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Kindheit auf dem Bauernhof: Leben zwischen Vieh und Gemüse

Die Großeltern von Edith (Jahrgang 1936) bewirtschafteten einen kleinen Bauernhof in Gehsen, ein kleiner Ort ca. 16 km südlich von Johannisburg (1) entfernt, der nicht etwa in Afrika, sondern in Ermland-Masuren liegt.1930 übergaben sie den Hof an Ediths Vater, der im gleichen Jahr ihre Mutter heiratete.1931 kam Ediths große Schwester Elsbeth auf die Welt.

Die Familie überlebte die Bombenangriffe, musste aber nach dem Zweiten Weltkrieg vor den Russen fliehen.



Der Vater: Vom elterlichen Hof nach Stalingrad

Mein Vater wurde im September 1939 zur Wehrmacht eingezogen und war zunächst in Polen und ab 1941 in Russland stationiert.

1943 geriet er bei Stalingrad in russische Gefangenschaft und blieb im Lager Kaukasus bis 1949. Dort musste er im Straßen- und Häuserbau arbeiten und hat seine Zigaretten in Brot getauscht, um satt zu werden. Er lernte Maurern und Sägen, als Bauer war er ja sehr vielseitig, das hat ihm geholfen. Er musste auch Krankheiten durchmachen, vor allem Malaria, hat aber alles gut überstanden. Diese Zeit hat ihn geprägt und zu einem sehr gutmütigen, ruhigen und stillen Mann werden lassen.

1949 haben die Russen ihn entlassen. Wie das zustande kam, weiß keiner in meiner Familie. Über Friedland ist er dann nach Rendsburg ins Lager zu Frau und Kindern gekommen. 1952 zog die Familie nach Düsseldorf weiter. Hier hat mein Vater ab 1952 erst im Straßenbau, dann bis zu seiner Pensionierung bei Mannesmann als Kranführer gearbeitet. Er wurde 1975 pensioniert und verstarb 1985 in Düsseldorf.

Mutter, Schwester, Omas und Opas

Meine Mutter, Charlotte, hat meinen Vater geheiratet, als sie 16 Jahre alt war, "eingeheiratet" sagte man damals. Sie hat die Familie allein durch den Krieg gebracht, nachdem mein Vater schon 1939 eingezogen worden war. Im Alter von 31 Jahren hat sie unseren kleinen Flüchtlingstreck nach Schleswig-Holstein geführt. Sie ist mit 97 Jahren in Düsseldorf verstorben.

Mit meiner Schwester, die fünf Jahre älter als ich ist, habe ich mich erst besser verstanden, als ich heiraten wollte. Ich war ihr immer ein bisschen im Wege, hatte natürlich schon ganz andere Interessen als ich. Dass sie oft auf mich aufpassen musste, war nicht sehr amüsant für sie. Später hatten wir dann ein ganz herzliches Verhältnis.

Die Großeltern mütterlicherseits bewirtschafteten auch in Gehsen einen etwas größeren Hof, der etwa 500 m vom Hof der Großeltern väterlicherseits entfernt war.


Symbolbild 2


Mein Opa erkrankte 1934 und starb. Meine Oma musste den Hof nur mit Hilfe ihrer Tochter Charlotte alleine bewirtschaften. Ich sehe sie noch vor mir: Sie trug stets ihren schweren, schwarzen, langen Rock, dazu eine helle Bluse und ein Kopftuch. Sie war recht stabil gebaut. Wegen des Kopftuches erschien sie mir immer als alte Frau. Sie ist mit uns auf die Flucht gegangen, erst bis Rendsburg und schließlich auch nach Düsseldorf. Die Ehe meiner Großeltern hatten deren Eltern arrangiert, sie kannten sich vor ihrem Hochzeitstag nicht. Das hat ihre Einstellung zueinander nie beeinträchtigt, sie führten eine glückliche Ehe. Er kam mit Pferd und Wagen vorgefahren, sie ist zu ihm vorne auf den Sitz gestiegen und ab ging die Post zur Kirche. Sie bekamen acht Kinder.


Wie bei Siegfried Lenz

Der Schriftsteller Siegfried Lenz kam aus Lück, ca. 80 km von Johannisburg. Im nahen Allenstein wohnten Masowier, das war eine polnische Enklave. In seiner Erzählung „So zärtlich war Suleyken“ hat er die Eigenart von Mensch und Landschaft haargenau eingefangen, das ist nicht übertrieben, das war so. Da beschreibt er auch einen Mann in einem Zug auf einer der Holzbänke sitzend, das hätte auch mein Vater sein können.


