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Flucht aus Masuren: Frost, eiskalter Ostwind und Schneesturm

Edith T., Jahrgang 1936, lebte mit ihren Großeltern und Vater auf einem kleinen Bauernhof in Gehsen, ca. 16 km südlich von Johannisburg (1) in Ermland-Masuren (Foto: Masurensee). 1930 heirateten die Eltern und die Schwester wurde geboren. Dann wurde der Vater in den Krieg nach Russland geschickt, kam in russische Gefangenschaft und erst 1949 entlassen.

Nach dem Krieg musste Edith mit der großen Familie aus ihrer Heimat Ostpreußen fliehen, da war sie gerade mal neun Jahre alt. Die Deutschen hatten den Krieg verloren und erst besetzten die Russen, dann die Polen ihren Hof. Das Leben auf dem Bauernhof hatte sich verändert.


Bombenalarm: Keller war wie eine Mausefalle

Nach Kriegsbeginn 1939 ging der Alltag in dem kleinen Dorf fast normal weiter, auch ohne Vater. Es wurde gesät und geerntet. Ich musste weiterhin Gänse hüten.



Da waren dann eben auch die Fremden da. Es gab ein großes Gefangenenlager für Polen in der Nähe: Tagsüber gingen die polnischen Kriegsgefangenen auf einem der deutschen Bauernhöfe arbeiten, abends mussten sie wieder zurück ins Lager. Sie sind nicht ganz ungern arbeiten gegangen, da sie etwas zu essen bekamen.

Als wir den ersten Tiefflieger über unserem Dorf gesehen hatten, sind wir Kinder alle hinaus gelaufen und haben gewunken, fanden das toll, weil wir nicht wussten, was das bedeutete. Zwei Kilometer weiter wurde der Bahnhof bombardiert. Da wurde mir klar, dass mit den Fliegern Gefahr verbunden war.

Das war das erste Mal, dass ich in einen Keller gezogen wurde. Und da habe ich mir geschworen: Nie wieder gehe ich in einen Keller, wenn Bombenalarm sein sollte. Da fühlte ich mich wie in einer Mausefalle.

Gegen Ende des Krieges 1944/45 kam der Bruder meiner Mutter und verkündete: „Es ist aus! Ich baue euch einen Wagen mit Sperrholzplatten und zwei Pferden davor!“.

Das war ja offiziell verboten. Der Wagen wurde in der Scheune versteckt und abgedeckt. Meine Oma glaubte da schon nicht mehr an einen deutschen Sieg.

Im Flüchtlingstreck: Eimer Schmalz bewachen

Im Januar 1945 sind wir klammheimlich bei Nacht und Nebel weg und wollten uns bis Stettin (2) durchschlagen. Wir sind vom Onkel ja vorgewarnt worden, hatten schon unseren Wagen gepackt und mit Planen versehen.

Nachts kam der Bürgermeister, klopfte an die Scheibe und rief meiner Mutter zu: „Charlotte, es ist so weit! Wir müssen weg!“

Mit Pferd und Wagen sind wir aufgebrochen: Großmutter, Mutter, Schwester und eine Schwester meiner Mutter. Noch heute frage ich mich: Wo kam das viele Fleisch her, mit denen die 20-Liter-Milchkannen vollgestopft waren? Da musste ja vorher unbemerkt auf Vorrat geschlachtet worden sein, das hielt ja einige Zeit bei -20 Grad Celsius. Die Milchkannen hingen außen am Wagen. Und wir hatten auch einen Eimer mit Schmalz dabei. Nachdem wir das Zuhause verlassen und uns den Fliehenden angeschlossen hatten, mussten wir unterwegs irgendwo übernachten, meist auf den leerstehenden Höfen derjenigen, die schon vor uns gegangen waren. Da haben wir alle auf der Erde geschlafen, dicht bei dicht.

Wir waren froh, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten. Einer musste bei Pferd und Wagen bleiben und Wache schieben. Die anderen gingen ins Haus oder in die Scheune. Ich musste mit dem Eimer Schmalz zwischen den Knien schlafen und auf ihn aufpassen. Und irgendein anderer Flüchtling hat ihn mir doch geklaut. Es waren ja immer noch andere Flüchtlingswagen dabei. Wir befanden uns mitten im Treck (3).

Schock: Mutter war weg

Auf unserem Weg in Richtung Westen durfte ich auf dem Wagen sitzen, die anderen mussten nebenher laufen. Wir kamen nur langsam voran. Der Ostwind pfiff kräftig. Da hatte plötzlich jemand die Idee, zwei aus der Familie sollten schon mal vorgehen. Und so wurde meine Mutter und ihre Schwester sozusagen als Vorhut vorausgeschickt, um ein Nachtquartier zu sichern. Meine Schwester blieb mit mir auf dem Wagen zurück.

