Kinderlandverschickung: Ein Abenteuer?
Gerda K. wurde 1933 als drittes Kind geboren. Da waren ihre Geschwister schon elf und zwölf Jahre alt. Der Vater war Maschinenschlosser in der GEG-Seifenfabrik im Düsseldorfer Hafen und verdiente nicht viel Geld. In ihrem Geburtsjahr wurden Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt und der Reichstag durch Hindenburg aufgelöst. Die Nationalsozialisten errangen bei der Neuwahl mit den Konservativen die Mehrheit. Der Umbruch von einer Demokratie zu einer Diktatur nahm seinen Lauf. Gerda war acht Jahre alt, da starb ihre geliebte Mutter.
Mit der Lehrerin auf große Reise gehen
Wegen der zunehmenden Bombenangriffe im Krieg und der gravierend anwachsenden Versorgungsprobleme in den Städten griff man zur Maßnahme der Kinderlandverschickung, auch Evakuierung genannt. Bis Kriegsende wurden in Deutschland rund 2,5 Millionen Jungen und Mädchen in ländliche Gebiete evakuiert.
So war es auch bei uns in Düsseldorf. Eines Tages sprach unsere Lehrerin uns auf die Kinderlandverschickung an. Sie erklärte uns, dass es auf dem Land für uns viel sicherer sei. „Fragt eure Eltern, ob sie damit einverstanden sind, dass ihr da mitmachen könnt.“
Als ich davon zu Hause erzählte, stimmte meine Stiefmutter sofort zu, auch mein Vater willigte ein. Ich selber war Feuer und Flamme. Für mich war es ein Abenteuer. Ich würde einen Ausflug machen.
Ich dürfte mit einem Zug ganz weit weg fahren. So etwas hatte es bisher für mich noch nie gegeben. Endlich mal etwas Neues erleben.
So packten meine Stiefmutter und ich einen kleinen Koffer, denn viele Dinge besaß ich ja nicht. Ich denke, dass sie mir auch noch etwas Proviant eingepackt hatte. Mein Vater brachte mich zum Hauptbahnhof, wo schon viele Kinder mit ihren Eltern auf dem Bahnsteig warteten.
Eine fremde Frau kam auf uns zu und wies sich als unsere Betreuerin aus. Es war eine Lehrerin aus Kaiserswerth. Sie hatte die Aufsicht über uns 30 Kinder. Wir waren wohl aus ganz Düsseldorf zusammen gewürfelt worden, denn ich kannte niemanden davon. Aber das machte gar nichts. Wir fanden das toll, dass wir verreisen durften.
Als der Zug kam, scheuchte uns unsere Lehrerin in ein Abteil, wo wir auf den Holzbänken Platz nahmen. Viel Zeit, unseren Angehörigen zu winken, nahmen wir uns nicht, denn es gab so viel zu entdecken und zu erzählen.
Ich glaube, dass ich damals so zehn oder elf Jahre alt war. Wie lange die Fahrt gedauert hat, ob und wie wir im Zug geschlafen haben, das weiß ich nicht mehr. Irgendwann kamen wir in Roßwein an. Es war ein kleines Dorf zwischen Dresden und Leipzig. Ich erinnere mich nur noch an das stillgelegte Fabrikgebäude in Roßwein, in dem wir untergebracht wurden. Es gab Etagenbetten und Haken für unsere Kleidung an der Wand. Wir machten es uns, soweit es ging, gemütlich. Vormittags gab es ein bisschen Unterricht, nachmittags haben wir gespielt, gesungen und gebastelt. Abends gab es dann doch versteckt einige Tränen, denn viele von uns hatten Heimweh.
Ich erinnere mich auch noch an eine Pflegefamilie in Roßwein, bei der ich wohl auch einige Zeit gewohnt hatte. Sie hatte drei Kinder. Es war eine sehr nette Familie, die alles mit mir teilte und sehr freundlich zu mir war. Später erfuhr ich, dass sie überzeugte Nationalsozialisten waren, was ich damals aber gar nicht verstand.