Das Leben auf dem Bauernhof in Gehsen

Als mein Mann und ich 1981 den Ort besuchten, stand das Haus noch, und der Hof wurde von Polen bewirtschaftet.

Wie es war: Unser ehemaliger Hof war vollkommen von einem Bretterzaun umgeben. Das Wohnhaus lag separat ohne Stadtverbindung und konnte nur ebenerdig bewohnt werden. Küche, Wohnstube und gute Stube, Eltern- und Kinderschlafzimmer. Mit meiner Schwester schlief ich in einem Bett. Gewaschen haben wir uns draußen vor dem Haus in der Zinkbadewanne mit Kernseife.

An das Wohnhaus schloss der Gemüse- und Obstgarten an und dahinter gab es einen Schuppen für die Rüben- und Kartoffelroder (2).

Auf der freien Hoffläche im Winkel zwischen der Scheune mit Speicher und einem Stallgebäude für das Vieh befand sich ein Roßwerk (3) mit Mahlsteinen. An den Stall grenzte die Remise (4) für die Kutsche und den Pferdeschlitten. Dahinter befand sich der Mist, neben dem auch ein Plumpsklo stand.

Besonders bei Dunkelheit, Regen oder im Winter war es unangenehm, quer über den Hof laufen zu müssen, um das Häuschen mit dem Herzchen aufzusuchen. Etwas abseits befand sich noch ein Vorratsbunker unter der Erde für Kartoffeln und Futterrüben als Wintervorrat. Das war das Schlimmste für mich, wenn ich im Winter aus dem Bunker Kartoffeln holen musste, von den Spukgeschichten meiner Schwester verängstigt. Sie hat auf mich eingeredet: „Da kam ne Hand, da kam ne Hand!“ und ich bin schlotternd weggerannt.

Daneben stand noch ein Gänse- und Hühnerstall und ein Holzschuppen mit Brennholz. Bei uns gab es keine Kohle zum Heizen. Wir hatten zwei Kachelöfen, in der Wohnstube und in der guten Stube, sowie die Brennhexe (5) in der Küche, ein eiserner Ofen mit zwei Kochstellen, die man durch Ringe vergrößern und verkleinern konnte. Darauf wurden auch Waffeln im Waffeleisen gebacken.

Über dem Herd befand sich die Räucherkammer. In der Küche bestand der Fußboden aus einfachen Backsteinen. Vom Hof holten wir aus Ziehbrunnen das frische Wasser im Eimer in die Küche. Es gab ja kein fließendes Wasser und auch keinen Strom. Das Frischwasser stand auf einem Bock und darunter der Eimer für das Schmutzwasser und Speisereste (Drangeimer), was nach nochmaliger Kontrolle auf Knochen usw. unter das Schweinefutter (gekochte Kartoffeln, auf dem Herd bereitet, oder Gerstenschrot) gemischt wurde. Es wurden keine Seifen zum Spülen verwendet. Wir Kinder haben dann den Topf über den Hof zum Schweinetrog geschleppt. So waren wir wieder beschäftigt.

Als ich drei Jahre alt und Vater 1939 zur Wehrmacht eingezogen worden war, musste meine Mutter den Hof bewirtschaften, genauso wie meine Großmutter, deren Mann verstorben war. Die Höfe wurden also so gut es ging von ihnen bewirtschaftet. Oma und meiner Mutter half ein Franzose. Wir waren Selbstversorgerbetrieb, das ging alles. Mutter war eine richtige Bauersfrau, dort haben die Frauen schon immer tüchtig mitgearbeitet. Sie hatte keine „Russenmädchen“ im Haushalt. Sie war eine Frau, die alles konnte. Sie kümmerte sich auch um das Vieh: zwei Pferde, drei Kühe, einige Schweine, und viele Gänse und Hühner, keine Schafe. So gab es bei uns im Krieg auch keine Lebensmittelmarken. Die lernten wir erst nach dem Krieg in Schleswig-Holstein kennen.

Die kleinen Höfe in Masuren konnten sich selbst versorgen, nur wenige Überschüsse (Butter, Wurst und Getreide usw.) konnten verkauft werden. Vor dem Krieg ging deshalb mein Vater wie alle anderen Bauern im Winter auch mit in den Wald zum Holzschlagen. So konnte er noch etwas dazu verdienen. Das hat auch später noch seine Rente aufgebessert.