Doch auf einmal wurde der ganze Treck auf eine Nebenstrecke geleitet, um den Weg für deutsche Soldaten in Truppenverbänden, die auf dem Rückzug waren, frei zu machen. Und da waren wir nun getrennt. Das war mein erster Schock auf dieser Flucht.

Zwei bis drei Tage blieben wir getrennt, bei Frost und eiskaltem Ostwind und Schneesturm. Ja, da war meine Mutter weg. Der Franzose, der zeitweise auf unserem Hof gearbeitet hatte, saß auf dem Bock und schwang gerade die Peitsche, als jemand hinter ihm sie festhielt und daran zog. Er drehte sich um und sah meine Mutter. Es war das erste Wunder auf dieser Flucht, dass sie uns wieder gefunden hatte.

Platzangst im Panzer – Zum Glück habe ich geschrien

Wir wurden von deutschen Panzern überholt. Als die Soldaten mich mit meinen blonden Locken sahen, riefen sie: „Dich nehmen wir mit!“.

Meine Mutter stimmte zu, dass sie meine Schwester und mich bis zu einem vereinbarten Ort mitnähmen, das machte es den Älteren etwas leichter. Sie verstauten uns zwei im Panzerinneren und fuhren los. Ich bekam Angst, weinte und schrie, vielleicht war das Platzangst, vielleicht auch wegen des höllischen Lärms, vielleicht aber auch aus Angst, die Mutter wieder zu verlieren. Die Soldaten versuchten, uns mit Dr. Hiller‘s Pfeffermünzbonbons zu beruhigen, bis uns fast schlecht wurde.

Aber ich schrie weiter. Da hielten die Soldaten an und setzten uns am Wegesrand ab. Wir warteten nun auf unseren Wagen. Als wir ihn bestiegen hatten, hörten wir einen furchtbaren Knall, ein-, zwei-, dreimal, und kräftige Explosionen. Wir erfuhren, dass die Panzer auf eine Mine gefahren waren. Das war mir Gottseidank erspart geblieben – ich hatte zu Recht geschrien, ich wollte da raus.

Russe: „Frau, komm mit!“

Wir waren nur bis zur Mitte Ostpreußens gekommen, da überrannte uns der Russe. Panzer haben wir nicht gehört, nur Schüsse und Detonationen in der Ferne. Wir befanden uns in einem Bauernhaus, als wir sie draußen sahen.

Die Russen kamen auf Pferden, die zum Teil auch alle möglichen Wagen zogen. Der Kommandant und die Soldaten, die vorbeizogen, waren ja ganz hübsche Kerle. Die sind da siegessicher durch den Ort gefahren. Die Pferde waren mit Teppichen oder Decken bedeckt. Die Männer trugen dicke Pelze auf den Schultern, schwangen die Peitsche und donnerten durch das Dorf.

In einen großen Raum wurden 15 bis 20 Stühle gestellt und es kam das Kommando: „Setzt euch hin!“. Die Russen pflanzten sich mit dem Gewehr vor den Frauen auf und riefen nur: „Frau, komm mit!“ und holten die Frauen – eine nach der anderen – heraus.

Was sollten sie machen, sie mussten mit – das weiß ich heute. Sie kamen auch wieder, aber...

Ich wurde von einem Schoß zum anderen gereicht, weil die Frauen hofften, dass die russischen Soldaten Frauen mit Kindern nicht mitnähmen. Die Frauen klammerten sich an mir fest. Ich wusste ja nicht, worum es ging. Meine Mutter und meine Tante hatten sich wahrscheinlich bei Pferd und Wagen aufgehalten oder versteckt. Meine Schwester mit ihren fast 14 Jahren war dagegen eher bei den Großen als bei mir zu finden, aber meine Oma stand mir bei.

Der Franzose, der unseren Wagen gefahren hatte, wurde von den Russen gleich erschossen. Dann mussten wir Pferd und Wagen stehen lassen – die Wagenladung stand irgendwo auf einem Hof. Ich habe noch die Federbetten und die Fleischkannen vor Augen, und meine Oma saß mittendrin als Wache. Da sah ich, wie sie eine Kanne aufmachte und ein Stück Fleisch herausnahm. Sie hatte vorne nur noch zwei Zähne, aber aus Wut hat sie in das gefrorene Fleisch gebissen.

