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Von Glogau nach Bonn: „Ich sehe noch die kilometerlange Flüchtlingsschlange vor mir..“

Amanda, *1937 in Bonn, verbrachte eine glückliche Kindheit im Arbeiterviertel von Beuel. „Wir waren bettelarm, aber in meiner Familie wurde viel gelacht.“ Ende1943 wurde ihre Familie zum Aufbruch nach Schlesien gezwungen. Zunächst war es für das Kind „ein Abenteuer“, und am Ziel verbrachte sie „das schönste Jahre ihres Lebens“. Erst einen Winter später, auf der Flucht zurück in den Westen wurde ihr klar, in welcher Gefahr sie sich befand...



Aufbruch nach Schlesien

Im Winter 1943 sind meine Mutter, mein Bruder und ich nachts vor Fliegeralarm geflohen und nach Glogau in Schlesien hin versetzt worden. Dass wir weg mussten, das war für mich auch normal. Ich wurde nicht aufgeklärt weshalb und wieso. Es war für mich ein Abenteuer. Wir hatten nicht viel dabei. Nur Kleidung. Vermögen hatten wir ja nicht. Aber meine Mutter bekam Unterstützung, zum Beispiel Lebensmittelkarten. Die waren automatisch weiterhin gültig.


Alles voller Flüchtlinge. Wer wollte, konnte mitfahren. Viele Kinder sind ja auch alleine verschickt worden. Aber das wollte meine Mutter nicht. Darum sind wir zusammen gefahren.


In Glogau sind wir angekommen. Dort standen Autobusse bereit, die uns einluden. Und dann wurden wir auf diverse Familien und Höfe verteilt. Viele Einheimische waren 'braun' gesinnt: „Da kommen die Bombenweiber“, haben sie gesagt. Weil viele Frauen elegantere Kleider trugen als sie. Das passte halt nicht in die Zeit.


Meine Mutter hat bei unserer Ankunft gesagt: „Wir bleiben bis zum Schluss sitzen.“ Das war unser Glück. Denn wir haben es wunderbar getroffen: Mit der Bauernfamilie – ein Ehepaar mit einem Sohn im Alter meines Bruders – haben wir uns gut verstanden. Ich kann nur das Beste über sie sagen. Sie haben uns ihr Wohnzimmer gegeben, das sie nur Weihnachten, Ostern und Pfingsten benutzten. Sie haben für uns ihre gute Stube eingerichtet. Für uns war es das Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche – einfach alles.


Ein schönes Jahr in Schlesien

Schlesien war das schönste Jahr meines Lebens. Diesem Jahr habe ich zu verdanken, dass ich so bin wie ich bin.

Ich durfte Enten füttern, dafür habe ich Brennessel geschnitten.

Ich durfte mit dem Bauern mitfahren, wenn er die Kühe gemolken hat.

Ich durfte mit ihm auf dem Pferd und Wagen mitfahren, wenn er die Kannen ins Dorf gebracht hat. Ich durfte mich dabei aufs Pferd setzen.

Ich war bei der Ernte dabei und durfte auf dem Heuwagen mitfahren – unter dem Apfelbaum unten durch. Da konnte ich im Vorbeifahren die Äpfel pflücken.

Es wurden auch Strohhäuser gebaut, da durften wir dann reingehen.

Ich sehe mich noch, wie ich durch die Felder gehopst bin.

Es war einfach ein Traum.


Erneute Flucht – zurück in den Westen

Mitten im eiseskalten Winter 44/45 sind wir im Planwagen zur Flucht vor den Russen aufgebrochen. Es wurde vorher schon etwas unruhig, das habe auch ich bemerkt. Es wurde geflüstert. Und die Kanonengeräusche wurden immer lauter. Der Russe war im Anmarsch. Das war kein Abenteuer mehr. Die Geräusche haben mir nicht mehr gefallen. Überall war Schnee, und es war alles dunkel. Der Schnee war weiß, und alles andere herum nur schwarz. Dieses Bild habe ich bis heute im Kopf. Und die Pferde ließen traurig die Köpfe hängen. Als ob sie wüssten, was ihnen blüht. Oder mehr wüssten als ich. Das war ein trauriges Bild, das ich nie vergesse. Wir haben mit anderen im Planwagen übernachtet. Es war eiskalt. Meine Mutter hat mir ein kleines Kissen zusammengenäht, damit ich darin meine Hände wärmen konnte. Und plötzlich wurde wieder alles interessant für mich. Ich habe die anderen Leute beobachtet, wie sie sich benahmen. Einige Kinder weinten. Andere zankten miteinander. Eine Frau hat sich auf den Kopf meiner Puppe gesetzt.