Ich hätte sicher als die Jüngere (Jüngstenrecht) unseren Hof übernehmen sollen, meine Schwester sollte etwas anderes lernen, zur Schule gehen. Und das, obwohl meine Schwester schon mit 13/14 Jahren auf dem Hof mitgearbeitet hat. Aber das war ja alles Zukunftsmusik, die durch die Kriegswirren nie Realität wurden. Dennoch glaube ich, dass ich eine gute Bäuerin geworden wäre. Ich war meiner Mutter sehr ähnlich.

Kindheit auf dem Bauernhof 1936 – 1945

Ein großer Tag war immer das Schlachtfest. Das Schwein wurde im Stall getötet. Meine Freundin und ich wollten das sehen. Wir stiegen also über die Leiter auf den darüber liegenden Heuboden und haben die Bretter auseinander geschoben. Nun hatten wir gute Sicht, wie das Schwein ausblutete. Das Blut wurde für die Blutwurst aufgefangen. Die Därme und Gläser mit Wurst gefüllt. Aber da ich Höhenangst bekam, schaffte ich es nicht, wieder auf den Boden herunter zu kommen, das wurde ein Drama.

Unser tägliches Essen war eine sehr bodenständige Kost: Mittags gab es natürlich Kartoffeln, Gemüse und Steckrüben. Fleisch gab es immer dazu. Samstags gab es Besonderes: Bratkartoffeln und Hering, zum Nachtisch Waffeln im Waffeleisen. Zum Abendessen liebten wir die Milchsuppen und auch die Pflaumenkeilchen (süße Suppe mit Backpflaumen und Mehlklößen) oder Grießbrei. Kartoffeln und Brot waren die Grundlage unserer Ernährung. Dazu gab es Wurst aus Gläsern: Grützwurst oder Sülze.

Zu Pfingsten war es Tradition, dass die Bauern einen Ausflug gemacht haben. Die Wagen und die Pferde wurden mit Birkengrün geschmückt. Wer konnte, hatte Musik auf dem Wagen. So sind sie in die Heide hinausgefahren und haben gepicknickt.

Weihnachten kam immer der Weihnachtsmann. Und einmal hatte er Papas Latschen angehabt. Da haben wir ihn erwischt.

Meine Erziehung war nicht besonders streng. Nur einmal bekam ich etwas mit dem Feuerhaken auf den Po. Ich wollte kein Holz aus dem Holzschuppen holen. Elsbeth wollte das auch nicht. Also holte ich das Holz. Aber Elsbeth hat mit einer Kartoffel nach mir geworfen und mich an der Stirn getroffen. Heulend stand ich vor meiner Mutter, da habe ich noch eins mit dem Feuerhaken darauf gekriegt. Das war so ungerecht, ohne zu fragen, was passiert war. Aber sonst stand sie mir immer bei. Dagegen wurde in der Schule sehr viel geprügelt. Der arme Lehrer musste in einem einzigen Raum acht Klassen betreuen. Disziplin war das oberste Gebot.

Eigentlich verbrachte ich viel Zeit bei meiner Oma, da dort die Kinder der Tanten wohnten. Meine Mutter musste ja die Viecher versorgen. So gingen wir vor der Schule in Omas Stall, um etwas kuhwarme Milch abzuschöpfen, und zusammen mit einem Stück Brot war das unser Frühstück. In Begleitung von den zwei bis drei Freundinnen aus der Nachbarschaft ging es nun zur Schule in Gehsen. Danach haben wir in der Scheune und im Stall gespielt und getobt, auch unvorsichtigerweise mal ein Feuer zur Aufregung der Erwachsenen im Garten entfacht. Mutter hat zwar geschimpft, aber es gab keine Schläge

Bei uns gab es weder Zeitung, Radio noch Telefon, nur in der Post gab es das. Im Flur des Postgebäudes sprach mal jemand ins Telefon. Und ich wusste nicht, mit wem er sich unterhielt. Da bin ich um das Haus herum gegangen, um denjenigen ausfindig zu machen, weil ich keine Ahnung hatte, wie so ein Telefon funktionierte.

Beginn des Zweiten Weltkrieges im Herbst 1939

Nach Kriegsbeginn ging der Alltag in dem kleinen Dorf fast normal weiter. Es wurde gesät und geerntet. Ich musste weiterhin Gänse hüten. Da waren dann eben auch die Fremden da. Es gab ein großes Polenlager in der Nähe: Tagsüber gingen die polnischen Kriegsgefangenen auf einem der deutschen Bauernhöfe arbeiten, abends mussten sie wieder ins Lager.

