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Pogrom und Krieg: "Und hier sah ich die Zerstörung mit eigenen Augen"

Elisabeth, geboren 1927 und aufgewachsen in Düsseldorf, erinnert sich an Menschen und Geschehnisse, an Kriegs- und Nachkriegszeit. Als Fliegeralarm und Bombenangriffe zunahmen und das Mietshaus in der Nordstraße ausbrannte, in dem ihre Familie lebte, wurde sie zu Verwandten in das unzerstörte Lippstadt (1) geschickt. Sie war zum Reichsarbeitsdienst (2) verpflichtet und half einer jungen kranken Frau im Haushalt und bei der Versorgung der drei kleinen Kinder. Hier erlebte die damals Siebzehnjährige die Ankunft der Amerikaner und das Ende der Kampfhandlungen.



Pläne für die "Neue Welt"

„Dass einer meiner vier älteren Brüder zur SA (3) ging, hatte allein den Grund, dass er Motorrad-Begeisterter war. Walter blieb der Einzige in unserer apolitischen Familie, der etwas mit den Nationalsozialisten zu tun hatte. Meine Eltern waren dagegen, aber sie konnten ihrem erwachsenen Sohn keine Vorschriften mehr machen.

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er in der Küche auf dem Fußbänkchen seine Stiefel wienerte.

Meine Klassenkameradin hieß Clärchen, eigentlich Claire-Marie. Ihre ältere Schwester Constanze – genannt Tanny – musste ein Schuljahr wiederholen und landete in unserer Klasse. Die beiden Mädchen kamen gern zu uns nach Hause, auch wegen meiner Brüder. Und ich ging gerne zu ihnen.

Die Familie der beiden Mädchen wohnte auf der Capellstraße in einem schönen Eckhaus mit großen hellen Räumen. In zwei Räumen lebte ein Generalleutnant als Untermieter. Der Vater von Clärchen und Tanny war Jude und bereits nach Amerika ausgereist. Einmal kamen wir nach dem Spielen zur Capellstraße, und es roch im ganzen Haus wunderbar nach Schokolade.

Die Mutter der Schwestern machte gerade einen Lehrgang zur Pralinen-Herstellung, um sich in Amerika eine Existenz aufbauen zu können. Danach wollte sie mit den beiden Töchtern dem Vater in die Neue Welt folgen.

"Da wohnt auch noch ein Jude..."

Am 10. November 1938 (4) wollten Clärchen und ich noch etwas für den St.-Martins-Abend am nächsten Tag besorgen. Wir waren beide elf Jahre alt. Auf der Straße kam eine aufgebrachte Menschenmenge angerannt und rief im Weiterlaufen: "Und da wohnt auch noch einer ..."

Wir sind mit diesen Leuten mit gerannt bis zur Sternstraße. "Dort über der Apotheke wohnt ein Jude", so hieß es. Die NS-Meuten drangen in das Haus ein. Glas zersplitterte, Fenster wurden eingeschlagen und viele Gegenstände wurden im hohen Bogen auf die Straße geworfen. Darunter waren auch viele, viele Bücher und ein großer Globus in einem Holzgestell – wunderbar gedrechselt.

Ich konnte das alles nicht begreifen. Es war damals doch ein Traum meines Lebens, einen solchen Globus zu besitzen. Und hier sah ich die Zerstörung mit eigenen Augen.

Dass die große Düsseldorfer Synagoge in der Nacht niederbrannte (Foto oben: Die brennende Synagoge an der Kasernenstraße, 10. November 1938 / Quelle: Stadtarchiv Düsseldorf), wussten wir Kinder nicht. Für uns war die Kasernenstraße sehr weit entfernt.

Von der Nordstraße aus besuchte ich die Städtische Mittelschule in der Ehrenstraße. Meine Klassenlehrerin hieß Annemarie V.. Sie stammte aus einer Künstlerfamilie und hielt sich mit politischen Äußerungen sehr zurück. Auch im Biologie-Unterricht erwähnte sie nur verhalten die arische Menschenkunde (5). Als Mahnung gab sie uns Schülerinnen mit auf den Weg: "Werdet kein Herdenvieh ..."

