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Neuanfang in der BRD – mit vielen Hürden

Bögendorf war die Geburtsstadt von Adelheid H. im Jahr 1941. Doch nach dem von den Deutschen angezettelten und dann verlorenen Zweiten Weltkrieg (1) wurde ihre Heimat polnisch. Das bedeutete: Verlust der Heimat und Abschied von Schlesien

Friedländer Tor in Neubrandenburg


Der lange Weg von Bögendorf nach Düsseldorf

Ab Februar 1945 änderte sich schlagartig alles für uns. Wir, das waren meine Eltern und ich. Meine älteren Brüder, Walter und Günter, kämpften als Soldaten beide im Krieg. Der Roten Armee (2) eilte kein guter Ruf voraus. Die in Bögendorf stationierten Russen zogen weiter nach Zülzendorf (heute Sulislawice), das auch zum Landkreis Schweidnitz gehörte.

In Zülzendorf, Landkreis Schweidnitz, wo Vater als Hufschmied von den Russen gebraucht wurde, bekamen wir eine Wohnung zugewiesen; dort ließ man uns vorerst in Ruhe. Das lag aber wohl am Beruf meines Vaters. Er stand aufgrund seiner spezialisierten Arbeit, die dringend gebraucht wurde, unter dem Schutz der Russen. Die Russen hatten viele Pferde und Wagen und so hatte mein Vater gut zu tun.

Nach etwa einem Jahr zogen wir wieder um. Dieses Mal hieß unser Ziel Nitschendorf (seit 1945 polnisch Niegoszów). Es war wohl wieder so, dass mein Vater, wollte er auch weiterhin arbeiten, dies für die Russen tun und an den Ort ziehen musste, wo man ihn brauchte. In Nitschendorf bewirtschafteten die Russen ein Gut, wo die Arbeit meines Vaters gebraucht wurde. Da ich immer noch keine Schule besuchen konnte, hatten sich meine Eltern mittlerweile dazu entschlossen, Polen doch zu verlassen.

Ausreise und Familienzusammenführung

Also stellten meine Eltern bei den polnischen Behörden einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland. Zur gleichen Zeit stellte mein Bruder Walter in Düsseldorf einen Antrag auf Familienzusammenführung mit uns nach Düsseldorf. Daraufhin geschah jahrelang gar nichts. Die Jahre vergingen – Im Januar 1951 bekamen wir die Erlaubnis nach Westdeutschland auszureisen und nahmen Abschied von Schlesien.

Meine Eltern freuten sich nun doch auf die Reise in ein neues Leben. Sie vermissten ihre Söhne, die nach dem Krieg und der Kriegsgefangenschaft in Westdeutschland ein neues zu Hause gefunden und die sie schon Jahre nicht mehr gesehen hatten.

Außerdem wohnte noch eine Schwester meines Vaters in Düsseldorf, meine Tante Lene, die später mit ihrer Familie einen wichtigen Platz in meinem Leben einnehmen sollte. Sie lebten dort schon vor dem Krieg. Ich weiß leider nicht mehr genau, wie wir die lange Zeit – wir waren 14 Tage unterwegs – verbrachten. Aber einige Begebenheiten sind mir doch im Gedächtnis geblieben, von denen ich hier gern berichten möchte.

Wir fuhren mit dem Zug von Breslau quer durch die DDR (3) unserem Ziel entgegen. Im Zug saß ich oft bei meiner Mutter auf dem Schoß und schaute aus dem Fenster.

Mit den Augen folgte ich den draußen vorbeiziehenden Oberleitungen und schlief oft darüber ein. Die Reise selbst habe ich als gar nicht lang empfunden und ich fand das Ganze auch gar nicht so tragisch. Warum auch? Ich machte mir keine Gedanken darüber, dass wir unsere Heimat für immer verließen. Ich fühlte mich geborgen und beschützt von meinen Eltern. Wir waren zusammen und was sollte uns da schon groß passieren?

Einen Vorfall, der sich während unserer Reise ereignete, habe ich noch lebhaft im Gedächtnis. Ein mitreisender Aussiedler hatte den Antrag auf Ausreise in die DDR gestellt, weil dort seine Frau lebte. Zu der Zeit war die Versorgungslage in der DDR sehr schlecht – es gab so gut wie gar nichts und vor allem waren Lebensmittel Mangelware.

