düsseldorf in die Sonnenstraße zu fahren. Wir kamen in die Nähe der Straße, als wir Brandgeruch wahrnahmen und viele Häuser sahen, die eingestürzt und ausgebrannt waren. Uns wurde Angst und Bange. Wir bogen um die Ecke und standen in der Sonnenstraße.
Trümmerhaufen, rauchende Ruinen starrten uns an. Ich lief schnell vor und suchte unser Haus.
Da war es: ausgebrannt, schwarz und rauchend. Die Fassade ragte in den Himmel, aber dahinter war Leere. Rauchwolken stiegen empor. Vor dem Haus auf der Straße standen Möbel herum, alles roch verbrannt.
Wo waren meine Eltern – und die Puppen?
Ich stand da, erstarrt. Mein Zuhause war zerstört. Die Zimmer meiner Eltern, das Zimmer, in dem ich gespielt hatte, diese Räume gab es nicht mehr. Alles war restlos vernichtet.
Meine Eltern? Wo waren meine Eltern? Panik stieg auf. Ich schaute mich verzweifelt um. Vati, Mutti, wo seid ihr? Sie waren nicht da. Todesangst kroch in mir hoch, schnürte mir die Luft ab. Waren sie tot? Ich konnte nichts mehr sagen und sehen.
Während ich dastand, geschockt, fragte Frau L. einige Leute, die aus den Trümmern noch Brauchbares bargen, nach meinen Eltern.
Endlich die erlösende Mitteilung: „Die sind auf der Morsestraße!“
Ich atmete auf und konnte wieder sprechen. Ich fragte leise: „Wo sind meine Puppen?“, denn die waren mir neben Vati und Mutti die Liebsten. „Sie sind sicher verbrannt!“, war die Antwort, die ich erhielt.
Die Bombardierungen
Wir eilten zur Morsestraße zu Tante Meta und Onkel Ernst und fanden dort meine Eltern vor. Als ich sie sah, fiel mir ein riesiger Felsbrocken vom Herzen. Ich setzte mich zu ihnen und sie erzählten noch voller Betroffenheit von der Bombardierung: „Die Sirene ertönte und kurze Zeit später war die Luft plötzlich erfüllt von tiefem, orgelartigem Motorengeräusch und die Erde erzitterte von unaufhörlichen Aufschlägen schwerer Bomben. Der Luftdruck des ungeheuren Bombenhagels schleuderte Mauern, Wände, nein, ganze Häuser weg. Die Häuser stürzten mit Krachen ein. Flammen loderten auf und Rauchschwaden zogen über das Viertel bis in die letzten Winkel der Straßen. Dann traf es unser Haus“, so berichtete mein Vater. „Mauern stürzten ein, Glas und Holz splitterten und dann fing alles an zu brennen. Schreie ertönten, lautes Wehklagen, aufgeregte Hilferufe. Ein grausiges Bild der Verwüstung. Wie seltsam nahm es sich aus, dass zwei Häuser weiter in einem sonst völlig zerstörten Haus in der ersten Etage noch ein Schlafzimmer zu erkennen war. Ohne Wände standen zwei Betten, frisch bezogen, unter freiem Himmel, bis auch sie von den Flammen aufgefressen wurden.“
Vater fuhr fort: „Wir alle, Männer, Frauen und selbst Kinder, führten einen zähen Kampf gegen das Feuer. Zunächst gelang es immer wieder, die Brände zu löschen und einzudämmen, die durch Funkenflug entstanden waren. Ich half die Sachen einer Nachbarsfamilie zu retten. Dann ging auf einmal nichts mehr. Es brannte an zu vielen Stellen und wir waren erschöpft. Das ganze Haus stand in Flammen. Es blieb keine Zeit mehr, aus unserer Wohnung etwas herauszuholen. Nach einiger Zeit kletterten die Nachbarn und ich im Brandschutt umher, um noch ein paar Habseligkeiten zu finden. Unter verkohlten, schief stehenden Balken und geknickten Eisenträgern krochen wir umher, stiegen über meterhohe Steinhaufen. Aber das meiste war von den Flammen verzehrt und in der Hitze verkohlt.
Andere Nachbarn fanden noch ein paar verbeulte Töpfe, die in einer Trümmernische überstanden hatten. Brandgeruch und Pulverdampf standen in der Luft, hier und da schwelte es noch im Schuttberg. Deine Mutter, tobte herum, denn der Brand hatte uns aller Dinge beraubt. Wir standen da, hatten keine Wohnung, keine Möbel mehr.“
Mein Vater atmete schwer. Dann fuhr er mit leiser Stimme fort: „Wir hatten nur unser Leben und unsere Kleidung, die wir auf dem Leibe trugen, gerettet. Als die letzten Brandnester verlöscht waren, fing ich an, in einer Ecke, wo es offenbar nicht so heftig gebrannt hatte, die Trümmer wegzuräumen. Und nach längerem Wühlen fand ich tatsächlich noch etwas von uns: unsere Nähmaschine! Sie war zwar etwas verkohlt und voller Bauschutt, hatte Kratzer und war durchs Löschen nass geworden, aber wen kümmerte das. Deine Mutter packte mit an und wir zogen sie heraus.