Wohnung verdunkeln und Luftschutzraum einrichten

Seit dem 1. September 1939 herrschte Krieg (6). Ab Mai 1940 gab es fast jede Nacht Fliegeralarm, und wir kamen oft übermüdet zur Schule. Der Unterricht fand vormittags oder nachmittags im Wechsel statt, fiel manchmal ganz aus oder begann später. Luftschutzräume mussten eingerichtet werden. Viel gelernt wurde nicht.

Dann – das genaue Datum weiß ich nicht mehr – zerstörten Brandbomben unsere Schule, und der weitere Unterricht fand zunächst in der Schule in der Gneisenaustraße statt, später dann am Gymnasium in der Prinz-Georg-Straße. Auch hier gab es den Schichtwechsel, vormittags die Mädchen, nachmittags die Knaben – oder umgekehrt. Ich weiß noch, dass wir Mädchen gerne kleine Briefchen unter den Tintenfässern deponierten und gespannt auf Antwort lauerten.

Und nachts schreckte uns immer wieder Fliegeralarm auf. Wie oft rannten wir in den Keller. Das ganze Leben geriet aus den Fugen. Ich höre noch das An- und Abschwellen der Sirenen. Kurz vor der Entwarnung zuckte immer das Licht im Keller. Wenn eine Sekunde später der Ton kam, dann standen wir schon alle senkrecht und wollten raus aus dem Keller.

Alle Fenster in der Wohnung mussten abends verdunkelt werden. Das geschah durch ein Rollo aus schwarzem Papier. Abends wurde es heruntergezogen und an den Seiten festgemacht, damit ja kein Lichtschein nach draußen fiel. Ich sträubte mich gegen eine Verdunkelung in meinem Zimmer. Es wäre mir wie ein Gefängnis vorgekommen. Lieber zog ich mich abends im Dunkeln aus und legte meine Kleidung in einer bestimmten Reihenfolge ab, um sie notfalls sofort griffbereit zu haben, wenn wir wegen eines Alarms wieder in den Keller mussten.

Auch draußen war es nachts dunkel, es brannten keine Straßenlaternen. In diesen Zeiten lernte ich, Gewitter zu lieben. Wenn man nachts wach wird, weil es blitzt und donnert und dann begreift: Es ist nur ein Gewitter …

Wohnen im Keller

Es muss im Frühjahr 1944 gewesen sein, als unser Haus in der Nordstraße von Brandbomben getroffen wurde. Zwei meiner Brüder, inzwischen Soldaten, waren gerade „auf Heimaturlaub“, das war gut. Das Feuer brannte von oben nach unten durch. Da unsere Wohnung im ersten Stock lag, blieb uns etwas mehr Zeit als den Leuten in den oberen Etagen. Mein Vater half bei den Löscharbeiten. Meine Mutter, die beiden Brüder und ich mussten retten, was zu retten ging.

Ich lief in mein Zimmer. Da saß meine Puppe, ein Geschenk zum zwölften Geburtstag. Die war nicht wichtig, wohl aber die Schulbücher, die mussten mit. In meinem Zimmer stand eine große Bank mit einem Klappsitz. Das war unsere Wäschetruhe, die sonst nirgendwo Platz fand. Und die war voller Schmutzwäsche, weil die Mutter am nächsten Tag ihren Waschtag gehabt hätte. Ich wusste, diese Wäsche würden wir brauchen, die musste gerettet werden. Also wurden alle Teile zusammen gepackt und in einem Laken verknotet. Das musste mit runter.

Meine Mutter stand vor ihrem Kleiderschrank und nahm Sachen von der linken Seite heraus. Sachen, die jetzt kein Mensch brauchte: den Cut vom Vater zum Beispiel. Auf der rechten Seite hingen die wichtigen Sachen, die täglich benötigt wurden. Ich merkte, dass meine Mutter vollkommen konfus war. Verständlich, wenn einem plötzlich unter Zeitdruck bewusst werden soll, dass alles verbrennen wird.