Dieser Mann hatte eine große Kiste mit Lebensmitteln dabei. Er gab, so gut es ging, auf diese Kiste acht und trotzdem wurde gerade diese Kiste gestohlen. Sogar mir, die als Kind zum Glück keinen Hunger kennenlernen musste, tat das damals unendlich leid. Wer weiß, unter welchen Umständen der Mann sich die Lebensmittel zusammengespart hatte und dann so etwas!

Natürlich wurde die Kiste nicht mehr aufgefunden. Das war bestimmt ein sehr großer Verlust und eine Enttäuschung für den Mann, der seiner Familie etwas Gutes mitbringen wollte.

Über Thüringen: Quarantänelager Heiligenstadt

Die erste Zwischenstation für alle Ausreisenden, egal, welches Ziel sie hatten, war das Quarantänelager in Heiligenstadt in Thüringen. An das Lager selbst habe ich keine Erinnerungen. Nur die Schlafsäle voller Hochbetten sehe ich noch heute vor mir. Auch meine Eltern und ich bekamen solch ein dreistöckiges Hochbett zugeteilt.

Mein Vater wollte meiner Mutter etwas Gutes tun und bestand darauf, in unserem Hochbett ganz oben zu schlafen. Da ließ er auch nicht mit sich reden.

Meine Mutter schlief also ganz unten, ich in der Mitte und mein armer Vater kletterte ganz nach oben. Wie, und ob er die folgenden Nächte überhaupt schlafen konnte, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur noch daran, dass er kaum aus dem Bett kam, über fürchterliche Rückenschmerzen klagte und sich nicht richtig bewegen konnte.

Mein Vater war zu der Zeit schon 60 Jahre alt. Ich habe mich immer sehr darüber aufgeregt, wenn die Leute zu uns sagten: „Du hast aber einen netten Großvater!“. Dann habe ich ganz wütend geantwortet: „Das ist nicht mein Großvater! Das ist mein Vater!“. Aber vom Alter her hätte er ja wirklich mein Großvater sein können.

Natürlich habe ich das als kleines Mädchen nicht so gesehen. Ich kannte es ja nicht anders. Zwischen meinen Brüdern und mir lagen 17 und 18 Jahre Altersunterschied, ich war ja das Nesthäkchen.


Im Lager Heiligenstadt mussten alle Ausreisenden, egal, welches Ziel sie hatten, eine Weile in Quarantäne verbringen. Wie lange wir dort waren? Ich weiß es leider wirklich nicht mehr. Es müssen aber mehrere Tage gewesen sein. Ich kann mich erinnern, dass wir in diesem Lager zusammen mit den anderen Müttern und Kindern in einen Duschraum gebracht wurden, um uns zu waschen. Frauen und Kinder, wir waren alle splitternackt und dicht aneinandergedrängt. Von oben kam das Wasser. Es war eine sehr unangenehme Situation für mich.

Anschließend wurden wir dann auch noch gegen Ungeziefer eingepudert. Nach mehreren Tagen des Wartens erhielten wir unsere Quarantäneausweise. Die Behörden waren zu dem Schluss gekommen, dass wir nun frei von Ungeziefer waren und auch keine ansteckenden Krankheiten mit uns herumschleppten.

Damit war die letzte Hürde zur Weiterfahrt in Richtung Nordrhein-Westfalen genommen.

Westdeutschland, Nähe Göttingen: Grenzdurchgangslager Friedland

Geschafft! Ankunft in Westdeutschland. Der Weg nach Westdeutschland war nun endlich frei. Wir überquerten die Grenze am Grenzübergang Besenhausen und fuhren weiter in das nächste Lager – das Grenzdurchgangslager Friedland in der Nähe von Göttingen.


Ich glaube, dass viele Aussiedler dieses Lager als sehr wichtigen Ort ansahen. Viele von ihnen versuchten schon jahrelang, aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die BRD (4) auszureisen, um nach langer Zeit Ihre Familien wiederzusehen bzw. endlich mit ihnen zusammenzuleben. Sie ließen ihr altes Leben hinter sich, um in der BRD ein neues zu beginnen. Sie hatten wohl alle keine Vorstellung von dem, was kommen würde und ob sich all ihre Hoffnungen und Wünsche erfüllen würden. Zu diesen Menschen gehörten nun auch wir. Auch wir schauten in eine ungewisse Zukunft.

