Ein weiter Weg – von Myslowitz nach Flehe
Dorothea, 1924 in Myslowitz/Schlesien geboren, das mal zu Deutschland und mal zu Polen gehörte, war 15 Jahre alt, als die Stadt von der Wehrmacht besetzt und dem Deutschen Reich angeschlossen wurde. Geheiratet hat Dorothea 1943, als 19-Jährige. Nach dem Krieg, 1945, als sie also 21 Jahre alt war, wurde die Stadt wieder polnisch.
Dorothea berichtet von ihrer Flucht in mehreren Etappen.
Wir sind letztendlich nach Düsseldorf gekommen, weil wir aus unserer Heimatstadt Myslowitz fliehen mussten. Mein Mann war bis zuletzt beim Militär gewesen, zum Ende des verlorenen Krieges in Russland. Dort ist er mehrfach verwundet worden, verlor 1944 seinen rechten Arm. Im Januar 1945 sind die Russen als Besatzer in Myslowitz einmarschiert. Wir wussten, wir müssen weg. Unsere Flucht begann. Wir hatten noch kein Ziel, ja, wollten erst einmal nur weg, möglichst Richtung Westen, nach Deutschland, möglichst in den Frieden. Es sollte ein weiter Weg mit vielen Stationen werden.
Aus stickiger Baracke befreit
Mein Mann kam mit dem letzten Flugzeug aus Stalingrad (1) raus. Das war 1944. Er lag schwer verletzt – sein rechter Arm war schlecht amputiert worden – in einer Baracke ohne richtige medizinische Versorgung. Wir kannten einen wunderbaren Chirurgen, der helfen sollte. Es galt, von dem Arm zu retten, was noch zu retten war. Ich arbeitete für einen Arzt. Weil der nachtblind war, hatte er einen Fahrer. Zu dem hatten wir einen guten Draht. Der besorgte alles, was es auf dem Schwarzmarkt gab. Ich hatte alle zu einem Essen eingeladen, die über die Überführung meines Mannes aus der Baracke in das Heimatlazarett zu entscheiden hatten. Das tat ich natürlich in voller Absicht. Dafür hatte ich die entsprechenden Papiere besorgen lassen und zur Unterschrift vorbereitet. Meine Gastfreundschaft brachte den gewünschten Erfolg, so dass ich auf sämtliche Papiere die notwendigen Unterschriften bekommen hatte. Damit bin ich zu der Baracke gefahren, in der mein Mann lag. Sie war in einem Gebiet, in das sonst keiner durfte.
Die Verwundeten lagen Bett an Bett in der Baracke. Es war furchtbar. Die Luft war zum Ersticken. In dem Raum gab es kaum Licht, alles wirkte düster, bedrückend. Ich komme rein, da steht eine Person auf und kommt mir entgegen, und zwar in einem Mantel, der zur Wehrmachtsuniform gehörte. Ich erkannte meinen Mann nicht direkt wieder. Aber er war es. Er sah aus, als wenn er zusammengeschrumpft wäre. Dann sah ich, dass der Unterarm fehlte und ich wusste, er ist es. Ich sprach mit dem Arzt, bat ihn, bei der Verlegung behilflich zu sein. „Da kann ja jeder kommen“, meinte der erst einmal. Ich drohte mit Beschwerde, ließ mich nicht einschüchtern und zeigte alle meine Unterlagen. So gelang es mir, ihn mit einer Pflegerin aus der Baracke und dann in ein Lazarett bringen zu lassen.
„Gefangen auf freiem Fuß“
Eines Tages hieß es, das Lazarett solle evakuiert werden. Die Russen waren im Anmarsch. Es gab immer noch einige deutsche Soldaten in der Stadt. Wir versuchten, meinen Mann in einen Keller zu bringen. Das hat nicht geklappt. Er musste fliehen, bevor wir ihn holen konnten. Trotz seiner schweren Verletzung hatte er sich mit der noch gesunden Hand an langen Seilen über einen Balkon herunter gelassen und sich dann in einer großen Mülltonne versteckt. Dabei hatte er versucht, sich zu halten, rutschte aber so an dem Seil ab, dass nun auch die linke Hand und der Arm in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Er hatte davon regelrechte Brandwunden bekommen.
