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Getürmt statt gesiegt

1927 wurde Karl-Heinz in Düsseldorf geboren. Seine Kindheit und Jugend waren vom Nationalsozialismus geprägt. Er erlebte das Deutsche Jungvolk, die Hitlerjugend, den Reichsarbeitsdienst und den Wehrdienst. Nach einer Kaufmannsausbildung wurde er Soldat, erlebte die Front und kam in russische Gefangenschaft, bis ihm die Flucht gelang. Er baute sich in den Nachkriegswirren trotz seiner Verletzungen ein neues Leben auf, heiratete und bekam zwei Kinder.

Marschieren, Singen, Boxen und Fußballspielen

Als ich zehn Jahre alt war, trat ich ins Deutsche Jungvolk, eine Jugendorganisation der Hitlerjungend für Jungen zwischen zehn und 14 Jahren, ein. Ich ging auf der Werstener Dorfstraße in Düsseldorf zur Schule. Im Jungvolk mussten wir Schüler mittwochs und samstags zum Dienst antreten. Mittwochs lernten wir marschieren oder wir übten nur Lieder ein, und es gab sogenannte Heimatabende. Samstags wurden meistens Geländespiele durchgeführt oder es gab sonstige sportliche Veranstaltungen, wie zum Beispiel Boxen, Fußball spielen und so weiter. Manchmal hatten wir auch am Sonntag Dienst. Unter Absingen der gelernten Lieder wurde durch den Ort marschiert. Im Allgemeinen war es sehr schön. Mir jedenfalls hat es gefallen.

Im Dritten Reich durfte eines Tages in den Schulen der Religionsunterricht nicht mehr abgehalten werden. Der Unterricht fand dann in kirchlichen Sälen statt. Ich bin da nicht hingegangen. Wenn der Religionsunterricht in der Schule abgehalten wurde, bin ich raus.

Am nächsten Tag musste ich zum Rektor kommen. Ich war in Uniform zur Schule gegangen. Da durften die nichts machen, denn sie hätten sonst das „Ehrenkleid“ des Führers beschmutzt. Trotzdem versuchte es der Rektor: „Karl-Heinz, du gehst sofort nach Hause und ziehst dich um!“ - „Das geht nicht. Ich kann zu Hause nicht rein. Meine Mutter ist nicht da.“ Was sollte er da machen?

An unserer Schule hatten wir einen Lehrer, der war zwar schon über 20, aber der war der jüngste Lehrer und gleichzeitig Führer der Hitlerjugend. Wenn er eine Uniform trug, war er der „Fritz“, sonst der Herr T. Ihm erzählte ich, dass der Rektor wollte, dass ich nach Hause gehe, um mich umzuziehen. Er sagte nur darauf: „Wenn du gern deine Uniform trägst, dann trage sie.“ Ab diesem Zeitpunkt ging ich nur noch in Uniform zur Schule.

Soldaten mit Läusen und Silberfischchen

1943, im Krieg, meldete ich mich pflichtgemäß beim Wehrbezirkskommando zum Reichsarbeitsdienst (RAD) und wurde in der Nähe von Geldern der Küche zugeteilt, da war ich sechzehn. Dann erlebte ich beim Einsatz in Essen den Großangriff auf die Krupp-Werke (1). Nach drei Monaten wollte ich zum Militär und trat meinen Wehrdienst an.

In meinem Einberufungsbefehl stand Riga-Strand, das bedeutete: Verschiffung nach Danzig. Dort angekommen mussten wir etwa 15 Kilometer zu unserer Einheit marschieren. Da gab es ein Zeltlager, in dem wir alle Läuse bekamen. Man sah sie auf dem Kragen die Schulter entlang laufen. „Die laufen in Sechserreihen und eine Musikkapelle vorweg“, witzelte jemand.

Es gab auch Soldaten, die trugen schwarze Panzeruniform. Darauf sah man die Silberfischchen besonders gut.

Kapitulation? Das darf man eigentlich niemandem erzählen

Später wurde ich in die Eifel, dann ins Elsass und zum Schluss zum Einsatz nach Pommern (2) verlegt. Dort geriet ich in Gefangenschaft. Wir hatten abends einen Hof angefahren, den Panzer rein gestellt, mit Stroh bedeckt, und dann haben wir in der Scheune übernachtet.