Erfahrungen: Nicht nur Herzlichkeit und Freude für „Ostler“

Wir wussten bei unserer Ankunft in Friedland noch nicht, dass wir noch Jahre mit vielen anderen Flüchtlingen und Aussiedlern in provisorischen Unterkünften leben würden und dass sich nicht alle Menschen über die Ankunft von uns Flüchtlingen freuten.

Schon damals schlug uns, die wir aus den ehemaligen Ostgebieten nach Westdeutschland kamen, nicht nur Herzlichkeit und Freude entgegen. Das war nicht leicht für uns. Trotzdem waren wir vor allem erleichtert und guter Dinge, als wir endlich in Westdeutschland ankamen und schauten positiv nach vorn.

Mein Vater sagte des Öfteren, als wir noch in Schlesien bzw. in Polen lebten, mit einem Augenzwinkern: „Ach, wenn wir erst in Westdeutschland angekommen sind, dann spaziere ich dort mit meiner Zigarre entlang und esse ein Frankfurter Würstchen.“ Er freute sich sehr auf unseren Neuanfang.

Endlich hatten wir auch wieder persönlichen Kontakt zu unserer Familie. Im Lager Friedland besuchte uns meine Tante Milchen, die nicht allzu weit vom Lager entfernt wohnte. Das war sehr schön für meine Eltern und für mich natürlich auch. Wir sahen uns wieder und waren glücklich, dass wir jetzt da waren, wo wir hinwollten und hingehörten. Und wir waren froh, dass wir alle diesen schrecklichen Krieg unversehrt überstanden hatten.

Siegen: Durchgangslager „Am Wellersberg“

Nach ein paar Tagen hieß es für uns: Weiterfahrt nach Siegen. Für uns wieder ein großer Schritt in Richtung unseres Ausreisezieles Düsseldorf.

Aber auch das Durchgangslager Siegen, die ehemalige „Herzog-Ferdinand-Kasernenanlage“ am Wellersberg sollte für einige Zeit unser vorübergehendes Zuhause werden. Es war ein Durchgangslager für Flüchtlinge aus den Ostgebieten in den 1950er Jahren. Da es in den deutschen Städten auch im Jahr 1951 noch nicht genügend Wohnungen für die eigene Bevölkerung gab, musste der überwiegende Teil der Aussiedler mit dem Ziel NordrheinWestfalen im Flüchtlingslager Siegen bleiben, und zwar so lange, bis eine Unterkunft im Zielort oder in der Nähe des Ausreisewunsches gefunden war.

So erging es auch uns. Es war wohl absehbar, dass wir ein paar Monate im Lager bleiben mussten. Deshalb bekamen meine Eltern und ich ein separates Zimmer zugewiesen. Das war sehr angenehm und wir konnten nach der langen Reise wieder etwas Ruhe finden.

Trotz der eingeschränkten Privatsphäre und aller möglichen Beeinträchtigungen waren wir sehr froh, es bis hierher geschafft zu haben. Wir hofften, dass wir bald weiterfahren und irgendwann ankommen könnten.

Düsseldorf: Mein Bruder Walter und der Karneval

Die Nähe zur Familie gab uns Kraft. Endlich konnten wir unsere Angehörigen besuchen. Ein paar Tage nach unserer Ankunft in Siegen fuhren wir gleich nach Düsseldorf, um die Familie H. zu besuchen. Familie H., das sind: Tante Lene, die Schwester meines Vaters, ihr Mann, Onkel Willi und ihr Sohn Werner, mein Cousin.


Mein Bruder Walter, der vorübergehend auch bei der Familie wohnte, holte uns vom Bahnhof ab. Es war schon komisch für mich, dass dieser große, erwachsene und gutaussehende Mann mein Bruder sein sollte. Meine Eltern waren überglücklich, ihn wiederzusehen. Sie nahmen ihn herzlich in ihre Arme. Für mich war somit der Bann ein bisschen gebrochen.

Auf dem Weg zu Familie H. waren wir erstaunt zu sehen, wie fröhlich es in Düsseldorf zuging. Es war Karneval!



Auf den Straßen feierten verkleidete Kinder und Erwachsene und lustige Musik ertönte. So etwas kannten wir aus Schlesien nicht und obwohl das alles ziemlich befremdlich auf uns wirkte, hat uns der Trubel sehr gefallen. Von Tante Lene und ihrer Familie wurden wir sehr herzlich empfangen. Es gab ja sooo viel zu erzählen.