Die russischen Besatzer waren in unsere Wohnung eingedrungen, um Soldaten zu finden, die sich eventuell versteckt hatten. Da stand plötzlich einer der Russen mit einem Gewehr vor mir, sehr bedrohlich wirkend. Wollte er schießen? Einer von ihnen, ein Offizier, hat ihm zugerufen: „Lass das, nicht schießen!“, natürlich auf Russisch. Er ließ zwar von mir ab, aber man sagte mir, dass ich ab sofort als „gefangen auf freiem Fuß“ galt. Das hieß, ich durfte Myslowitz nicht verlassen. Als die russischen Besatzer die Wohnung verlassen hatten, bemerkte ich, dass der Schmuck vom Nachttisch und ein Ledermantel, der in der Diele gehangen hatte, weg waren. Das und einiges andere hatten die Russen mitgenommen.
Verhaftet: Für vier Monate ins Lager
Dann klingelte eine Freundin und wollte wissen, ob wir ihr mit einem Herzmittel helfen könnten. Das war ein Vorwand. Sie wollte feststellen, ob die Russen die Wohnung verlassen hatten. Denn sie hatte mitbekommen, dass mein Mann sich in einer Mülltonne versteckt hatte. Sie erzählte dann, dass sie ihn bei sich aufgenommen hatte und er dringend Hilfe brauchte, weil er sich bei der Flucht sehr verletzt hatte. Wir haben ihn dann in die Wohnung geholt und ich habe ihn verbunden.
Mein Mann regte sich sehr über die Russen auf und meinte, dass er der Polizei von dem Raub des Schmucks, des Mantels und anderer Dinge erzählen müsste. Ich konnte ihm das nicht ausreden und wir gingen zur Polizei. Ich bat meinen Mann, mich alleine mit dem Beamten reden zu lassen und betrat das Dienstzimmer. „Ich möchte mich beschweren!“, sagte ich dort forsch. Ich wurde aufgefordert, mitzukommen und schon befand ich mich im Gefängnis. Mein Mann, der ja abseits stehen geblieben war, wurde erst nicht beachtet. Ein Diensthabender fragte mich schließlich, was ich denn wolle und ich antwortete: „Das frage ich mich auch. Ich habe nichts getan und man hat mich einfach verhaftet.“ Inzwischen dauerte es meinem Mann zu lange und er suchte nach mir. Er erfuhr, dass man mich mit ins Gefängnis genommen hatte. Dabei entdeckten ihn russische Soldaten, die auf der Suche nach ihm gewesen waren und brachten ihn ebenfalls ins Gefängnis. Ich wurde entlassen, musste mich aber jeden Tag melden. Mein Mann musste fünf Monate im Gefängnis bleiben und wurde anschließend für vier Monate in ein Lager gebracht, und zwar in eine sogenannte Außenstelle des Lagers Auschwitz.
Erneut befreit – dank Hebamme
Auch aus diesem Lager gab es eine Flucht. Über einen Arzt, der auch in dem Konzentrationslager gefangen war und der mir später Arbeit in seiner Praxis anbot, kam ich an Medikamente, die ich für eine Lagerkommandantin brauchte, die wiederum eine Leberentzündung hatte. Dadurch erreichte ich, dass mein Mann jeden Tag frische Wäsche im Lager bekam und somit für ihn die Gefahr, an Typhus zu erkranken, geringer war. Durch die Beliebtheit meiner Mutter, die durch ihre Arbeit als Hebamme viele Menschen kannte, die ihr gut gesonnen waren, erfuhren wir, dass immer wieder Menschen auf Planwagen zum Friedhof gebracht wurden. Wir hatten einen schlimmen Verdacht. Von einer Wachmannschaft hörten wir, dass im Lager Typhus herrschte. Ich musste meinen Mann da heraus bekommen. Es gab einen Kommandanten, dessen Frau erwartete ihr erstes Baby und es sollte eine schwere Geburt werden. Der Kommandant wandte sich an meine Mutter, die schon bei vielen Geburten geholfen hatte. Er versprach ihr, wenn sie seine Frau und das Baby rettete, dann würde er ihr jeden Wunsch erfüllen. Mutter half, rettete die Frau und das Baby. Dann sagte sie dem Kommandanten, dass sie nur einen Wunsch hätte: „Ich habe einen wundervollen Schwiegersohn, der aus dem Lager heraus geholt werden muss.“ Der Kommandant hat sich wohl gewundert, aber er hat sein Versprechen gehalten. Er hat meinen Mann frei bekommen.