Die Familie hat aber zusammengehalten. Nicht mal mit meinem Bruder hatte ich Zoff.


Wir haben aber auch in Schulen und großen Sälen übernachtet. Auf dem Boden, ohne Unterlagen. Wir hatten ja nichts. In den Städten und Orten, in denen wir ankamen, gab es immer jemanden, der uns gesagt hat, wo wir hin sollten. Wie das organisiert wurde, weiß ich leider nicht mehr. Aber es war wieder spannend für mich, weil ich immer etwas zum gucken hatte.


Roter Himmel über Dresden

Wir haben es bis nach Sachsen geschafft. Kurz vor Dresden hieß es: Wir können nicht mehr weiter – die Stadt war überfüllt. Und kurze Zeit später folgten die Luftangriffe. Ich sehe noch den roten Himmel vor mir. Die Nacht war taghell. Wenn wir da reingekommen wären... nicht auszudenken. Wir hatten wirklich Glück. Stattdessen waren wir in einem anderen Ort geblieben. Mein Bruder sagte immer: Wir müssen über die Oder. Die Brücken werden gesprengt. Wenn wir das nicht schaffen, dann holen uns die Russen ein. Und nach uns wurden die Brücken tatsächlich gesprengt. Aber die Russen sind trotzdem weiter gekommen.


Mit Scharlach im Lazarett – „Mama, du musst nicht weinen“

Bei unserer Ankunft in Sachsen habe ich Scharlach bekommen, wurde von meiner Mutter und meinem Bruder getrennt. Damals war das noch eine ansteckende Krankheit und musste in die Isolation. Ich lag etwa 14 Tage lang verlaust in einem Lazarett in Freiberg.

Das war für mich aber wieder ein Abenteuer. Die Schwestern mussten mir die Läuse aus dem Haar holen und dabei ein paar Mal vor Schreck schreien. Sie haben mir Spriritus ins Haar gegeben, danach hatte ich einen Turban auf dem Kopf. Hat aber nicht viel genutzt. Da musste noch einiges anderes gemacht werden.

Schmerzen hatte ich nicht, aber Fieber. Teilweise habe ich angefangen zu fantasieren. Ich komme bis heute nicht dahinter, wie frei und erlebnisreich ich das erlebt habe. Die Soldaten haben mich verwöhnt, ich habe gesungen und getanzt. Alle waren gut drauf und nett zu mir. Und wenn die Pakete vom Deutschen Roten Kreuz bekamen, durfte ich mich daran beteiligen.

Das war fantastisch. Alle Patienten waren verbunden – auch das war normal für mich. Ich verstehe das bis heute nicht. Viele Menschen schleppen solche Erfahrung ihr Leben lang mit sich herum. Ich nicht.

Die Zeit war grausam. Ich möchte sie nicht noch einmal erleben. Aber ich möchte sie auch nicht missen. Meine Mutter hat mich besucht, stand 20 Meter von mir am Zaun entfernt und hat geheult. Ich hab gerufen: „Du musst nicht weinen. Hier ist es schön.“ Und da musste meine Mutter noch mehr heulen.

Meine Mutter sagte später: „Du hast nie geweint, Es war immer leicht mit dir, während andere Kinder immer so unruhig waren.“ Ich war halt hart im nehmen. Das bin ich heute auch noch. Und wenn sich andere zimperlich anstellen, dann werde ich ungerecht.


Dann bin ich total gesund wieder entlassen worden. Meine Mutter hat mich bei Tieffliegeranläufen abgeholt.