Dort, wo wir nun waren, hielten sich auch noch Polen auf. Die boten an, uns mit Sack und Pack auf ihrem Wagen zurück in unsere Heimat mitzunehmen. Wir dachten, jetzt können wir wieder nach Hause und wie früher leben. Ich saß wieder auf dem Wagen, die anderen liefen wieder nebenher. Rechts und links neben der Straße lagen Leichen, ein wahres Massaker. Plünderung, Brandstiftung, Vergewaltigung, alles geschah. Es war ein furchtbares Elend. Wir marschierten weiter, doch kamen nicht weit. Als wir einer Frau mit ihren neun Kindern aus unserem Heimatdorf begegneten, wusste sie schon, dass bei uns alles kaputt war. Haus und Stall waren verbrannt, die Scheune abgebaut. „Geht nicht nach Hause, bleibt hier!“.

Und da blieben wir in diesem Dorf Pülz bei Rastenburg (4) – von Januar 1945 bis Juli 1946. Und die Polen zogen mit unseren schönen Fleischvorräten von dannen. Wir standen mit leeren Händen da.

Mutter war wieder weg

In Pülz kamen die Russen mit LKW an und haben alles, was laufen konnte, aufgeladen. Meine Tante und meine Schwester hatten sich versteckt, aber meine Mutter haben sie erwischt. Drei Wochen war sie verschwunden. Und das hieß: weg ist weg. Später erfuhren wir, dass sie in ein Sammellager bei Rastenburg gebracht worden war, wo sie verhört wurde. Jeden einzelnen verhörten sie und alles, was irgendwie laufen konnte, kam nach Sibirien.

Ein Russe sagte zu ihr: „Du bist doch jung, du bist doch schön, du warst doch in der Partei, beim BDM (5) in der NS-Frauenschaft!“. Sie antwortete wahrheitsgemäß: „Ich musste auf dem Hof arbeiten bei uns auf dem Dorf. Da gab es ein paar hundert Leute, die mich brauchten. NS-Organisationen haben bei uns keine Rolle gespielt."

Das hatte der Russe tatsächlich geglaubt. Sie konnte gehen und kam wieder in den Saal zurück, während andere sofort aussortiert und mit dem Zug nach Sibirien abtransportiert worden sind. Der

Kommandant kam wieder in den Wartesaal und fragte in die Runde: „Kann jemand von Euch nähen?“ Durch ihre Polnischkenntnisse hatte Mutter den Sinn des Satzes erfasst und sich gleich gemeldet. Sie kam in die Nähstube des Lagers und hat den Offizieren ein paar Tage lang die neuen Schulterklappen mit den Sternchen auf die Uniformjacken und -hemden genäht.



Dieser Offizier hat sie nachher nach Hause gebracht. Er musste nach Warschau und unser Dorf Pülz lag an der Strecke nach Warschau. Und so kam sie nach Hause. Das war die reinste Freude. Das kann man sich gar nicht vorstellen.

„Charlotte, Charlotte! Frieden, Frieden!“

In Pülz standen viele Häuser leer, weil die Leute alle geflohen waren. Also gab es gar kein Problem, unterzukommen. Wir sind in eine alte frühere Fleischerei eingezogen, weiß gekachelte Wände kommen mir in den Sinn und die Apparaturen der Fleischerei.


Wir quartierten uns im Keller dieses Hauses ein. Um das Dorf herum lagen noch einzelne Gehöfte mit größeren Bauernhäusern. Meine Mutter hat sofort Arbeit in der Landwirtschaft gesucht. Die größeren landwirtschaftlichen Betriebe waren schon von den Russen übernommen worden.

Mutter lernte einen Bauern kennen, der sie gleich angeheuert hatte. Er brauchte sie zur Unterstützung seiner Frau, die alleine auf seinem kleineren Hof wirtschaftete. Er selbst musste ja für die Russen arbeiten. Und er bot Mutter an, mit der ganzen Familie auf seinen Hof zu ziehen. Bei seiner Frau auf dem Hof ging es uns recht gut. Wir hatten zu essen und fühlten uns gut aufgehoben. Die Russen kamen auch auf den Hof und nahmen sich, was sie brauchten. So haben wir uns mehr recht als schlecht durchgeschlagen.

Ich sehe mich noch im Frühsommer 1945 beim Kartoffelpflanzen, als plötzlich jemand über den Acker gelaufen kam und rief: „Charlotte, Charlotte! Frieden, Frieden!“ Das war der 8. Mai 1945, die Arbeit blieb überall liegen und es wurde nur noch gefeiert.

Wir mussten wieder weg

Erst lebten wir unter dem Regime der Russen. Das ging so bis die Polen im Herbst 1945 nach dem Potsdamer Abkommen am 2.8.1945 und der Teilung Ostpreußens gekommen waren. Da gehörten wir plötzlich zu Polen. Die Polen wollten uns von dem Hof jagen. Oma erinnerte sie daran, dass wir ja nur zwei km von der Grenze entfernt gewohnt hatten, praktisch Nachbarn waren und Speck gegen Schuhe oder Kleidung getauscht hatten.