Ankunft in Glatz
Wegen einer Gerichtsverhandlung und der Aussage meines Mannes, dass er die polnische Staatsangehörigkeit nicht annehmen, sondern Deutscher bleiben wolle, riet mir ein uns gut bekannter Richter, dass mein Mann verschwinden solle. Doch das kam so nicht in Frage. Ich lass‘ doch meinen Mann mit einer kaputten Hand nicht alleine, entschied ich. Da wussten wir, wir müssen weg.
Wir haben uns in einen Zug gesetzt und kamen nach Glatz (2). Wir hatten uns diesen Ort ausgesucht, weil es sich herumgesprochen hatte, dass man dort am besten über die Grenze nach Deutschland gelangen könnte. Wir kamen nachts in Glatz an. Es war stockdunkel. Es gab kein Licht, es war richtig finster. Wohin sollten wir gehen, fragten wir uns. Nachdem wir uns etwas an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen wir ganz entfernt ein Licht.
Natürlich gingen wir in diese Richtung. Es führte uns zu der Kirche des dortigen Minoritenklosters (3). Dort angekommen, sangen die Menschen darin gerade das Lied: „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Es war der Heilige Abend. Da brach ich zusammen. Mich hatten die Kräfte verlassen. Ich fing bitterlich an zu weinen. Mir war klar geworden, dass wir unsere Heimat verloren hatten. Als die Menschen von der Kirche in die Klosterräume gingen, schlossen wir uns an. Dort hofften wir auf Aufnahme.
Typhus im Kloster – Flucht als „russische Ärztin“
Als wir im Kloster ankamen, sahen wir, dass hier schon zu viele Flüchtlinge in dem großen Speisesaal waren. Auf dem Boden lag ein Mensch eng neben dem anderen. Mein Mann und ich konnten nicht darüber reden, wir sahen aber sofort: Typhus brach aus. Da lagen Menschen mit hohem Fieber. Einer der deutschen Ärzte machte uns klar, dass Panik ausbrechen würde, wenn wir das laut sagen würden. Da haben mein Mann und ich einen Plan entwickelt. Als ich mir das später überlegt habe, dann haben wir damit viel riskiert. Aber wir wussten, wie gefährlich die Krankheit ist und auch, dass wir handeln mussten. Wir entschieden, dass mein Mann im Kloster bleiben sollte. Ich versprach ihm, wenn ich außerhalb des Klosters bin, für Essen und saubere Kleidung zu sorgen, denn das war das sicherste Mittel gegen Typhus. Es war gut möglich, das Kloster zu verlassen. Es gab da keine Aufpasser. Aber das ging nur, indem ich mich außerhalb des Klosters als eine russische Ärztin ausgab. Das „N“ für „Deutsche“, das mir angeheftet worden war, hatte ich von meiner Kleidung abgerissen. Es wirkte auf mich so, wie man es vorher bei den Juden mit dem Judenstern gemacht hatte. Es war auch hier das Zeichen für Ausgrenzung und Demütigung. Wenn man beim Entfernen des Zeichens erwischt wurde, musste man mit Erschießung rechnen. Ich beherrschte die russische Sprache durch meine Schulzeit, was mir jetzt wirklich half.
Wir organisierten heimlich mit einigen anderen Flüchtlingen, dass eine der schwer kranken Frauen in einen Bollerwagen und ein fast lebloser Mann in einen Kinderwagen gelegt wurden. Wir haben die beiden in ein Krankenhaus gebracht und dort um Aufnahme für sie gebeten. Es war nicht ungefährlich. Wenn heraus gekommen wäre, dass ich keine russische Ärztin war, hätte man mich umgebracht. Ich habe mir damals geschworen, wenn das gut ginge, nie mehr wieder russisch zu sprechen.