"Die Russen kommen"
Eines Morgens war alles anders. Es herrschte eine riesengroße Aufregung. Die Erwachsenen standen in kleinen Gruppen beieinander und diskutierten heftig. Wir hörten: „Die Russen kommen.“
Wir sahen die Angst in den Augen der Erwachsenen und sie sprang auf uns über. Unsere Lehrerin rief uns zusammen: „Wir müssen weg! Packt ganz schnell eure Sachen. In 15 Minuten müssen wir am Bahnhof sein!“
In fliegender Eile rafften wir alles zusammen, was wir fanden. Panik ergriff uns. Den Russen in die Hände zu fallen, nein, um nichts in der Welt!
Wir hatten schon viel Schlimmes von ihnen gehört. "Monster" sollten es sein, die ohne mit der Wimper zu zucken Menschen erschossen oder quälten, die Häuser anzündeten und alles stahlen.
Außer Atem kamen wir alle am Bahnhof an. Wir quetschten uns in die vollen Abteile, egal wie, Hauptsache weg!
Wie froh waren wir, als sich der Zug endlich in Bewegung setzte. Fuhren wir jetzt wieder nach Hause?
Die Hoffnung hielt nicht sehr lange an, denn in Leipzig mussten wir alle aus dem Zug. Was nun?
"Deine Pflegeeltern sind tot"
Unsere Lehrerin versammelte uns um sich. „Wir müssen unbedingt weiter! Ich muss euch alleine lassen, ich suche einen neuen Zug für uns. Bleibt in der Nähe. Ich komme euch wieder holen.“
Sprach es und war in der Menschenmasse verschwunden. Wir schauten uns an, einige lehnten sich an Wände, andere stromerten herum, blieben aber in der Nähe.
Ich setzte mich erschöpft in eine Ecke und hatte Angst, abgrundtiefe Angst. Ich muss einen sehr erbarmungswürdigen Eindruck gemacht haben, denn plötzlich sprach mich jemand an.
Erschrocken schaute ich hoch und sah einen Menschen vor mir, der mir ein Brot reichte: „Hier, das ist für dich!“ Ich konnte es nicht glauben, ein ganzes Brot! Ich sprang auf und lief zu den anderen. „Schaut mal, ich habe ein Brot geschenkt bekommen!“
In dem Moment tauchte unsere Lehrerin auf und scheuchte uns zu einem anderen Zug. Wir beeilten uns einzusteigen, da fuhr er auch schon los. Ich reichte der Lehrerin das Brot und sie teilte es unter uns auf, denn wir hatten großen Hunger und durch die abrupte Flucht auch nichts an Essen einpacken können.
Eng gedrängt saßen wir beieinander und hofften inständig, dass kein Fliegerangriff unsere Fahrt stoppen würde. Es war während dieser Zugfahrt, dass meine Lehrerin mich beiseite nahm. „Ich muss dir etwas sagen.“
Sie holte tief Luft und fuhr fort: „Deine Pflegefamilie, bei der du in Roßwein zeitweise gewohnt hast, ist tot.“ Ich schaute sie entsetzt an. „Tot? Das kann nicht sein! Ich habe sie doch gestern noch gesehen“, stieß ich hervor. Sie beugte sich zu mir hinunter und flüsterte mir ins Ohr: „Sie waren Nazis. Sie haben sich erschossen!“ - „Wieso, warum?“ stammelte ich. „Sie hatten als Nazis Angst vor den Russen.“ Verwirrung ergriff mich. Wieso tötet sich eine so nette Familie? Ich konnte es nicht begreifen. Gestern lebten sie noch, gestern hatte ich mit ihnen noch gesprochen, und heute sind sie tot. Das konnte doch nicht sein!
Ich setzte mich in eine Ecke und sagte nichts mehr.
Wernigerode: Wohnen im Forsthaus, um Essen betteln
Nach einigen Stunden kamen wir in Aue im Erzgebirge an. Unsere Lehrerin organisierte für uns eine Schlafmöglichkeit. Wir waren total erschöpft und müde, werden wohl auch bald eingeschlafen sein, während unsere Lehrerin nach weiteren Fahrmöglichkeiten suchte.
