Einstieg in die Berufskarriere: „Was die Blagen heute mit Anfang 20 verdienen?“
Die 1939 in Krefeld geborene Leonie wird nach der Einberufung ihres Vaters in den Kriegsdienst und Tod ihrer Mutter vom Patenonkel Hugo und seiner Frau in Obhut genommen und im Vorort Fischeln (1) aufgezogen. Kriegs- und Nachkriegszeit sind geprägt von Armut, Hunger, Ängsten und unerfüllten Träumen. Es gelingt ihr aber jeden Stolperstein des Schicksals zu überwinden und ihre wichtigsten Lebenswünsche zu erfüllen: mit einem liebenswerten Ehemann die Welt bereisen und von vielen Kindern und Enkelkindern geliebt zu werden.
Englische Meisterin der Hieroglyphen
Schon ein Jahr vor meinem Volksschulabschluss sprach Onkel Hugo mit mir über den Berufseinstieg: „Wegen des Doppeljahrgangs werden 1954 sehr viele Mädchen die Schulen verlassen. Es wird also nicht einfach für Dich sein, einen Ausbildungsplatz zu finden.“ – „Aber ich lerne doch schon zusätzlich Englisch, das können nicht so viele.“
Er stimmte mir zu, empfahl mir aber, zusätzlich noch Schreibmaschine und Steno zu lernen, um meine Chancen zu erhöhen: „Auf der Dionysiusstraße gibt es den Stenografen-Verein, die Kurse würde ich Dir bezahlen.“
Gesagt, getan. Und so belegte ich in meinem letzten Schuljahr an vier Tagen in der Woche Kurse in Englisch, Schreibmaschine und Stenografie. Zusammen mit dem Konfirmationsunterricht war das ganz schön anstrengend, und mir blieb wenig freie Zeit für meine Freundinnen.
Aber es machte auch viel Spaß. Englisch liebte ich sowieso, aber auch Steno fand ich witzig, das war ja eine Art Geheimschrift. Was andere nicht lesen sollten, stenografierte ich fortan.
Ich wurde rasch so gut, dass ich an Schnellschreibwettbewerben teilnahm und Urkunden sammelte. Noch heute freue ich mich diebisch, wenn ich gefragt werde: „Was machst du denn da für Hieroglyphen (2)?“
Mein Abschlusszeugnis nach der 8. Volksschulklasse fiel dann auch gut aus, und die freiwillig durchgeführten Kurse boten mir eine prächtige Ausgangsbasis für eine kaufmännische Berufsausbildung.
Hörzu mit Sterbeversicherung
Banken und Sparkassen stellten gerne auch sehr gute Schüler von den Volksschulen ein. Aber ich entschied mich schließlich für die kleine Firma Tenbergen, die in einem Privathaus auf dem Frankenring ansässig war. Dort startete ich zwei Wochen vor meiner Konfirmation eine dreijährige Lehre zum ‚Groß- und Einzelhandelskaufmann‘.
Neben den Eheleuten B, die die Geschäfte führten, arbeitete ich lediglich mit einer Angestellten und einem Lageristen zusammen. Der große Vorteil war, dass Chef und Chefin sich sehr intensiv mit mir beschäftigten, nicht nur fachlich, sondern auch menschlich. Sie kamen aus einem anderen gesellschaftlichen Milieu, als ich es bis dahin kannte, und konnten mir sehr viel für mein Leben mit auf den Weg gegeben.
Natürlich waren die auch froh, dass ich ab dem zweiten Lehrjahr eine vollständige Kraft ersetzen würde. Im Vordergrund stand für sie aber stets der menschliche Umgang mit den Kunden und unter den Mitarbeitern. Dazu gehörte auch, dass ich auch mal von ihnen zum Essen eingeladen wurde.
Zum Konfirmationskaffee erschien mein Lehrchef mit einem Blumenstrauß und scherzte über mein neues Fahrrad: „Na, dann brauchst Du ja zum Glück keinen Dienstwagen.“
Von beiden habe ich viel gelernt, und sie haben mich sehr stark geprägt, aber der Buch- und Zeitschriftenhandel war nicht unbedingt das, was ich auf Dauer machen wollte. Es fehlte mir insbesondere die Anwendung meiner Englischkenntnisse.
