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Für die Volksarmee "ausgewählt" – und abgehauen

Klaus-Dieter C. wurde 1935 in Leipzig geboren. Der Familie – seinen Eltern und den beiden Schwestern – ging es finanziell recht gut, und er erlebte echten Familienzusammenhalt. Er besuchte die Schule in Leipzig, empfand diese Zeit „nicht so prickelnd“ und wandte sich mehr sportlichen Aktivitäten zu. Er beschreibt die Folgen.


Gymnasium – Lehre – Geselle

Hockey war mein Sport. Mit der Mannschaft konnte ich Reisen mitmachen. Doch nachdem einer von uns so eine Reise genutzt hatte, um in den Westen abzuhauen, bekam ich die Folgen zu spüren. Ich kam zu spät zurück, um die Abiturprüfung abzulegen und bekam dadurch keinen Abschluss am Gymnasium.

Meine Mutter unterstützte mich, einen Studienplatz oder eine Lehrstelle zu bekommen, was erst einmal erfolglos war. Schließlich bekam ich einen Ferienjob in einer Stahlbaufirma. Da lernte ich harte und sehr dreckige Arbeit kennen. Dann klappte es doch noch mit einer Maschinenschlosserlehre, und schließlich arbeitete ich als Geselle im Kirow-Werk, eine Kranbaufirma.

Der anonyme Brief

Eines Tages bekam ich einen anonymen Brief nach Hause. Ich machte ihn auf: es war eine Einladung. Ich sollte während der Arbeitszeit zu einem bestimmten Ort kommen. Die Adresse kannte ich nicht. Deshalb fuhr ich ein paar Tage vor dem Termin mit dem Fahrrad zu der angegebenen Adresse. Das war eine wunderbare Villa in einer vornehmen Gegend. Draußen hing kein Schild und auch sonst war nichts rauszubekommen, von wem die Einladung kam. Alles war ganz anonym. Zuerst habe ich meine Mutter bezüglich dieses mysteriösen Termins befragt, aber sie wusste auch keinen Rat. Am nächsten Tag bin ich auf Arbeit zu meinem Meister gegangen und sagte: „Ich habe eine Einladung bekommen. Der Termin ist während der Arbeitszeit.“ Ich legte ihm den Brief hin und da sagte er: „Ja, ja, geh‘ da hin.“ Mir war sofort klar, dass er genau wusste, worum es da ging. Ich nehme mal stark an, dass er das sogar initiiert hatte, um sich irgendeinen Orden zu verdienen. Zumindest sagte er mir nicht, worum es bei dieser Einladung überhaupt ging.

Fakt war also, dass ich zu dem angegebenen Termin fuhr. Als ich in das Haus kam, musste ich erst einmal alles ablegen und meinen Ausweis vorzeigen. Dann kam ich in einen Sonderraum. Ganz alleine saß ich da und musste warten. Immer mal kam jemand in diesen Raum rein oder ging raus. Ich muss sagen, dass mir dort irgendwie mulmig war, denn ich wusste ja immer noch nicht, worum es überhaupt ging. Ich hatte absolut keine Ahnung.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich in ein Zimmer gerufen wurde. Dort stellte sich dann heraus, dass das eine Art Stasi (1) war und es um die Anwerbung für die Nationale Volksarmee (NVA, 2) ging. Man sagte mir, ich wäre für die Volksarmee "ausgewählt" worden. Es wurde so hingestellt, als wenn das beschlossene Sache wäre, dass ich jetzt dort hingehen werde. Im Prinzip bräuchte ich nur noch zu unterschreiben.

Ich habe mich dann hin und her gewunden: „Wie soll das gehen? Ich habe hier eine Arbeitsstelle und lebe alleine mit meiner Mutter zusammen. Ich muss erst mal mit ihr darüber sprechen und brauche Bedenkzeit.“ Normalerweise gab es da kein Veto. Außerdem war das mit meiner Arbeitsstelle ja schon alles geklärt. Eigentlich wollten die das nicht, dass man unverrichteter Dinge wieder nach Hause fuhr und darüber nachdachte, aber ich bekam es irgendwie hin.

Die Angebote, die mir gemacht wurden, waren nicht mal schlecht. Ich sollte Politoffizier werden, wäre also auch ohne Abitur gleich als Offiziersanwärter eingestellt worden und hätte von Anfang an fast ein komplettes Offiziersgehalt bekommen. Das war damals ein Traumgehalt! Ich weiß nicht mehr wie viel es war, aber es war auf jeden Fall mehr als ich damals verdiente und für die damaligen Verhältnisse war mein Gehalt gar nicht so schlecht. Ich wäre bei der NVA allerdings sofort kaserniert worden und dann auch noch als Politoffizier – das ging gar nicht. Alles andere wäre vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht, gegangen, aber „Polit“ nicht!

So nicht: Auf nach Berlin

Ich bin dann abends wieder nach Hause und habe alles meiner Mutter erzählt. Ganz kurzfristig nahm ich dann Kontakt zu dem Typ auf, der in der Lehre ein Jahr über mir war und auch von der Sporthochschule kam. Er war zum Studieren nach Berlin gegangen.

Als ich ihm von der Anwerbung für die NVA erzählte, sagte er zu mir: „Das gibt nichts. Komm sofort nach Berlin. Du kannst kurzfristig erst mal bei mir wohnen. Ich habe hier ein möbliertes Zimmer und eine gute Wirtin.“

Er gab mir dann Tipps, wie ich am besten in Berlin über die Grenze kommen würde. Dann sagte ich zu meiner Freundin, dass ich weg bin. Bei meiner Mutter war der Abschied schon schwieriger. Ich wollte sie nicht in Gewissenszwänge bringen, denn es war mir klar, dass diese Anwerber, wenn ich nicht mehr da sein würde, zu meiner Mutter gehen würden. Es war dann aber alles mit ihr geklärt. Und so bin ich Knall auf Fall abgehauen.