Morgens kam auf einmal ein Russe rein und noch ein paar mehr: „Warum ihr noch kämpfen!? Ist doch Kapitulation!“ Und ich Arschloch fragte: „Wer hat denn kapituliert?“

Da hat der mir eine gescheuert. „Deutschland! Deutschland natürlich!“

Ich schaute die anderen an, und der Oberleutnant sagte nur: „Du bist vielleicht ein Armleuchter. Wie kannst du nur so eine Frage stellen. Wenn die da rein kommen und sagen, warum ihr noch kämpft, es ist doch Kapitulation, dann ist das so.“

Für mich war das ein Unding. Am Vortag war der Russe noch vor uns abgehauen und wir hinterher. Wir haben den wirklich gejagt. Das darf man eigentlich niemandem erzählen.

Gefangen und geflohen

Dann sind wir jeden Tag Richtung Osten marschiert. Zu essen bekamen wir trockenes Brot und Wassersuppe, natürlich ohne Fleisch. Mir ging es nicht so gut, ich hatte noch die Beine kaputt von 28 Splittern.

Eines Abends kam der Oberleutnant zu mir: „So, ich habe mir das jetzt zwei Tage angeschaut. Wir hauen ab.“ – „Dann wünsche ich euch alles Gute. Hoffentlich kommt ihr durch.“ – „Wie? Wir nehmen dich doch mit.“ – „Ich halte euch nur auf.“ – „Wer sagt das?“ – „Ja, ich! Ich kann doch nicht so!“ – „Du gehst mit uns und wir helfen dir! Du hast uns gefahren und nie im Stich gelassen, meinst du etwa, wir lassen dich jetzt beim Russen zurück? Du gehst schön mit.“

Wir sind an dem Abend getürmt, wie es vereinbart war, und die haben mich tatsächlich mit zwei Mann mitgeschleppt.

So sieht die „siegreiche“ Armee aus

Endlich in Düsseldorf angekommen, war der erste Mensch, der mir über den Weg lief, meine zukünftige Frau. Sie war mit dem Fahrrad auf der Ellerstraße unterwegs. Als sie mich erkannte, hat sie sofort umgedreht, und dann sind wir zu zweit auf dem Fahrrad gefahren, um schneller nach Hause zu kommen.

Auf der Harffstraße stießen wir auf meine Mutter. Die kam uns entgegen. Ich bin runter vom Fahrrad und auf meine Mutter zugelaufen. Sie hatte einen ordentlichen Schreck bekommen, so dass sie vor mir laufen ging. Sie hatte mich nicht erkannt, weil ich so verwildert aussah. Meine Haare waren nicht geschnitten, ich war seit mehreren Tagen ungewaschen und unrasiert. Denn das war nur möglich, wenn man mal an einem Bach vorbei kam.

An saubere Wäsche war nicht mal zu denken. Meine ganze Kleidung bestand nur noch aus Lumpen. Den linken Schuh hatte ich mit einem Draht repariert, damit die Sohle nicht abfiel.

Nachdem ich mich zu erkennen gegeben hatte, sagte sie nur: „Ach, so kommt unsere siegreiche Armee wieder!“ Dann ging es ab nach Hause.

Mein Vater hat sofort in der Waschküche einen Kessel Wasser heiß gemacht. Meine Mutter meinte es besonders gut und hatte in das Badewasser Waschpulver geschüttet. Aber meine vielen offenen Wunden brannten fürchterlich. So schnell bin ich noch nie aus einer Wanne heraus gekommen wie damals. Es wurde nochmals neues Wasser heiß gemacht, und ich konnte endlich das wohlverdiente Bad nehmen. Mein Vater hat meine gesamte Kleidung im Ofen verbrannt.

Lebensmittelkarten und Bürokratie: "Wo ist der Entlassungsschein?"

Am nächsten Tag wollte ich Lebensmittelkarten abholen: „Ihren Entlassungsschein bitte!“ – „Ich habe keinen Entlassungsschein.“ – „Woher kommen Sie denn?“ – „Aus der Gefangenschaft. Der Russe gibt einem keinen Entlassungsschein, wenn man türmt.“ – „Aber Sie haben einen Entlassungsschein?“ – „Aber nicht vom Russen.“ – „Von den Amis und den Engländern haben aber bisher alle einen Entlassungsschein bekommen.“ – „Aber ich halt nicht vom Russen.“ – „Dann kann ich ihnen leider keine Lebensmittelkarten geben“.

Ich auf meinen Krücken zurück nach Hause. „Das gibt‘s doch nicht! Ich geh mal mit“, meinte meine Mutter. „Da ist doch die Frau H., und die kenne ich.“

„Frau K., es tut mir leid, aber es geht nicht. Wenn ihr Sohn keinen Entlassungsschein hat, muss er sehen, dass er einen Ausweis bekommt.“

Aber ohne Entlassungsschein gibt es auch keinen Ausweis. „Was machen wir jetzt?“ Ich bin zu den Bauern und habe Kartoffeln, Gemüse, alles, was ich kriegen konnte, gestohlen. Meine Mutter musste doch was zum Kochen haben.