Da auch in der Kaufmannsschule am Nordwall Englisch Ruhepause hatte, fuhr ich noch nebenher zwei Semester zur Sprachschule Berlitz nach Düsseldorf, um meine Fähigkeiten warm zu halten. Später sollte ich sogar noch auf der Dolmetscherschule Schmitz, auf der Graf Adolf Straße, einen IHK-Abschluss als Auslandskorrespondentin erlangen. Englisch war schon damals meine große Leidenschaft und ist es bis heute geblieben.
Was ich aber bei Tenbergen sehr interessant fand, war die Verknüpfung des Zeitschriftengeschäfts mit dem Verkauf von Versicherungen. Das gibt es heute so nicht mehr.
Unsere Kunden konnten ihre Zeitschriftenabonnements mit günstigen Unfall- und Sterbeversicherungen kombinieren. Unser Lagerist musste deshalb nicht nur die Lieferungen zusammenstellen, sondern diese auch mit einem Stempel kennzeichnen. Zum Beispiel ein ‚U‘ für Unfallversicherung oder ‚SU‘ für Sterbekasse und Unfallversicherung.
Eine Funk- und Fernsehzeitschrift ‚Hörzu‘ kostete 50 Pfennige und die Unfallversicherung 25, machten für das Abo dann 75. Das war noch simpel. Es gab aber mehrere Preisklassen, mit denen wir in der Buchhaltung dann für die Lieferanten und Austräger die Rechnungen erstellten. Fünf Zeitschriften mit ‚U‘ und soundsoviele mit ‚S‘ und ‚SU‘. Das war viel Rechenkram. Aber Kopfrechnen hatte mir schon in der Schule Spaß gemacht.
Es lief also alles sehr gut, bis Herr B. 1956, ein gutes halbes Jahr vor Abschluss meiner Lehre, alle Mitarbeiter über den Verkauf des Geschäftes informierte: „Die Inhaberin will zu viel Geld. Meine Frau und ich haben ihr gesagt ‚Guck mal, wo Du das herkriegst‘, deshalb machen wir jetzt Schluss.“
Da waren wir alle sprachlos.
Der Kundenstamm der Firma Tenbergen wurde verkauft, ein Teil an eine Firma Klein in Düsseldorf. Die war ebenfalls im Zeitschriften- und Versicherungshandel tätig, betrieb aber hauptsächlich den Buchhandel für den Bertelsmann Verlag.
„Ich habe mit Herrn K. besprochen, dass er Dich bis zur Beendigung Deiner Lehre übernimmt“, tröstete mich Herr B., als wir alleine in seinem Büro waren. Dafür war ich ihm sehr dankbar, obwohl ich nun mit der K-Bahn nach Düsseldorf fahren musste. Nur an den Tagen, an denen ich die Kaufmannsschule in Krefeld besuchte, blieb mir das erspart.
Die Düsseldorfer Rheinbahn betrieb damals zwei Bahnlinien, die durchs Krefelder Stadtgebiet führten. Die M-Bahn fuhr bis 1959 nach Moers und die K-Bahn ins Krefelder Stadtzentrum. Heute heißt sie offiziell U76, obwohl sie, aus Krefeld kommend, erst nach der Haltestelle Tonhalle im Untergrund fährt. Aber viele Krefelder und sicher auch Düsseldorfer nennen sie bis heute K-Bahn.
Die Firma Klein war deutlich größer als Tenbergen. Umso stolzer machte mich, Mitte 1957 als Beste der vier Lehrlinge die Prüfungen abzuschließen. Das war auch sehr gut für das Renommee der Firma, wenn ihre Lehrlinge gute Abschlüsse machten. Das meiste hatte ich zwar gar nicht bei Klein gelernt, trotzdem waren sie sehr erfreut und machten mir ein großzügiges Geschenk: Theaterkarten, die ich mit einer Freundin einlöste.
Trotzdem blieb ich nicht mehr lange dort. Ich wollte unbedingt etwas Neues anfangen. Mein Ziel war richtige Sekretariatsarbeit, wo ich auch meine Englischkenntnisse einsetzen konnte.