Über die Grenze

Ich habe alles nach Anweisung meines Kumpels gemacht. Nur mit einer Aktentasche stieg ich in den Zug nach Berlin. In der Tasche waren ein paar Schulsachen und ein bisschen was zum Übernachten. Im Prinzip nahm ich so gut wie gar nichts mit, nur das allernötigste.

Mein Kumpel hatte im Vorfeld gesagt, je unauffälliger, desto besser. An der Berliner Grenze wurden dann alle Züge angehalten und der gesamte Zug wurde kontrolliert. Das hat über eine Stunde gedauert, weil alle Leute aus der Bahn aussteigen und sich ausweisen mussten und dann befragt wurden, was man will, wohin man will und warum. Alles! Auch jedes Gepäckstück wurde genau kontrolliert.

Mein Kumpel hatte mir vorher genau gesagt, was ich bei der Kontrolle antworten sollte. Als ich befragt wurde, wo ich hin will, sagte ich: „Berlin, Schule so und so, dort und dort zur Immatrikulation.“ Das konnten die ja nicht nachprüfen, aber so etwas musstest du parat haben. Dann wurde in meiner Tasche nachgeguckt, ob der Inhalt zu meiner Geschichte passte. Die haben mir dann geglaubt und ich konnte wieder in den Zug einsteigen.

Dann bin ich über die Friedrichstraße nach Berlin rein gefahren. Mein Kumpel hatte mir wieder Order gegeben, an der Haltestelle Friedrichstraße in die U-Bahn, die in den Westen fuhr, umzusteigen. Das war die sicherste Möglichkeit. Damals war es ja noch möglich, auf diesem Weg in den Westen zu fahren, denn das war ja noch die Zeit “vor der Mauer (3)".

Dann bin ich erst mal bei meinem Kumpel untergetaucht. Er hatte, wie gesagt, ein möbliertes Zimmer bei einer sehr netten alten Dame. Ich weiß noch, dass ich dort auf einer unglaublich wackeligen Couch geschlafen habe und dass ich auch ein paar Mal im Schlaf von der Couch heruntergefallen bin. Mein Kumpel hatte ja auch nicht viel. Deshalb fand ich das total nett von ihm, dass er mich aufgenommen hatte. Wir haben dort vom Einfachsten gegessen und überhaupt vom Einfachsten gelebt. Das war schon nicht so witzig. Außerdem kam bei ihm fast jede Woche eine andere Freundin zu Besuch, so dass ich öfter aus der Wohnung verschwinden musste. Diese Wohnsituation funktionierte daher nicht lange.

Zuzugsgenehmigung

Um meine Situation zu verbessern, musste ich eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Ich wollte in Berlin bleiben, wollte eine eigene Bude haben und Geld verdienen. Deshalb musste ich zu einem bestimmten Amt, welches speziell für Flüchtlinge zuständig war, die aus dem Osten kamen und in den Westen wollten.

Die Stadt war voll, eigentlich wollten sie niemanden mehr reinlassen. Ich beantragte dennoch Zuzug. Entschieden wurde darüber in einer Flüchtlingskommission, die auch aus einem Amerikaner und ich glaube auch einem Engländer bestand, vor der man wie bei einem Verhör seinen Fall ganz genau schildern musste. Ich hatte wohl schon den Fehler gemacht, dass ich nicht in einem Aufnahmelager geblieben war, in dem ich eigentlich ein paar Tage hätte bleiben sollen. Ich wurde dann aber trotzdem verhört und zu den Gründen meiner Flucht befragt. Das fand ich nicht so lustig und kam mir vor wie die zweite oder dritte Wahl. Irgendwann, nach Wochen, habe ich dann den Zuzug im Sinne des Ermessens, dass meine Geschichte stimmte, bewilligt bekommen und dann klappte es auch mit meiner Arbeit.

(1) Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), auch Staatssicherheitsdienst, bekannt unter dem Kurzwort Stasi, war in der DDR zugleich Nachrichtendienst und Geheimpolizei und fungierte als Regierungsinstrument der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Aus der DDR-Bevölkerung gerieten Menschen ins Visier des MfS, wenn Verdacht auf politischen Widerstand gegen die SED, Spionage oder Republikflucht bestand. Methodisch setzte das MfS dabei Observation, Einschüchterung, Inhaftierung sowie die sogenannte Zersetzung gegen Oppositionelle und Regimekritiker als Mittel ein.

(2) Die Nationale Volksarmee (NVA, Streitkräfte der DDR) umfasste von 1956 bis 1990 die militärischen Formationen und Einrichtungen der "Bewaffneten Organe der DDR" sowie des (militärischen) Ersatzwesens in der DDR.


(3) Die Berliner Mauer war während der Teilung Deutschlands ein Grenzbefestigungssystem der DDR, das mehr als 28 Jahre, vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989, bestand, und die DDR von West-Berlin hermetisch abriegeln sollte. Sie trennte nicht nur die Verbindungen im Gebiet Groß-Berlin zwischen dem Ostteil („Hauptstadt der DDR“) und dem Westteil der Stadt, sondern umschloss alle drei Sektoren des Westteils vollständig und unterbrach damit auch seine Verbindungen zum sonstigen Umland, das im DDR-Bezirk Potsdam lag. Die Mauer verlief dabei zumeist einige Meter hinter der eigentlichen Grenze.

Auszug aus „Ein Leben in Bewegung“, erzählt von Klaus-Dieter C., geschrieben von Alexandra P., Auszug von Barbara H.

Foto: fsHH/Pixabay

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