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Kindheit in Eisenbahner-Familie – Bombardierung kurz vor Kriegsende

Wolfgang erzählt sein Leben als typischer Berliner, 1932 geboren, und – wie er betont: vor der Machtübernahme (1). Er lebte in Berlin Lichtenberg am Bahnhof Ostkreuz, und er empfand seine Kindheit „unbeschwert“. Er klingt selbstbewusst, wenn er von sich sagt, dass sein Sternzeichen Krebs ist, von dem manche sagen: Das sind die Besten!


Symbolfoto: Erich Westendarp/Pixabay


Oma und Opa und die Eltern

Mein Vater war arbeitslos, aber das war keine Seltenheit zu dieser Zeit. Ich habe meine Kindertage oft bei meinen Großeltern väterlicherseits verbracht. Sie wohnten – ähnlich wie wir – in einer überwiegend aus Einfamilienhäusern bestehenden Siedlung in Berlin Mahlsdorf, etwas außerhalb, südlich von Hoppegarten. Ich wohnte mit meinen Eltern in einem dieser Bauten, der ganz besonders gebaut war: Die Treppenhäuser waren rund gebaut. Und obwohl sie viel Holz enthielten, gedrechseltes Holz am Geländer, fast wie Fresken an den Zapfen, sehr schön, blieb davon trotz späterer Brände während des Krieges eine Menge erhalten. Heute wäre so etwas viel zu teuer und zu aufwändig. Acht Mietparteien wohnten in dem Haus. Dort habe ich meine Jugend verbracht, und habe oft auf dem Bürgersteig vor dem Haus gespielt.


Keiner dachte dabei an Vernichtung

Trotz der Anspielung, dass „soviel passiere“, habe ich noch lange Zeit Juden (2) und Russen fast täglich dort vorbeigehen sehen. Das waren sogenannte Zwangsarbeiter. Fast täglich gingen sie zu ihrer Arbeitsstelle. Wir wussten, dass die Juden an ihrem Stern auf der Kleidung und die Russen an ihrem Käppchen zu erkennen waren. Da hat keiner an Vernichtung (3) gedacht, denn sie kamen am nächsten Morgen wieder und gingen am Abend zurück.


Mein Vater kam tatsächlich glücklich und sehr zeitig aus der Gefangenschaft zurück. Er war im Zweiten Weltkrieg (4) bei den Eisenbahnpionieren gewesen, in Fulda in Gefangenschaft geraten und bekam früh seine Entlassungspapiere. Die Amerikaner, die dort Besatzer (5) waren, hatten eine Menge Büchsen gehortet. Aus denen hatte einmal mein Vater aus einer größeren und einer kleineren Büchse eine Art Ofen gebaut. Ein kleines Holzstück kam in die kleinere Büchse – und schon kochte das Wasser. Manche Amerikaner hatten Angst, den Deutschen überhaupt irgendwelche Büchsen zu geben, weil sie wohl dachten, dass die Deutschen sofort ein Maschinengewehr daraus bauen würden. Dann kam mein Vater nach Thüringen zu einem Bauer und kurze Zeit später wurde er nach Hause entlassen.


Ich habe noch eine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester und einen vierzehn Jahre jüngeren Bruder. Während des Krieges war ich oft bei meinen Großeltern in Berlin Mahlsdorf, war also der Älteste der Enkelkinder – und ich wurde dort ziemlich verwöhnt. Mahlsdorf hatte einen eigenen Kopfbahnhof (6), zu dem man mit der Dampflok hinausfuhr. Es ist ein sehr ländliches Gebiet. Als die Russen nach dem verlorenen Krieg der Deutschen später einmarschierten, bekamen wir keine Notrationen ab, weil es hieß, wir seien „Selbstverpfleger“. Dort sah es so ähnlich aus wie heute in Düsseldorf-Urdenbach: ohne Hochhäuser, wirklich sehr ländlich.