Das Mädel vom Schachtelsätze-Chef
Noch im Jahr 1957 half mir die Cousine von Onkel Hugo, die in Düsseldorf beim Verein Deutscher Maschinenbau-Anstalten (VDMA) als Sekretärin angestellt war, auch dort anzufangen, allerdings in einer anderen Abteilung. Hauptsitz des VDMA war Frankfurt, aber das Büro in Oberkassel beeindruckte dennoch durch seine Größe.
Als ich in der Abteilung von Dr. S anfing, gab es bereits eine langgediente Sekretärin, eine ältere, unverheiratete Matrone, die mit Fräulein B. angesprochen wurde. Das war damals so üblich. Sie regelte den normalen Schriftverkehr und die Termine.
Jeden Morgen legte sie die Terminmappe auf den Schreibtisch des Chefs und besprach mit ihm den Tagesablauf. Für die großen Schreibsachen wurde sie aber gar nicht rein gebeten, das gehörte zu meinen Aufgaben.
Morgens erschien Dr. Stroer immer ein bisschen später im Büro. Wenn er etwas Wichtiges vorzubereiten hatte, rief er mir schon im Vorbeigehen zu: „Mädel, gleich brauche ich Dich wieder. Aber erst wenn ich mit Fräulein B durch bin.“
Meine Vorfreude war dann immer schon sehr groß, denn das war das eindeutige Signal für eine interessante Aufgabe. Vielleicht eine Sitzung der VDMA-Mitgliedsfirmen, an der ich auch teilnahm, um Protokoll zu führen.
Das war gar nicht so einfach, besonders wenn ein Brummel-Bayer oder eine Berliner-Schnauze in ihrem Dialekt loslegten. Da musste ich mich konzentrieren und gut aufpassen beim Mitschreiben. Etwas einfacher wurde es dann mit der Einführung von Tonbandgeräten. Die konnte ich dann beim Protokollschreiben solange vor- und zurückspulen, bis ich zu mir selbst sagte: „Na, dann hat der das wohl so gesagt.“
Wenn Dr. S. mich zum Diktat rief, musste ich mit Block und Stiften antreten. Er war Diplom-Ingenieur und verfasste Sonderdrucke zu bestimmten Fachthemen, die er in einer Fachzeitschrift für die VDMA-Mitglieder veröffentlichte. Darin beschrieb er Projekte, sowie deren Wirkungsweisen und Auswirkungen auf die Unternehmen der Branche.
Die Diktate hierfür waren besonders lang, teilweise dauerten sie mehrere Stunden. Bevor er seine Gedanken zu Papier bringen ließ, ermunterte er mich immer: „Mädel, wenn Du nicht verstehst, worum es geht, und wenn ich mal wieder so lange Sätze mache, sag es mir.“
Und das habe ich natürlich auch gemacht. Insbesondere wenn er mal wieder seine dreistufigen Schachtelsätze verwandt hatte: „Das ist zu kompliziert, das muss man ändern.“
Nachdem ich es ihm vorgelesen hatte, meinte er humorvoll: „Dann setzen wir hier und da mal ein Pünktchen.“
Einmal im Jahr fand in Frankfurt die Messe ACHEMA statt, auf der sich der VDMA in einem Messepavillon im Eingangsbereich präsentierte. Wir waren keine Aussteller, die Firmen, fast alle VDMA-Mitglieder, nutzten aber unseren Stand, um Kontakte zu pflegen.
Dr. S. musste natürlich auch anwesend sein und die Mitgliedsfirmen besuchen. Gemeinsam mit einer anderen jungen Kollegin war ich für den Messedienst verantwortlich. Ich genoss die paar Tage auf der ACHEMA, auch wegen der Übernachtungen in einem Hotel. Das war für mich damals purer Luxus.
Die Kollegin und ich organisierten unseren Dienst so, dass auch wir abwechselnd über die Messe schlendern konnten. Ich empfand es als sehr spannend, an den Ständen unserer Mitgliedsfirmen zu erfahren, was und wie die produzierten. Teilweise waren sogar große Maschinen aufgebaut, um den Produktionsgang zu demonstrieren.