Da standen wir und wussten nicht mehr weiter. Wir hatten kein Dach mehr über dem Kopf. Sollten wir nun zu den tausenden von Obdachlosen in Düsseldorf gehören? Wie vielen Menschen war es passiert, dass sie schon einmal ausgebombt nur unter großen Mühen eine neue Unterkunft gefunden hatten. Und kaum, dass sie sich mit Müh und Not ein paar Möbel oder etwas Kleidung beschafft hatten, da wurden sie zum zweiten oder dritten Mal ausgebombt und standen erneut vor dem Nichts. Würde dieses Elend auch uns treffen?“
Da fiel meinem Vater sein Bruder Ernst ein. Dieser hatte eine Wohnung in der Morsestraße und eine Schreinerei in der Solinger Straße, die später mein Bruder Karl übernahm. „So sind wir mitsamt der Nähmaschine in die Morsestraße gegangen.“
Zum Glück war eins der untervermieteten Zimmer bei Onkel Ernst frei, so dass wir dort Unterschlupf finden konnten: Vati, Mutti, Betti und ich.
Düsseldorf war Bombenziel
Aber es wurde noch schlimmer. Am 12. Juni 1943 war der sogenannte große „Pfingstsamstagangriff“. Innerhalb von 80 Minuten wurde Düsseldorf unablässig bombardiert.
1.300 Sprengbomben und 225.000 Brandbomben wurden abgeworfen. Altstadt, Derendorf, Stadtmitte und die Südstadt standen in Flammen.
9.000 Häuser brannten, über 1.000 Tote und über 2.000 verletzte Menschen.
140.000 Menschen waren auf einen Schlag ohne Dach über dem Kopf, konnten nur ihr blankes Leben retten. Das
Wasserwerk in Flehe, das Kraftwerk in Flingern, die Kokerei in Grafenberg wurden getroffen, so dass auch die Wasser-, Strom- und Gasversorgung der Düsseldorfer zusammen brach.
Die Tonhalle wurde auch zerstört.
Von den 154 Schulgebäuden waren 44 nicht mehr zu benutzen.
Es war ein Inferno!
Zum Glück habe ich dies als Kind nicht so deutlich mitbekommen, sondern ich erlebte „nur“ das, was in meiner unmittelbaren Umgebung geschah. Aber das war auch schon schlimm genug.
Meine neuen Puppen
Ich erinnere mich noch sehr gut an folgende Situation: Es war kurz vor Weihnachten 1943. Wir saßen in unserem Zimmer, als mein Vater auffällig in Richtung Couch schaute und wortlos mit dem Finger unter die Couch wies. Dabei lächelte er mir geheimnisvoll zu. Dies wiederholte er mehrmals. Ich verstand nicht, was er wollte, aber da er nicht aufhörte, in Richtung Couch zu zeigen, ging ich dorthin, bückte mich und fand ein Päckchen darunter.
Ich schaute zum Vater, er nickte. Daraufhin öffnete ich es und es war mir so, als ob ich heutzutage eine Million Euro gewinnen würde. In meinen Händen hielt ich eine Puppe! Ich schaute sie verzückt an. Ich konnte vor Seligkeit kein Wort herausbringen.
Endlich hatte ich wieder eine Puppe, denn meine beiden Puppen waren tatsächlich in der Sonnenstraße „umgekommen“. Ich glaube, so glücklich ist nie ein Kind in sein Bett gegangen wie ich an jenem Abend. Ich glaube, mein Vater konnte es nicht bis Weihnachten aushalten, mir unbedingt eine Freude zu machen.
Neue Wohnung im Zooviertel
Mein Onkel war in der Düsseldorfer Wohnungsgesellschaft; durch seine Vermittlung bekamen wir bald eine neue Wohnung in der Gengerstraße, im Zooviertel, in das bis dahin noch keine Bomben gefallen waren: 1 Küche, ein Wohn- und 2 Schlafzimmer waren für die nächsten Jahre unsere neue Bleibe. Allmählich zog der Alltag auch in die neue Wohnung ein. Es war Kriegsalltag, denn die Bomben verschonten auch dieses Viertel nicht länger.
Abends durfte kein Licht mehr gemacht werden, ehe nicht alles verdunkelt war. Es liefen Kontrolleure durch die Straßen und prüften, ob ja kein Lichtschimmer nach draußen drang. Alltäglich wurde es, abends und nachts und beim ersten Sirenenton alle Fenster zu verdunkeln. Wer gerade zuhause war, hängte in Windeseile die Decken vor die Fenster und achtete genau darauf, dass kein noch so schmaler Spalt entstand, durch den das Licht nach außen dringen konnte; denn der kleinste Lichtschimmer konnte eine Bombardierung durch die feindlichen Flugzeuge nach sich ziehen. Heute denke ich, dass auch das nicht viel genutzt hat. Dennoch ist mir das damals in Fleisch und Blut übergegangen.