Am übernächsten Tag ging unsere Flucht weiter. Wir eroberten uns Sitzplätze in einem Zug. Er fuhr zum Glück nach Westen. Es ging über zerbombte und notdürftig geflickte Gleiskörper, über Behelfsbrücken und durch zerstörte Bahnhöfe. Wir beteten, dass er nicht von Fliegern entdeckt und beschossen würde, hofften, dass er nicht nach ein paar Kilometern stoppen müsste, weil es nicht mehr weiter ging.
Wir hatten Glück. Der Zug fuhr uns bis nach Wernigerode im Harz. Dort war Endstation. Wir stiegen aus. Großer Hunger und Durst quälten uns.
Aber wo sollten wir Essen herbekommen? Wir besaßen doch keine Lebensmittelkarten und auch kein Geld. Wir mussten aushalten.
Zunächst wurde von unserer Lehrerin die Unterbringungsmöglichkeit geklärt. Es wurde uns erlaubt, im Forsthaus unterzukommen. So hatten wir wenigstens ein Dach über dem Kopf. Unseren Hunger konnte unsere Lehrerin nicht stillen. So wies sie uns an, Pilze und Beeren im Wald zu suchen und sagte: „Versucht, ob euch die Leute in der Umgebung etwas zu essen geben.“
Wir schwärmten aus, sammelten im Wald alles, was zu essen war und begannen, bei den Menschen in der Nähe anzufragen, ob sie etwas zu essen für uns hätten.
An Häusern haben wir geklingelt und angeklopft und um Essen gebettelt. „Was willst du? Hau ab, wir haben selbst nichts zu essen!“
Unsere Lehrerin machte sich wohl große Sorgen. Allein mit 30 Kindern und nichts zu essen. Wie sollte es weiter gehen? Wir magerten immer mehr ab.
Flucht mit Vater: Düsseldorf war noch ein weites Ziel
Eines Tages tauchte der Vater einer Mitschülerin auf. Er und seine Tochter verabschiedeten sich und machten sich auf die Heimfahrt. Die Lehrerin hatte wohl die Eltern informiert, dass wir in Wernigerode fest saßen.
Ein paar Tage später kam auch mein Vater, um mich nach Hause zu holen. Er war entsetzt, als er mich sah: verlaust, unterernährt. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Es half nichts. Wir mussten fort.
Ich packte meine Sachen, und mein Vater und ich flohen zu zweit.
Düsseldorf, unser Ziel, war noch sehr weit.
Mein Vater machte einen Zug ausfindig, der in den Westen fuhr. Die Züge waren brechend voll. Man hatte den Eindruck, ganz Deutschland ist unterwegs: Ausgebombte, Flüchtlinge aus dem Osten, Vertriebene, entlassene Soldaten, befreite Häftlinge, Fremdarbeiter, ebenso „Hamsterer“, die auf dem Lande Lebensmittel erbettelten oder tauschten. Uns gelang es, einen Platz im Zug zu ergattern.
Hinterhalt: Auf offener Strecke beschossen
Wir fuhren los. Dann geschah das, was wir befürchtet hatten: Wir wurden auf offener Strecke von feindlichen Truppen beschossen. Panik brach aus. Mein Vater schrie: „Duck dich, Kopf runter, duck dich!“ und presste mich auf den Boden. Glas splitterte, Kugeln schlugen gegen Metall und surrten wie wild gewordene Hornissen durch das Abteil. Schreie wurden laut. Blut rann zu Boden.
Wir waren in einen russischen Hinterhalt geraten. Mein Vater blieb geduckt und deckte mich mit seinem Körper ab. Immer neue Gewehrsalven durchschlugen die Glasscheiben und die Wände. Todesangst erfüllte die Waggons. War das unser Ende?
Da ging ein Ruck durch den Wagen. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und schaffte es weiter zu fahren. Nach einigen Minuten war kein Beschuss mehr zu hören. Es war überstanden, wir waren unverletzt. Ich erhob mich und setzte mich neben meinen Vater. Da fing plötzlich mein Körper an zu zittern. Arme und Beine bebten und ließen sich nicht mehr stoppen. Schockreaktion. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich wieder beruhigte.