Begegnung mit Russen

Schließlich haben uns die Russen tatsächlich eingeholt. Meine Mutter, mein Bruder und ich sind dann bei Nacht und Nebel geflüchtet, um nach Freiberg in den amerikanischen Sektor zu kommen.

Wir sind durch die Felder gelaufen, meine Mutter und ich konnten aber nicht so schnell rennen. Ich sehe noch die Flieger über uns. Sie haben aber nicht geschossen. Wir kamen in einem Forsthaus an. Da ist meine Mutter zusammengebrochen. Dort hat sie einen Conjac bekommen, damit sie wieder zu sich kommen konnte. Wir haben im Wald übernachtet.


Es muss März/April '45 gewesen sein. Da sind wir den ersten Russen begegnet. Einer hatte eine Pelzmütze auf, ihm lief die Schweißbrühe über das Gesicht. Wir mussten unseren Koffer öffnen. Weil meine Mutter ihn nicht schnell genug aufbekam, zückte der Russe das Messer und schnitt ihn auf. Das war kein Abenteuer mehr. Ich sehe das Bild noch vor mir. Dann musste meine Mutter plötzlich „mitkommen“. Sie hat uns beruhigt: „Ich komme gleich wieder...“ Sie hat nie darüber gesprochen, was dann passiert ist.


Eine Nacht später sind wir mit dem Leiterwagen in den Wald geflüchtet. Dort hat meine Mutter geträumt, dass wir an die amerikanische Grenze kommen würden. Daraufhin hat sie im Wald ein vierblättriges Kleeblatt gefunden und mitgenommen. Das hat sie später in der Heimat eingerahmt und in der Küche aufgehängt.


Zurück im Rheinland – wie eine Erlösung

So brachen wir also auf und wollten ins Rheinland. Mein Bruder war sehr begabt in Erdkunde und hat immer dafür gesorgt, dass wir die richtige Richtung einschlugen.

Ich saß auf dem Leiterwagen, mein Bruder hat gezogen, meine Mutter hat von hinten geschoben. Ich sehe noch die kilometerlange Flüchtlingsschlange vor mir. Wir sind einfach daran vorbei auf die amerikanische Grenze zu, eine rot-weiße Barriere. Die anderen beschwerten sich natürlich. Wir sollten uns gefälligst hinten anstellen. Und meine Mutter ist einfach weitergezogen. An der Barriere haben die Amerikaner einfach die Grenze geöffnet, uns durchgelassen und wieder geschlossen. Wir wissen bis heute nicht, warum. Ich hab das natürlich mal wieder als normal empfunden.


Jetzt waren wir sicher – wie eine Erlösung. Und wir hatten gutes Wetter. Es war ein sehr schöner warmer Frühling nach diesem grausigen eiskalten Winter.


Im Mai waren wir wieder Zuhause in Bonn. Es war alles vertraut. Ich war inzwischen acht Jahre alt geworden und wieder dort, wo ich hingehörte. Mir war dabei nicht klar, dass jetzt etwas neues auf uns zukam.


Wir kehrten in die alte Wohnung zurück. Sie war weder zerbombt noch besetzt – aber geplündert. Allerdings gab es neue Eigentümer. Die vorherigen wurden ja leider abgeholt.


Was mir immer leid tat: Meine Mutter verstarb 1992, und ich habe ihr nie sagen können, wie großartig ich es fand, was sie für uns getan hat.


Wir haben später über den Krieg gesprochen. Und sie hat mir viel über mein Verhalten erzählt. Und sie hat immer betont: „Du hast Dich so wohl gefühlt in Schlesien.“


Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Der Krieg war keine schöne Zeit. Aber ich hab sie nie als schlimm empfunden. Für mich als Kind war der Krieg ein Abenteuer. Ich bin dort hineingeboren, ich kannte es nicht anders, und das war für mich normal. Ich war wohl schon halb erwachsen, als ich das erste Mal begriffen habe, was da los war.



Auszug aus: „Meine etwas merkwürdige Vergangenheit“, erzählt von Amanda S., geschrieben und bearbeitet von Achim K.


Titelfoto: Rudy and Peter Skitterians / Pixabay

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