Die Erde erzitterte noch einmal
Eines Nachts heulten die Sirenen auf. Dann das wütende Brummen der Flugzeuge. Leuchtstäbe sanken auf die Stadt nieder. Die Erde erzitterte. Die Bomben fanden ihre Ziele. Häuser zerbarsten und fielen in sich zusammen. Flammen stiegen auf, höher und höher.
Dann ein Knall. Die Erde erbebte so stark, dass wir dachten, unsere letzte Sekunde sei gekommen. Wir zuckten zusammen und duckten uns. Manche hielten sich die Ohren zu, manche fingen an zu beten oder zu klagen. Ganz in der Nähe von uns auf der Stückerstrasse war ein Haus von einer Bombe getroffen worden und eingestürzt.
Die Erschütterung traf auch unser Haus. Ein lautes Krachen und unser Dachstuhl und Balkone waren zerstört. Wir hofften inständig, dass die nächsten Bomben nicht uns treffen würden.
Wir hatten Glück. Nach Unendlichkeit ein lang gezogener Ton: Entwarnung!
Kurze Zeit später eilten wir zu dem getroffenen Haus auf der Stückerstraße. Flugasche, Baustaub, Brandgeruch kamen uns entgegen. Es war ein Volltreffer.
Nur ein Stück der Fassade stand noch, aber der Kern des Hauses, alle Wohnungen, waren zerstört. Die Menschen, die Zuflucht in ihrem Keller gesucht hatten, lebten, aber sie standen vor dem Nichts, hatten keine Bleibe mehr.
Wir kletterten in die noch qualmenden Trümmer und versuchten zu retten, was noch zu retten war: ein Schrank, zwei Stühle, eine verschmorte Couch, ein paar Bücher und verkohlte Stoffe. Alle freuten sich, wenn sie einen Löffel oder ein versengtes Bild fanden. Wir klaubten intakte Steine aus den Trümmern und klopften Zement ab, um diese Steine für den Neuaufbau zu benutzen. So konnten wir später nach und nach unseren Balkon wieder reparieren.
Fast alle Leute aus dem zerstörten Haus hatten keine Bleibe mehr. Sie fanden zumeist Unterschlupf bei Freunden oder Verwandten. Manch einer von ihnen ritzte in oder schrieb auf die stehengebliebenen Mauerreste, dass sie überlebt hatten und wo sie zu finden wären.
Unbarmherzige Macht des Krieges
Natürlich waren immer wieder Tote zu beklagen, die aus den Trümmern geborgen wurden. Sterbende schleppten sich aus den Häusern, aber ich habe vermieden, dahin zu schauen. Es war zu schrecklich. Zu sehr saß noch der Schock des ersten Toten in mir. Wir Kinder waren dort hingelaufen, wo eine Bombe in der Windscheidstraße eingeschlagen haben sollte.
Wir wollten uns das anschauen, ob wir etwas gebrauchen konnten. Wir sahen Rauchschwaden, Hausruinen und Trümmerhaufen. Auf den Trümmern stand ein Bagger, der die großen Teile des Schuttes wegräumte.
Als der Greifer des Baggers in den Schutt griff und hoch kam, sahen wir, dass zwischen den Greiferzähnen ein Mensch hing, leblos, wie eine schlaffe Puppe. Zum ersten Mal wurde mir die unbarmherzige Macht des Krieges bewusst.
Wir liefen so schnell wir konnten davon. Fast in jeder Familie gab es schon Gefallene zu beweinen. Die Daheimgebliebenen lebten in ständiger Angst, wenn sie keine Nachricht von den Männern hatten. Es gab auch schon eine ganze Anzahl Vermisste. Die Zeitungen waren voll von Todesanzeigen, viele, viele Seiten mit Kreuzen. Mein Vater brauchte nicht an die Front, denn er war schon zu alt, aber er war nicht zu alt, um für die Arbeiten in Düsseldorf eingezogen zu werden; er musste viele Gräber ausheben.
In diesen Jahren, den letzten Kriegsjahren, hat uns die Angst ständig wie ein Schatten begleitet, verließ uns nie. Jeden Tag fragten wir uns von neuem: „Sind wir heute die nächsten? Leben morgen noch?“
Keine Nacht konnten wir durchschlafen.
Auszug aus „Meinem Leben auf der Spur“, erzählt von Gerda K., geschrieben von Christa A. (2010), bearbeitet von Barbara H.
Foto: Altstadthäuser nach Bombenangriff / Hunsrückenstr. 09/1942 Quelle: Stadtmuseum Düsseldorf
Fotograf*in: Unbekannt
Bromsilber
Blattmaß: 8,6 x 12 cm
Bildträger: 8 x 11,4 cm
Inv.: F 10788
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