Wie lange unsere Flucht vor den Russen dauerte, weiß ich nicht. Ständig waren wir in der Angst, von ihnen überrollt zu werden. An manchen Tagen ging es mit dem Zug nicht weiter, da die Gleise zerstört waren. Dann mussten wir zu Fuß bis zur nächsten Gelegenheit, einen Zug zu erwischen.
Es kam auch vor, dass Züge durch Tiefflieger beschossen wurden. Man wusste oft nicht, ob es besser war, im Zug zu bleiben oder aus dem Waggon zu fliehen und sich irgendwo draußen zu verstecken, entweder im Wald, unter dem Zug, in Unterführungen oder hinter den Zugrädern.
Zum Glück hatte mein Vater schon Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg, so konnte er die Situation blitzschnell einschätzen.
Essen gegen Seife getauscht
Ich hatte Hunger und klagte und jammerte. Vorausschauend hatte mein Vater Seife aus der Firma, bei der er in Düsseldorf arbeitete, mitgebracht. Die tauschte er gegen Essen ein, so dass wir zu Beginn der Flucht den allergrößten Hunger stillen konnten. Wir suchten auch auf den Feldern nach Kartoffeln und freuten uns riesig, wenn wir drei oder vier Kartoffeln fanden.
Später, als mein Vater keine Seife mehr zum Eintauschen hatte, vertröstete er mich, wenn ich vor Hunger weinte: „Später, Gerda, später, wenn wir zu Hause sind, dann kannst du dich satt essen.“
Das Schlimmste auf unserer Flucht passierte eines morgens. Ich weiß nicht mehr, wo das war. Müde und hungrig marschierten wir in einem Flüchtlingstreck. Die Nacht über hatten wir nicht viel geschlafen.
Plötzlich peitschten Gewehrschüsse durch den Morgen. Vater drehte sich um und sah in der Ferne Soldaten, russische Soldaten. Er ergriff meine Hand und schrie: „Lauf, lauf, die Russen kommen!“ Er zog mich mit sich fort. Neben uns fingen auch andere Menschen an zu rennen. Alle rannten um ihr Leben. Die Russen trieben uns mit ihren Gewehrschüssen vor sich her. Nur nicht stolpern, nur nicht schlapp machen! Meine Beine liefen und liefen. Mein Vater lief, mit der einen Hand hielt er mich fest, mit der anderen meinen Koffer. In Todesangst rannten wir so schnell wir konnten. Einschüsse schlugen rechts und links von uns ein, Erde spritzte auf.
Unterernährt, aber gerettet!
Ein Dorf tauchte auf. Mein Vater lief auf die Kirche zu, riss das Kirchenportal auf, zerrte mich mit hinein. Wir fielen auf die Knie, fast besinnungslos. Wir keuchten. Erst nach einigen Atemzügen blickten wir auf. Wir trauten unseren Augen nicht. Vor uns, die wir vor Erschöpfung und Angst zitterten, stand ein Priester mit erhobener Monstranz. Noch heute sehe ich das Funkeln des Goldes und den Strahlenkranz der Monstranz vor mir. Für mich war es wie ein Wunder: Wir waren gerettet.
Später bekamen wir im Pfarrhaus Möhren aus dem Pfarrgarten. Ich spüre noch heute ihre Frische auf meiner Zunge. Endlich etwas zu essen nach so langem Hungern. Wir übernachteten in einem Stall, wo Stroh für uns aufgeschüttet wurde.
Am nächsten Morgen ging es weiter. Wie lange wir noch unterwegs waren und was uns noch alles passierte, das weiß ich nicht mehr.
Mir kam unsere Flucht unendlich lange vor. Doch endlich erreichten wir Düsseldorf. Ich war zwar völlig unterernährt, hatte Läuse und Krätze und es juckte überall, aber sonst waren wir heil zu Hause angekommen.
Auszug aus „Meinem Leben auf der Spur“, erzählt von Gerda K., geschrieben von Christa A. (2010), bearbeitet von Barbara H.
Foto: Alexas Fotos/Pixabay
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