Die geretteten Sachen kamen in den Keller. Dort richteten wir uns ein. Die übrigen Bewohner des Hauses fanden Quartier bei Verwandten und Bekannten. Im Keller gab es mehrere Luftschutzbetten aus Brettern, auf denen wir schlafen konnten. Und aus dem überzähligen Holz baute mein Vater ein Regal und einen kleinen Tisch. Hier hausten wir, aber für uns allein. Es war schlimm, doch anderen Leuten ging es viel schlimmer. Im Oktober/November 1944, da war ich siebzehn, wurde ich sicherheitshalber eine Zeit lang zu Verwandten in das unzerstörte Lippstadt geschickt. Da ich wie alle Mädchen in meinem Alter zum Reichsarbeitsdienst (RAD) verpflichtet war, half ich dort einer jungen herzkranken Frau im Haushalt und bei der Versorgung ihrer drei kleinen Kinder.

Lippstadt im Jahr 1945: Die amerikanischen Soldaten kommen

Die Amerikaner (7) standen bereits vor der Stadt. Es war Ostersonntag, der 1. April 1945. Der Pfarrer schickte seine Gemeinde nach Hause und forderte sie auf, ruhig und besonnen zu bleiben, niemanden zu provozieren.

Ich weiß noch genau, was passierte: Frau W. hatte gerade einen Kuchen in den Ofen geschoben. Die Zutaten stammten von ihren Eltern, die ausgebombt waren und eines Tages mit ihrer restlichen Habe vor der Tür standen. Sie kamen aus Dortmund, wo ihnen ein Lebensmittelladen gehörte. Wir sollten also im Keller abwarten, und der Kuchen blieb im Ofen … Ich schnappte mir den kleinen Volker, trug ihn zu den anderen in den Keller und rannte zurück in die Küche. Der Kuchen durfte doch nicht verbrennen!

Auf dem Rückweg stellte ich mich zu den älteren Männern am Rand der Langestraße, wo wir wohnten. Und dann sah ich sie kommen: Vom Süden her – die deutschen Soldaten.

Die Leute steckten ihnen Kleinigkeiten zu. Die Soldaten nahmen die Gaben an, reagierten aber nicht. Ich, mit noch nicht so viel Lebenserfahrung, konnte erkennen, dass diese Menschen total erschöpft waren, gleichgültig und irgendwie erloschen. Sie zogen die Hauptstraße entlang; den Anblick vergesse ich nicht.

Und plötzlich kamen von Norden her – die amerikanischen Soldaten.

Einer marschierte vorweg, Stahlhelm auf, Gewehr im Anschlag – der erste Schwarze, den ich zu sehen bekam. Und es fiel kein Schuss …

Nun waren die Amerikaner in Lippstadt angekommen. Es gab Ausgehverbote, keine Telefonverbindungen, keine Zeitungen. Oft gab es auch kein Wasser. Deshalb zogen wir mit dem großen Windeleimer im Bollerwagen zur Lippe runter und spülten die Windeln im Flusswasser klar.

Die Amerikaner konfrontierten uns dann in Lippstadt mit den Gräueltaten des NS-Regimes, indem sie Plakatwände an den Straßen aufstellten. Jeder sollte sehen, was in den Konzentrationslagern (8) geschah, welche Zustände dort zum Zeitpunkt der Befreiung durch die Amerikaner herrschten, was Menschen durch ihresgleichen angetan wurde. Und vom Hörensagen weiß ich, dass an manchen Orten auch entsprechende Dokumentarfilme liefen, die sich die Bevölkerung anschauen musste.

Ausbildung und das neue Geld

Erst 1946 – nach Kriegsende – konnte ich eine Schneiderlehre machen und anschließend eine Ausbildung zur Schnittzeichnerin absolvieren. Auf dem zweiten Bildungsweg studierte ich in den 60er Jahren an der Pädagogischen Hochschule in Neuss Biologie und Mathematik und war dann bis zu meiner Pensionierung als Hauptschullehrerin tätig.