Da man nicht wusste, wie viele Monate der Aufenthalt im Lager Siegen für uns dauern würde, kam der Vorschlag ins Gespräch, dass ich ab sofort bei der Familie H. bleiben sollte, um in Düsseldorf schon einmal zur Schule gehen zu können.

Obwohl ich dann von meinen Eltern getrennt wäre, hat mir der Vorschlag gefallen, denn ich wollte ja endlich zur Schule gehen. Und so fuhr ich nicht mit meinen Eltern nach Siegen in Lager zurück, sondern blieb in Düsseldorf. Meine Tante und mein Onkel nahmen mich also für die nächsten Monate sehr herzlich und wie eine Tochter bei sich auf. Ich habe mich bei ihnen sehr wohl gefühlt. Aber vermisst habe ich meine Eltern doch. Ein wenig getröstet haben mich die lieben Briefe meiner Mutter, die sie mir während der Zeit schrieb.

Februar 1951 – Hurra! Endlich bin ich ein Schulkind – doch das ist eine andere Geschichte ...

(1) Als Zweiter Weltkrieg (1939 – 1945) wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er am 1. September 1939 mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen … Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945.

Quelle: wikipedia


(2) Im Januar überschreitet die Rote Armee die deutsch- polnische Grenze und steht am 9. Februar in Liegnitz, am 13. Februar in Jauer und Striegau. Die Festung Breslau wird in der Nacht vom 15. zum 16. Februar endgültig eingekesselt. Von der Kreisleitung in Schweidnitz wird die Räumung der Stadt angeordnet. In Nieder Bögendorf trifft am 22. Februar 1945 früh um 10 Uhr die Anweisung ein, um 14 Uhr das Dorf zu verlassen. Mit Pferdegespannen, zu Fuß, bepackt mit Hab und Gut flüchten die Bewohner aus Angst vor der Roten Armee in Richtung Süden. Es geht über Weißstein bei Waldenburg – Grüssau – Schömberg auch zum Teil über Friedland bis Parschnitz und Wellhotta bei Trautenau im Sudetenland. Ende Februar werden auch die Ober Bögendorfer ausgewiesen und flüchten bis Seitendorf bei Altwasser. Mitte März zersplittert der Bögendorfer Treck wobei Teile in Parschnitz bleiben und andere weiter bis in die Tschechei ziehen, wo sie aufgelöst bis weit hinter Königgrätz in Halitz, Daschnitz, Comarau verteilt liegen bleiben. Am 8. Mai marschiert die Rote Armee in Schweidnitz ein. Nach dem Zusammenbruch kehren die meisten wieder in die Heimat zurück. Bereits am 12. Mai treffen die ersten Bögendorfer wieder im Dorf ein. Ab Juli 1946 beginnt mit der ersten großen Vertreibungswelle die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung im Kreis Schweidnitz (seit 1945 polnisch Świdnica). Bis Oktober 1947 ist der größte Teil der Bewohner aus der Heimat vertrieben.

(3) Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) war der kleinere realsozialistische der beiden deutschen Staaten, der vom 7. Oktober 1949 bis zur Herstellung der Einheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 bestand. Die DDR war aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) hervorgegangen, die infolge der Besetzung und Teilung Deutschlands nach 1945 geschaffen wurde. Auf Betreiben der sowjetischen Militärregierung errichtete die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ein diktatorisches Regime, das bis zur friedlichen Revolution im Herbst 1989 existierte. Während der vier Jahrzehnte ihres Bestehens blieben die DDR und ihre Staatsführung, wie die anderen realsozialistischen Ostblockländer, weitgehend von der Sowjetunion abhängig.

Quelle: wikipedia


(4) BRD ist eine nicht offizielle Abkürzung für die Bundesrepublik Deutschland, die mitunter im wissenschaftlichen und insbesondere politischen Kontest verwendet wird, analog zur Abkürzung „DDR“ während der Epoche von 1949 bis 1990. Amtliche Verlautbarungen der Bundesrepublik enthalten die Abkürzung dagegen seit Anfang der 1970er Jahre nicht mehr.

Quelle: wikipedia


Auszug aus „Geradeaus mit Umwegen“, erzählt von Adelheid H., aufgeschrieben von Ute S. (2019), bearbeitet von Barbara H. (2023)


Bild 1 (Friedländer Tor): Quelle H.Meyer-Kirk/Pixabay

Bild 2 (Karneval): Quelle privat, Barbara H.

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