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Von Ost nach West – illegal über die Grenze

Annelies wurde am 27. August 1926 in dem kleinen Ort Gaablau geboren. Gaablau gehörte zum Kreis Waldenburg im Riesengebirge und liegt in Niederschlesien. Dort verbrachte sie Ihre Kindheit und Jugend. 1947 musste sie mit ihren Eltern, einem Bruder und einer Schwester ihre schlesische Heimat verlassen. Im Eisenbahnwaggon ging es in Richtung Westen. Zuerst in ein Quarantänelager zur Entlausung, später weiter in einen kleinen Ort in Sachsen-Anhalt. Dort arbeitete sie ca. zwei Jahre bei einer „Herrschaft“ als Hausangestellte, bis sie sich entschloss aus der DDR in „den Westen“ zu fliehen.



Illegaler Grenzgang


Unsere Lehrerin aus Gaablau wohnte damals im Münsterland, Vinnum heißt der Ort, im Kreis Coesfeld. Wie ich das alles gemacht habe, weiß ich leider nicht mehr, schreiben durfte man nicht viel. Falls ein Brief geöffnet wurde, hätten die Genossen gleich gewusst, wo der Hase lang lief. Jedenfalls hat es dann geklappt, meine erste Anlaufstelle war bei Fräulein S., aber das Schlimmste kam noch, der illegale Grenzgang(1).


Eine Bekannte kannte sich diesbezüglich aus, sie versprach, mit mir diese Fahrt zu machen. Ein kleines Päckchen mit etwas Wäsche zum Wechseln und eine Fahrkarte bis zur Grenze. Der Abschied war schon nicht so leicht, man fuhr ins Ungewisse. Von unserem Zielbahnhof aus gingen wir zu Fuß an den Bahnschienen lang, irgendwo stand ein Güterzug auf dem Abstellgleis - in der Hoffnung, von niemandem gesehen zu werden. Aber da hatten wir uns geirrt, ein Polizist hatte uns beobachtet. Plötzlich ging die Tür eines Waggons auf und er schrie: „Stehen bleiben!“ Er setzte uns die Knarre auf die Brust und wollte wissen, wo wir hin wollten. Das war wohl nicht schwer zu erraten. Er sagte nur: “Mitkommen!“ So gingen wir eine ganze Weile bis zu einem Wäldchen, dort wurde es spannend. Aus jeder Richtung kamen Grenzgänger und mehrere Polizisten. Man kam sich vor wie ein Schwerverbrecher. So ging es eine dreiviertel Stunde, bis wir in einem Gefängnis landeten.



Verhaftung und neuer Versuch


Ich wurde von meiner Bekannten getrennt. Als ich an die Reihe zum Verhör kam, hatte der Polizist mit mir wohl ein Einsehen. Er erklärte mir, dass ich beim nächsten Versuch 50 DM Strafe zahlen müsste, das war viel Geld. Ich versprach ihm, es nie wieder zu versuchen, und er ließ mich gehen.


Vor dem Gefängnis wartete meine Bekannte und war fest entschlossen, es gleich noch einmal zu versuchen. Sie hatte Mut. Ich hatte Angst und wenn ich allein gewesen wäre, hätte ich es nicht noch einmal versucht, aber im Osten wollte ich auch nicht mehr bleiben. Wir gingen querfeldein und hatten Glück, es war gerade Wachwechsel bei den Grenzposten.

Dann rannten wir über eine Aschenmulde, die durch den Regen ganz aufgeweicht war. Von einer anderen Seite kamen Flüchtende, die behaupteten, Russen gesehen zu haben. Daraufhin legten wir uns in die ausgewaschenen Aschenrinnen, um nicht gesehen zu werden. Später kamen andere und meinten, es wären westliche Zollbeamte gewesen. Wir stiegen erleichtert aus unserem Versteck. Aber wie sahen wir jetzt aus, völlig verdreckt vom Ascheschlamm! Aber das spielte jetzt keine Rolle. Nun hatte wir die nächste Hürde zu nehmen, einen kleinen Fluss. So rannten wir auf ihn zu, wir wussten aber nicht, wie tief er war und wir konnten beide nicht schwimmen. Doch wir fanden einen Übergang mit einem Gitter, durch das wir uns zwängten.