Alle Männer in der Familie waren Eisenbahner

1934 hatte mein Vater wieder eine Arbeitsstelle bei der Bahn bekommen. Gelernt hatte er Autoschlosser. Ja, später war er Eisenbahner. Das bedeutete auch, dass er auf der Soldatenuniform auf den Achselstücken ein < E > trug. Anfangs holte er täglich sein Stempelgeld ab und suchte sich die eine oder andere kleine Nebentätigkeit. Die Großeltern in Mahlsdorf und auch die meiner Mutter aus Ostpreußen schickten schon mal Pakete und halfen uns damit. Mutter kümmerte sich hauptsächlich um den Haushalt. Später, im Krieg, musste sie zwar nebenher auch noch arbeiten, weil sie nur zwei Kinder hatte und die Männer alle weg (im Krieg) waren. Mein Bruder kam ja erst nach dem Krieg zur Welt. Mutter hatte in der Zeit stundenweise bei der Post gearbeitet.


Unsere Schule lag ganz nahe um die Ecke. Damals kümmerte sich keiner darum, ob derjenige, der neben einem saß, Jude, Neger, katholisch oder evangelisch war. Das einzige war: Wenn der katholische Pfarrer kam, konnten wir gehen; und wenn der evangelische Kollege kam, gingen die anderen. Der Religionsunterricht lag immer am Schluss der Schulstunden.


Glücklich im Berliner Garten

Die Ferien habe ich oft bei den Großeltern in Mahlsdorf verbracht. Herrlich! Sie besaßen einen sogenannten Doppelgarten mit Hühnern, ein paar Karnickel, Stachelbeeren und Feuerbohnen. Großvater war auch bei der Eisenbahn. Als er pensioniert war, arbeitete er als Rangiermeister. Ich war glücklich, dass ich dort so viel Zeit verbringen konnte und als Kind das bekam, was man als Kind braucht: Vitamine und viel Bewegung. Mein Vater hat mich schon mit fünf Jahren auf  die Bahn gesetzt, vorne in den Dienstwagen, und dann bin ich alleine rausgefahren, am Bahnhof ausgestiegen und den Rest zu Fuß gelaufen. Mein anderer Großvater war übrigens auch bei der Bahn, in Osterode in Ostpreußen. Das war Zufall.


Mein Vater hat als Schlosser bei der Bahn angefangen. Später, 1936, hat er mit im Messwagen der 05, der Weltrekordlok, gesessen, die zwischen Berlin und Hamburg über 200 km/h erreichte. Das war für eine Dampflok ja ziemlich viel. Und es gab noch den „Fliegenden Holländer“, bei dem man aber später den Propeller abmontierte, weil zu viele Vögel angesaugt wurden. Dass alle Männer bei uns Eisenbahner waren, ist reiner Zufall: Ich machte 1947 bei der RAW in Eichkamp meine Lehre (unweit der Deutschlandhalle, beim alten Funkturm), mein Vater war auch dort, und auch die Großväter wurden anderswo Eisenbahner.

Ich arbeitete übrigens nicht weit entfernt von der Avus. Ich habe oben gestanden, in der alten Nordkurve. Unten ging es herum. Heute sind die Rennstrecken ja nur noch vergrößerte Go-Cart-Bahnen! Und an den alten Funkturm habe ich auch noch Erinnerungen: Es war 1942, glaube ich, da waren wir einmal dort. Da gab es im Sommer immer ein Fest – entweder war es die Camilla-Meyer-Truppe oder die Traber-Renz-Truppe. Damals stieg ein Mädel vom Sommergarten aus bis zur ersten Plattform über ein Drahtseil hinaus, 250 m auf einem Seil. Das hat mich als Junge schon beeindruckt, das war noch etwas! Oder der Schwebemast, auf dem die Akrobaten Kopfstände gemacht haben.