Der Schwarzhandel hatte im Krieg geblüht. Zu unserem Glück schubste der Pole daraufhin alle anderen Drangsalierer weg und gab uns immerhin einen Tag Zeit zu verschwinden. Kaputt gemacht hat er uns nichts im Gegensatz zu den anderen Flüchtlingen. Da hatte es Mord und Totschlag gegeben. Wir hatten bei allem Schrecklichen richtig Glück gehabt. Aber nun mussten wir den Hof verlassen.

Im Dorf fanden wir ein unbewohntes Haus, in das wir uns einquartieren konnten. Wir hatten auch die Bäuerin, Frau Albrecht, mitgenommen, weil auch sie ihren Hof verlassen musste. Mutter, Schwester und Tante arbeiteten in der Mühle und brachten natürlich jeden Tag in ihren Taschen Mehl nach Hause. So haben wir uns dort ernährt.

Für uns Kinder gab es keine Schule, wir blieben die ganze Zeit zu Hause. Wir spielten und einmal sind wir auf dem Mühlenteich Boot gefahren, bis wir in den Strudel der Schleuse geraten waren. Da haben uns die Russen gerettet. Auf dem Dachboten fanden wir beim Spielen eine Hakenkreuzfahne gefunden, das war eine gefährliche Situation.

Die Russen hätten denken können, dass wir Nazis waren. Meine Mutter hat aus dem Stoff ein Kleid für mich und für meine Schwester eine Schürze genäht. Der Rest wurde verbrannt – Glück gehabt. Den Hof hatten wir verlassen, aber als wir die polnische Staatsbürgerschaft annehmen sollten, beschlossen wir, weiter zu ziehen, in Richtung Westen ...


(1) Johannisburg (heute Pisz) liegt in der Region Masuren im historischen Ostpreußen, 110 km östlich von Olsztyn (früher Allenstein), heute Polen.

(2) Stettin ist … die siebtgrößte Stadt Polens. … Sie liegt in der Nähe der südlichen Ostseeküste an der Mündung der Oder in das Stettiner Haff, etwa 105 km südöstlich von Greifswald und 125 km nordöstlich von Berlin. Das Stadtgebiet grenzt mit seinen Vororten im Westen an die Länder Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg.

(3) Treck: Das im Deutschen eher selten gebrauchte Wort drang erst angesichts der Flüchtlingsströme am Ende des Zweiten Weltkrieges in die Umgangssprache ein. Im Winter 1944/45 starteten die ersten Flüchtlingstrecks vor der russischen Front in Osteuropa, Westpreußen, Pommern, Schlesien sowie dem Sudetenland u.a. in Richtung Westen. Mindestens zwei Millionen Menschen starben. Als Treck wird seither ein gemeinsamer Zug von Auswanderern, aber auch von Flüchtlingen oder Vertriebenen aus ihrer Heimat in ein anderes Gebiet bezeichnet, oft als Folge von Änderungen von Staatsgebieten in Kriegen und unter Verwendung primitiver Transportmittel, das heißt, zu Fuß und mit von Zugtieren gezogenen vielfach überladenen Fuhrwerken mit allen noch transportablen Habseligkeiten über eine große Distanz. Durch Erschöpfung, Krankheit und schlechte Versorgung sind viele Menschen und Tiere überfordert worden und erreichten das Ziel nicht.


(4) Pülz war eine Gemeinde im Landkreis Rastenburg und gehörte zu Ostpreußen. Seit 1945 gehört das Dorf zu Polen und heißt auf polnisch Pilec.


(5) Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war in der Zeit des Nationalsozialismus (NS) der weibliche Zweig der Hitlerjugend (HJ). Darin waren im Sinne der totalitären Ziele des NS-Regimes die Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren organisiert. Außerdem gab es in der Hitlerjugend den Jungmädelbund (JM) für 10- bis 14-jährige Mädchen. Aufgrund der ab 1936 gesetzlich geregelten Pflichtmitgliedschaft aller weiblichen Jugendlichen, sofern sie nicht aus „rassistischen Gründen“ ausgeschlossen waren, bildete der BDM die damals zahlenmäßig größte weibliche Jugendorganisation der Welt mit 4,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 1944.


Alle Quellen: wikipedia

Auszug aus "Reinhard und Edith T. erzählen aus ihrem Leben in Kriegs- und Nachkriegszeiten“, erzählt von Edith T.; aufgeschrieben von Bernhard S. (2016), bearbeitet von Barbara H. (2022)


Symbolfoto 1: Pixabay

Symbolfoto 2 + 3: privat; Barbara H.

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