Endlich im „Westen“


Das Gefühl, auf westlichem Boden zu stehen, war ungeheuerlich, nun war es nicht mehr weit, bis zu den Zollbeamten. Diese freuten sich mit uns, dass wir es geschafft hatten, sie sahen nur kurz unsere Ausweise an und ließen uns laufen.

Wir sahen ja schrecklich dreckig aus, und so versuchten wir erst einmal den gröbsten Schmutz mit Zeitungspapier abzubekommen. Dann mussten wir überlegen, wie wir zum Schlagbaum nach Helmstedt kommen konnten. Das war noch ein ganzes Stück Weg, und wir hatten beide keinen Pfennig dabei. So entschlossen wir uns, per Anhalter zu fahren. Wir hatten Glück, ein PKW-Fahrer hielt an und fuhr uns bis zum Schlagbaum. Allein wäre ich allerdings nicht mit ihm gefahren, er sah nicht gerade vertrauenerweckend aus. Dort angekommen, bekamen wir in einer Baracke erst einmal eine warme Suppe.



Weiter mit Courage landeinwärts


Nun wollten wir aber weiter und fragten LKW-Fahrer nach ihren Zielen. Leider wollte aber keiner in Richtung Dortmund, was eigentlich unser Reiseziel war. Um 22.00 Uhr standen wir immer noch am Schlagbaum und da entschloss ich mich, erst einmal nach Frankfurt am Main zu meinen Cousin Herbert zu fahren. Er arbeitete seit Kriegsende dort in einem Hotel. In Richtung Frankfurt fuhren viele Lkws. Ich fragte mich durch und fand schnell jemanden.


Meine Begleiterin warnte mich noch, allein mitzufahren, und sie hatte Recht, aber ich war das Warten so Leid und fuhr mit. Im Führerhaus waren der deutsche Fahrer und ein Franzose, ich durfte in der Mitte sitzen. Hinten saßen noch ein paar Männer. So ging die Reise ins Ungewisse los.

Die ersten zwei Stunden waren problemlos, die Männer waren freundlich. Um 24.00 Uhr ungefähr, es war in der Nähe von Salzgitter, hielten sie mitten auf der Autobahn an und ich ahnte schon Schlimmes. Zuerst hatte mir der deutsche Fahrer versichert, dass ich nicht hinten auf den Laster musste, aber das war wohl eine Lüge. Die Männer mussten nach vorne und ich mit dem deutschen Fahrer nach hinten. Ich habe ihm aber gleich erklärt, dass sein eventuelles Vorhaben für mich nicht in Frage komme, ansonsten, wenn er mich anrühre, ich vom Auto springe, auch wenn ich mir sämtliche Knochen breche. Das hatte er wohl nicht erwartet. Ich habe ihm noch gesagt, er hätte einen Ehering an, hätte wahrscheinlich Kinder und eine Ehefrau, die auf ihn warten. Mit solchen Sprüchen hatte er nicht gerechnet, vielleicht dachte er auch, dass ich auf ein Abenteuer warte. Er gab dann dem Franzosen ein Klopfzeichen, die anderen Männer mussten wieder nach hinten und ich durfte wieder im Führerhaus sitzen. So ging die Fahrt ohne Probleme weiter. An einem Rasthof an der Autobahn luden mich die Männer sogar zu einem Imbiss ein.


So kam ich in Frankfurt am Hotel an und fragte meinen Cousin, ob ich die Nacht bei ihm verbringen dürfte. Es ging in Ordnung, auch mit seiner Chefin. Ich konnte aber nicht länger dort bleiben, da in Frankfurt die Syphilis ausgebrochen war. So gab er mir am nächsten Morgen 100 DM - ich hatte ja kein Geld mehr - und ich fuhr zuerst nach Dortmund und von da nach Vinnum zu Fräulein S., die mich schon erwartete.



Auszug aus: „Von Ost nach West – Die spannende Reise von Annelies M. aus der alten Heimat in eine neue“, erzählt von Annelies M., geschrieben und Auszug von Gaby Grefen



Anmerkungen


1) Das von den Behörden der DDR nicht genehmigte Verlassen des Landes, auch „Republikflucht“ genannt. Dieses war mit großen Gefahren verbunden, wurde mit Zuchthaus bestraft, und konnte sogar den Tod bedeuten.



Foto: bocux/Pixabay

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