Unser Plan ging auf. Die Ärzte im Krankenhaus mussten nun feststellen, dass in dem Kloster Typhus herrschte. Die Behörde wurde informiert und sie schritt ein. Ich durfte nicht mehr zurück in das Kloster. Ich habe mir dann ein Zimmer bei einer Witwe in der Siedlung genommen und konnte mich dort aufhalten. Zu unserem Plan gehörte auch, dass ich zu einer bestimmten Zeit an einer bestimmten Stelle an einem Mauerdurchschlupf des Klosters sein würde, um meinen Mann zu treffen. So konnte ich ihm immer Kleidung und Essen mitbringen, damit er sich nicht so schnell anstecken konnte. Denn die größte Gefahr ging von den Filzläusen in dreckiger Kleidung aus, weil die den Erreger des Typhus übertrugen. Wir hatten Glück.
Nach der Entlausung: Aufbruch nach Niedersachsen
Ich hatte erfahren, dass man die Flüchtlinge im Kloster los werden wollte und schärfte meinem Mann ein, darauf zu achten, wenn es Anzeichen eines kommenden Abtransportes geben sollte. Als es dazu kam, vermummte ich mich abends als alte Frau, konnte mich so wieder in das Kloster schleichen und war an dem Tag bei meinem Mann, als wir weggeschickt werden sollten. So konnten wir gemeinsam in dem Güterwaggon fahren, in den wir verladen wurden, der entweder in die DDR oder nach Russland geschickt werden sollte.
Der Güterzug brachte uns nach Kohlfurt (4). Dort wollten uns die Deutschen nicht aufnehmen, sie hatten Angst vor Typhus. Da entschied eine Kommission aus Franzosen, Engländern und Amerikanern, dass wir erst einmal in ein Durchgangslager sollten und mit Entlausungsmaschinen desinfiziert werden mussten. Noch einmal mussten wir in Waggons. Es hieß, dass wir nach Niedersachsen transportiert werden, wo es viel Landwirtschaft geben und Platz sein sollte. Wir erreichten Hilter, einen Ort, der im Süden des Landkreises Osnabrück in Niedersachsen liegt.
Den Westen in Deutschland hatten wir erreicht, am Ziel waren wir noch nicht.“
1) Nach dem verlorenen Krieg der Deutschen kamen die in Russland gefangenen deutschen Soldaten aus Stalingrad, dem Schauplatz der wahrscheinlich wichtigsten Schlacht während des Zweiten Weltkrieges, zurück in ihre Heimat. „Die Rote Armee“ war die Bezeichnung für die
Soldaten aus Sowjetrussland in der Sowjetunion. Stalingrad war eine russische Stadt, die eine große strategische Bedeutung durch ihre Lage an der Wolga hatte. Seit 1961 heißt die Stadt Wolgograd.
2) Die Stadt Glatz heißt heute Kladko, schlesisch Glootz, tschechisch Kladsko, und ist die Hauptstadt des Powiat Klodski in der Woiwodschaft Niederschlesien in Polen. 2019 hatte sie 26.845 Einwohner. Bis 1945 gehörte die Stadt zum Deutschen Reich. Sie liegt an der Bahnstrecke Breslau – Prag. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt durch die Russen besetzt und kurz darauf unter polnische Verwaltung gestellt. Die Deutschen wurden in der Folgezeit vertrieben.
3) Die Franziskaner-Minoriten sind eine Ordensgemeinschaft in der röm.-kath. Kirche. Sie werden auch Konventualen oder, nach der Farbe ihres Habits, im Volksmund schwarze Franziskaner genannt. Das Kloster wurde von den Franziskanern um 1700 gebaut.
4) Die Stadt Kohlfurt heißt heute Wegliniec und hat ca. 3000 Einwohner. Sie liegt im Südwesten Polens, ca. 21 km nordöstlich von Görlitz, Powiat Zgorzelecki in der Woiwodschaft Niederschlesien. Sie gehört zur Euroregion Neiße und liegt im polnischen Teil der Oberlausitz. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Kohlfurt Polen zugeschrieben. Bis zu 6 Millionen Schlesier wurden 1946/47 vertrieben. Die Züge mit den Waggons voll Flüchtlingen hielten in Kohlfurt, dort mussten sie aussteigen und nach der entwürdigenden Entlausungs-Prozedur wurden sie weiter geschickt.
Auszug aus „Ein weiter Weg – von Myslowitz nach Flehe“, erzählt von Dorothea G., aufgeschrieben und bearbeitet von Barbara H.
Foto: Falco/Pixabay
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