Und wenn ich es nicht auf andere Weise bekam, dann …!

Ich bin auch zu der Militärverwaltung von den Amis gegangen. Ich erklärte meine Sachlage, dass ich aus russischer Gefangenschaft abgehauen war. Ich sprach mit einem Captain, der sehr gut Deutsch sprach. Später stellte sich heraus, dass es ein Jude aus Frankfurt war. Der war dort geboren, war mit seinen Eltern geflüchtet und jetzt Captain bei den Amis.

„Es tut mir leid, aber die Bestimmungen sind nun einmal so, dass sie einen Ausweis brauchen.“ – „Können sie mir dazu verhelfen?“ – „Es wird schwer, aber kommen sie morgen wieder zur Militärverwaltung“.

Aber ich erhielt einen vorläufigen Ausweis und kam glückstrahlend damit nach Hause.

Butter für Mutter

Meine Mutter sagte einmal: „Ich habe so richtig Appetit auf ein Butterbrot.“ Butter! Ich erkundigte mich bei einem Schwarzhändler, was ein halbes Pfund Butter kostet.

Der sah mich nur an und fragte: „Ein halbes Pfund? Geht es auch kleiner?“ – „Ja, auch ein Viertelpfund“ – „Das kostet 120 Mark.“ Mir fiel die Lippe runter. Ich kannte doch die Preise nicht.

Mein Bruder und ich legten das Geld zusammen und kauften für unsere Mutter ein halbes Pfund Butter. Meine Mutter hat sich vor Freude nicht mehr eingekriegt, als wir mit der Butter ankamen. Sie wollte dann auch unser Brot damit beschmieren.

Mein Vater sagte: „Nicht für mich! Behalte die Butter für dich.“ Keiner von uns wollte was von der Butter haben. Endlich hat sie sich ein Brot geschmiert und die Butter etwas dicker darauf getan. War die Mutter glücklich! Wir anderen aßen Margarine.

1948 erlebte ich die Währungsreform (3) und sah, wie sich die Läden wieder füllten. Wir haben an einem Freitagabend angefangen und bis Montagmorgen bei der Firma Ziem Reparaturen und Umbauten vorgenommen. Unser Chef, der Herr B., nahm nur da Arbeiten an, wo wir etwas zu essen bekamen. Am Montagmorgen konnte die Firma öffnen, alles war eingeräumt.

Man muss sich das mit der Währungsreform mal vorstellen: Am Samstag waren die Schaufenster und Lager leer und es hieß: „Gibt nichts mehr, alles ausverkauft.“ Und am Montag hatten alle die Schaufenster dekoriert mit Wurst, Fleisch, alles, was das Herz begehrte. Ging man in den Laden rein, sah man, dass alle Regale voll waren. Es gab ja richtiges Geld. Als ich am Montag von der Arbeit kam, sagte meine Frau: „Ich habe was Leckeres. Ich habe eine Erbsensuppe gemacht.“ „Die hätten wir doch zum Wochenende machen können.“ „Ich wollte sie aber heute machen. Ich habe dazu Pfötchen geholt.“ Es schmeckte herrlich, endlich mal was Vernünftiges, wo Geschmack dran war.

(1) Die Krupp-Gussstahlfabrik in Essen bildete die Keimzelle der zu einem Schwerindustrie-Unternehmen aufgestiegenen Friedrich-Krupp AG, die Deutschland größtes Stahl- und Rüstungsunternehmen geworden ist. 1945 wurden während des Zweiten Weltkrieges weite Teile des Betriebsgeländes in Essen durch alliierte Luftangriffe auf das Ruhrgebiet zerstört.


(2) Pommern ist eine Region im Nordosten Deutschlands und im Nordwesten Polens, die von der Ostseeküste und deren vorgelagerten Inseln bis weit ins Binnenland reicht.


(3) Am 20. Juni 1948 trat die damals lang erwartete Währungsreform in Kraft, mit der die neue Deutsche Mark die alte inflationäre Reichsmark-Währung ablöste. Jeder Bürger konnte zunächst 40 Reichsmark gegen 40 Deutsche Mark eintauschen. Die Währungsreform bildete eine wichtige Grundlage für die darauf folgende wirtschaftliche Entwicklung Westdeutschlands.

Auszug aus Scherbenbilder „Butter für Mutter“, erzählt Karl-Heinz K., aufgeschrieben von Barbara B., bearbeitet von Barbara H.



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