Sie sind nicht ganz ungern arbeiten gegangen, da sie etwas zu essen bekamen. Auf unserem Hof lebte nur der französische Gefangene, das war ein ganz feiner Mensch. Der hat sich nicht zu uns an den Tisch gesetzt, trotz Aufforderung. „Nix, Madame“, sagte er und blieb am gesonderten Tisch. Der Franzose hat auch nicht auf dem Hof geschlafen, sondern in einem Sammellager für Kriegsgefangene. Später ist er mit uns noch auf die Flucht in Richtung Westen gegangen. Als die Russen kamen, haben sie ihn sofort erschossen.

Als wir den ersten Tiefflieger über unserem Dorf gesehen hatten, sind wir alle hinaus gelaufen und haben gewunken. Und zwei Kilometer weiter wurde der Bahnhof bombardiert. Das war das erste Mal, dass ich in einen Keller gezogen wurde. Und da habe ich mir geschworen: Nie wieder gehe ich in einen Keller, wenn Bombenalarm sein sollte. Da fühlte ich mich wie in einer Mausefalle.

Gegen Ende des Krieges 1944/45 kam der Bruder meiner Mutter und verkündete: „Es ist aus! Ich baue euch einen Wagen mit Sperrholzplatten und zwei Pferden davor.!“ Das war ja offiziell verboten. Der Wagen wurde in der Scheune versteckt und abgedeckt. Wir Kinder durften nicht hineingehen, waren aber natürlich neugierig und wollten sehen, was die Sägegeräusche und Hammerschläge bedeuteten.


Meine Oma glaubte da schon nicht mehr an einen Sieg. Das hat sie sogar mal einem Offizier gesagt. Dieser blaffte sie nur an: „Halten Sie den Mund, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.“ Das war strengstens verboten und galt als Defätismus (6). Die Propaganda hielt die Bevölkerung mit der Mär über die Wunderwaffen bei Laune, die ein Phantasma blieben. Unsere Flucht ist dann eine andere Geschichte ...

(1) Johannisburg (heute Pisz) liegt in der Region Masuren im historischen Ostpreußen, 110 km östlich von Olsztyn (früher Allenstein), heute Polen.


(2) Kartoffelroder (s. Foto) sind spezifische Erntemaschinen für Kartoffeln. Sie sind Arbeitsgeräte, welche in der Landwirtschaft zur Ernte verschiedener Knollengemüse, vor allem aber der namensgebenden Kartoffel, eingesetzt werden.

(3) Das Roßwerk, auch Göpelwerk genannt, ist eine Kraftmaschine, die durch Muskel-, Wasser-, Wind- oder Dampfkraft angetrieben wird.


(4) Die Remise ist ein Wirtschaftsgebäude mit Unterstand, das in der Regel an der rückwärtigen Grundstücksgrenze für Fahrzeuge oder Geräte errichtet wurde.


(5) Eine Brennhexe, auch Kochhexe genannt, war ein einfach hergestellter Ofen oder Herd, der mit Holz, Briketts oder Torf betrieben wurde. Verbreitet waren in der Kriegs- und Nachkriegszeit Kochhexen, die in rechteckiger Gestalt aus starkem Eisenblech gefertigt waren. Durch Herausnehmen unterschiedlich großer Ringe konnte man verschieden große Töpfe einsetzen, die dann direkt über dem Feuer hingen. Unter der Herdplatte befanden sich entsprechend die Befeuerungsöffnung, darunter ein Aschenbehälter. Meist hatten diese Öfen auch eine mit einer Klappe versehene kastenförmige Öffnung, die als Backofen genutzt werden konnte. Als Rauchabzug diente das Ofenrohr, das meist über eine Aussparung im Fenster nach außen geführt wurde (damit eine Kohlenmonoxyd-Vergiftung vermieden werden konnte). Im Zweiten Weltkrieg wurden sie in Flüchtlingslagern ... eingesetzt.


(6) Defätismus kann als Zustand der Mutlosigkeit oder Schwarzseherei beschrieben werden. Ursprünglich bezeichnete er die Überzeugung, dass keine Aussicht (mehr) auf den Sieg besteht, und eine daraus resultierende Neigung zum Aufgeben.

Quellen: Wikipedia


Auszug aus "Reinhard und Edith T. erzählen aus ihrem Leben in Kriegs- und Nachkriegszeiten“;

Erzählung von Edith T., aufgeschrieben von Bernhard S. (2016), bearbeitet von Barbara H. (2022)


Symbolfoto: K. Paulick/Pixabay

Symbolfoto 2: Barbara H.

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