Während ich meine Lehre machte, bin ich dort auch zur Schule gegangen. Meine Schwester war von meinen Eltern während der schlimmen Kriegsjahre in der Doktor-Goebbels-Schule angemeldet, die einen eigenen Bunker hatte. Der Sohn der Nachbarin ging auch dorthin. Meine Eltern dachten, dass sie dort gut aufgehoben sei. Aber die Schule wurde nach Ostpreußen evakuiert. Meine Mutter meldete sich, dass sie aber auch noch einen Jungen habe. Und so kamen wir 1943 nach Mühlhausen in Ostpreußen, in die Nähe von Elbing.


Im Sommer 1944 hatten wir Ferien und machten auf der „Frischen Nehrung“ ein paar Tage Urlaub. Ostpreußen war so anders, irgendwie schön – das waren ganz feine Leute dort. Sie hatten Forst- und Landwirtschaft und bauten Kutschen. Eigentlich haben wir nur herumgetobt. Wenn die zwei Franzosen, die dort als Kriegsgefangene arbeiteten, ihr Monatspaket erhielten, bekamen wir Kinder immer Schokolade ab.

Oder wenn geschlachtet wurde, dann hieß es: Wolfgang, warte mal – Wolfgang, warte – komm mal her! Und dann gab es noch warmes Wellfleisch. Das hat geschmeckt. Nach der Schule sind wir über Felder gelaufen. Und einmal habe ich den Kastenwagen mit dem vorgespannten Fuchs bis in die Mitte des nächsten Dorfes gefahren, wo ein Bettgestell abzuholen war, polternd, lärmend und mit großem Hallo kam ich über das Kopfsteinpflaster gefahren. Und dann mit zwei Mädels ging es zurück. Und mit jeder Bodenwelle schien der Fuchs schneller zu laufen. Ach, das war etwas Herrliches!


In Thüringen musste die Kuh den Wagen ziehen

Nach ein paar Tagen wurden wir zurückbeordert, weil die Russen immer näher kamen und die ganze Schule wieder evakuiert wurde. Also ging es in die andere Richtung nach Thüringen, in ein kleines Dorf bei Meiningen an der Werra. Der Fluss teilte den Ort regelrecht. In der Mitte, auf dem Platz, stand noch ein großer Ofen zum Backen.

Und nun Thüringen. Zwei Töchter waren da. Die eine war etwas kränklich und in Kur gewesen. Dann hieß es: Wolfgang, da hast du den Wagen, hol die Tochter vom Bahnhof ab. Vor den Wagen wurde eine Kuh gespannt – mein Gott – vorher so schöne Pferde – und dann eine Kuh, und zwar vier Kilometer!


1944 sind wir aber doch nach Berlin zurück, obwohl es ja dann so richtig los ging mit Bombenalarm und so. Meine Schwester kam zu meiner Tante in Wedding, die aber dann ausgebombt wurde und ein Behelfsheim in Birkenwerder zugeteilt bekam.


Vollalarm an Mutters Geburtstag

Es war der 26. Februar 1945, ich werde den Tag nie vergessen, denn es war Mutters Geburtstag. Es war nur Wochen vor dem Kriegsende! Von allen Gebäuden stand nur noch unser Trakt, unser Seitenflügel war ausgebrannt. Der Tisch war schon gedeckt, dann gab es den Voralarm. Och, dachten wir, das geht gut, doch auf einmal gab es Vollalarm. Urplötzlich ging es los, und wir rannten in den Keller und hatten noch Glück. Im Nachbarhaus war eine Phosphorbombe niedergegangen. So ging das oft. Erst wurden die Brandbomben geworfen, und wenn die Leute helfen kamen, ging es noch einmal los und es wurden Minen abgeworfen. Glücklicherweise geschah das aber dieses Mal nicht.


Die letzten Tage des Krieges lebten wir bei der Großmutter in Mahlsdorf. Dort gab es auch einen Bunker. Oben auf dem Dach wehte eine weiße Fahne, und die Flieger flogen darüber, ohne uns zu bombardieren. Als die Russen einmarschierten, dachten wir alle erst: Oh Gott! Aber die meisten Russen verhielten sich korrekt. Nicht alle, aber die meistern. Ich glaube, zwei Männer ließ der Stadtkommandant nach drei Tagen verurteilen und erschießen.