Nach der Währungsreform 1948 hatten die Läden wieder gefüllte Schaufenster und Regale. Ich kann mich erinnern, wie meine Mutter das neue Geld – pro Kopf 40 Deutsche Mark (DM) – auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte. Es sah aus wie Spielgeld. Jeder in der Familie bekam 10 DM zur freien Verfügung. Ich kaufte mir ein paar rote Handschuhe aus einem angerauten Stoff. Es schien mir das Wichtigste, weil ich immer kalte Hände hatte. Das Besondere daran war die Oberseite der Handschuhe, die aus feinem gegerbtem Fischleder bestand – ohne Schuppen natürlich – und wunderbar schimmerte wie echtes Krokodilleder. Ich fand sie sehr elegant.“

Das richtige Rosa

Die Farbe Rosa spielte in Elisabeths Leben später eine reale Rolle: Es dauerte, bis sie den richtigen Ton fand und alle Wände ihrer Wohnung im richtigen Rosa-Ton getüncht waren.


(1) Lippstadt ist eine große kreisangehörige Stadt in Nordrhein-Westfalen, die seit 1975 dem Kreis Soest angehört. Sie liegt etwa 60 Kilometer östlich von Dortmund, 40 km südlich von Bielefeld und 30 Kilometer westlich von Paderborn.

Quelle: Wikipedia


(2) Der Reichsarbeitsdienst (RAD) war eine Organisation im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Junge Deutsche waren verpflichtet, ihrem Volk im RAD zu dienen.

Quelle: Wikipedia


(3) Die Sturmabteilung (SA) war die paramilitärische Kampforganisation der Nationalsozialisten, eine Ordner- bzw. Kampftruppe, die gegnerische Veranstaltungen mit Gewalt behinderte. Aufgrund ihrer Uniformierung mit braunen Hemden ab 1924 wurde die Truppe auch „Braunhemden“ genannt. 1945, nach der bedingungslosen Kapitulation wurde sie verboten und aufgelöst.

Quelle: Wikipedia


(4) In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 passierten die von den Nazis organisierten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen Juden in ganz Deutschland und Österreich. Diese Nacht nennt man heute noch Reichskristallnacht, auch Pogrome, Kristallnacht oder Reichspogromnacht. Dazu gehörten Zerstörungen von Synagogen, Geschäften, Wohnungen, Bücherverbrennungen, jüdischen Friedhöfen und die Inhaftierung von Juden in Konzentrationslagern, die dort starben. In Düsseldorf wurde die Synagoge auf der Kasernenstraße in dieser Nacht zerstört.

Quelle: Wikipedia


(5) Die Nationalisten verfolgten eine radikale Rassenlehre. Ihre Kernaussage war, dass es verschiedene Menschenrassen gibt und dass eine davon zum Herrschen bestimmt ist. Die Nazis unterschieden hierbei vor allem zwei Rassen: die Arier und die Juden … Die arische Rasse sollte herrschen. … Das deutsche Volk erklärten sie zu einem Vertreter der sogenannten arischen Rasse … und daher zum Herrschen über die Menschheit bestimmt. Die Juden stellten für die Nazis den Hauptfeind der arischen Rasse dar … Daher müsse sie vernichtet werden. Antisemitismus war gesetzlich vorgeschrieben.


(6) 1. September 1939 bis 2. September 1945 sind die Daten des Zweiten Weltkrieges, dem zweiten global geführten Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert. Er begann in Europa mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen.


(7) Die amerikanische Besatzungszone war eine der vier Besatzungszonen, in die Deutschland westlich der Oder-Neiße-Linie von den alliierten Siegermächten im Juli 1945, rund zwei Monate nach der deutschen Kapitulation und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, aufgeteilt wurde.

(8) Die ersten 80 Konzentrationslager wurden bereits 1933 errichtet, diekt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, ... zur Unterbringung der ersten Massenverhaftungen. Nach Kriegsbeginn 1939 wurde der Bau weiterer Konzentrationslager vorangetrieben, zuletzt gab es 25 Hauptlager mit 1200 Neben- und Außenlagern. 1940 begann der Bau des Lagers Auschwitz ... , dort wurden mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet, die meisten von ihnen Juden ... Häftlinge wurden mit Zyklon B ermordet ... Zwei ehemalige Bauernhäuser wurden zu Gaskammern umgebaut ... Auschwitz wurde zum Synonym für den nationalistischen Völkermord.


Auszug aus "Scherbenbilder: Rosa Zeiten?“, erzählt von Elisabeth W., gesprochen mit Ingrid E.,

bearbeitet von Barbara H.

Symbolfoto: Pixabay

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