(1) Zur Machtübernahme: Damit wird die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler … am 30. Januar 1933 bezeichnet. Hitler übernahm an diesem Tag die Führung einer Koalitionsregierung von NSDAP und nationalkonservativen Verbündeten … Zusätzlich umfasst der Begriff die anschließende Umwandlung … in eine zentralistische Diktatur … Nachdem am 1. Februar der Reichstag aufgelöst worden war, schränkten die Machthaber … die politischen und demokratischen Rechte durch Notverordnungen des Präsidenten ein … Als entscheidende Schritte auf dem Weg zur Diktatur gelten … das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 --- Der Reichstag verlor damit praktisch jegliche Entscheidungskompetenz: Neben vielen anderem wurden auch Parlamentarier ohne Gerichtsverfahren in Konzentrationslagern eingesperrt und gefoltert.


(2) Das Wort Juden oder Jüdinnen bezeichnet eine ethnisch-religiöse Gruppe oder Einzelpersonen, die sowohl Teil des jüdischen Volkes als auch Angehörige der jüdischen Religion sein können. Die Benutzung des Wortes oder Begriffs ist im historischen Kontext verschiedener Staaten, auch als dortige religiöse Minderheit , unterschiedlich.


(3) Der Holocaust – oder die Schoa – war der nationalsozialistische Völkermord an 5,6  bis 6,3 Millionen europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs, rund zwei Drittel aller damals lebenden europäischen Juden. Der endgültige Entschluss zur Ermordung aller Juden fiel im Verlauf des Vernichtungskrieges gegen die UdSSR ab dem Sommer 1941. Deutsche und ihre Helfer verfolgten daraufhin bis 1945 das Ziel, alle Juden im deutschen Machtbereich systematisch zu ermorden, ab 1942 auch mit industriellen Methoden. Dieses Menscheitsverbrechen gründete auf dem staatlich propagierten Antisemitismus und der entsprechenden rassistischen Gesetzgebung des NS-Regimes.


(4) Als Zweiter Weltkrieg (1.9.1939 – 2.9.1945) wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen. …. Im Kriegsverlauf bildeten sich militärische Allianzen, die als Achsenmächte und Alliierte (Anti-Hitler-Koalition) bezeichnet werden. Hauptgegner des nationalsozialistischen Deutschen Reiches waren in Europa das Vereinigte Königreich mit dem … Premierminister Winston Churchill an der Spitze sowie (ab Juni 1941) die unter der Diktatur Stalins stehende Sowjetunion. … Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945; die beiden Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki führten zur Kapitulation Japans am 2. 9.1945. … Über 60 Staaten auf der Erde waren direkt oder indirekt am Weltkrieg beteiligt, mehr als 110 Millionen Menschen trugen Waffen.


(5) Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa beendet war (VE-Day), übernahmen die vier Hauptsiegermächte Sowjetunion, USA und Großbritannien sowie Frankreich die Hoheitsgewalt über das Deutsche Reich und teilten sein Gebiet untereinander in Besatzungszonen auf oder gliederten es aus. Dazu wurden die östlichen Gebiete des Deutschen Reiches, abgesehen vom sowjetisch verwalteten Norden Ostpreußens, unter polnische Verwaltung gestellt. Es entstanden neue deutsche Staaten und die Zeit, in der die vier Mächte die wiedererrichtete Republik Österreich und Deutschland besetzt hielten, nennt man daher auch Besatzungszeit.


(6) Ein Kopfbahnhof (oder Sackbahnhof) ist ein Bahnhof, bei dem alle Hauptgleise im Bahnhof enden und somit alle Züge nur an einer Seite herein und nach Fahrtrichtungswechsel wieder hinausfahren können.


Alle Quellen: wikipedia


Auszug aus „Icke – ein Berliner Kindl“, erzählt von Wolfgang F., aufgeschrieben von Christen T., (2013), bearbeiter von Barbara H. (2023)

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