Ganz und gar unvorbereitet war ich, als mich ein Mann inmitten einer Menschenmenge einfach ansprach: „Haben Sie heute Abend schon was vor?“
Klar, ich war jung und sah vielleicht nicht schlecht aus um diese Zeit. Aber allein der Gedanke, dass diese braven Ehemänner auf den Messen jede Gelegenheit zu einem Techtelmechtel nutzen wollten, dreht mir noch heute den Magen um.
Ich hatte drei wunderschöne Jahre genossen, als Dr. S. sich von uns, wie jedes Jahr, zu seinem Kur-Urlaub im Fichtelgebirge verabschiedete. Keiner ahnte, dass es ein Abschied für immer sein sollte.
Er lebte schon seit einigen Jahren mit seiner Familie an der Möhnetalsperre, und nutzte in Büderich nur noch eine Kleinwohnung. Schon seit einiger Zeit setzte ihm eine Krankheit, vermutlich Parkinson, stark zu. Er kam jetzt statt mit dem Auto immer mit der Bahn zur Arbeit. Zu den Messen ließen wir uns von einem Chauffeur im geräumigen VDMA-Dienstwagen nach Frankfurt fahren. Wenn er ins Büro kam, musste ich ihm die Krawatte knüpfen und die Manschettenknöpfe einsetzen. „Mädel, machst Du mir den oberen Knopf einmal zu.“ Er konnte nicht mehr kleinteilig greifen.
Bevor er nach Bad Berneck aufbrach, hatte er, wie üblich, lange Schriftsätze diktiert und sonstige Aufgaben verteilt, damit wir etwas zu tun hatten. Aber wir schoben trotzdem einen ruhigen Lenz, wenn er nicht da war und gönnten uns nachmittags Kuchen vom gegenüberliegenden Bäcker. Der VDMA war ohnehin ein sehr großzügiger Arbeitgeber.
Etwas Zeit für einen Friseurbesuch oder einen Einkauf abzuzwacken, war gar kein Problem. Und gut verdient habe ich obendrein. Onkel Hugo hat es nicht fassen können: „Was die Blagen heute mit Anfang 20 verdienen?“ Das war ein guter Arbeitgeber und eine schöne Zeit.
Daher traf mich die Nachricht, dass Dr. S im Urlaub gestorben sei, besonders hart. Die Todesumstände blieben im Dunklen, ich vermute aber, dass er hat sterben wollen, um sich, aber vor allem seiner Familie, den weiteren Verlauf seiner Krankheit zu ersparen.
Konsterniert musste ich dann miterleben, wie ein junger Mann, protegiert von seinem Vater, das Werk unseres verehrten Chefs in kürzester Zeit zerstörte. Der saß den ganzen Tag hinter Dr. S’s Schreibtisch, las Zeitungen und Fachzeitschriften und brachte keinen einzigen Fachartikel zustande. Ein richtig fauler Mensch. Wir schüttelten jeden Tag verständnislos unsere Köpfe. Außerdem hatten wir richtiggehend Langeweile.
Nach zwei Monaten sagte ich schließlich zu Fräulein B.: „Das ist kein Leben für mich, dann gehe ich lieber.“ Der neue Chef war nicht mal böse drum, denn er hatte ja eh keine Arbeit für mich. Und mir fiel es auch nicht schwer, gleich etwas Neues bei einer Werbeagentur in Düsseldorf zu finden.
(1) Fischeln ist der südlichste Stadtbezirk Krefelds. Es erstreckt sich auf knapp 19 km² und ist mit 26.216 Einwohnern (Stand: 31. Dezember 2016) hinter der Stadtmitte der einwohnerstärkste Stadtbezirk.
(2) Eine Hieroglyphe (altgriechisch ἱερός hierós, deutsch ‚heilig‘, γλυφή glyphḗ, deutsch ‚Eingeritztes‘) ist ein Schriftzeichen mit erkennbar bildhaftem Charakter. Als Hieroglyphen oder Hieroglyphenschrift wird ein Schriftsystem bezeichnet, das überwiegend solche Zeichen als Schriftzeichen verwendet. „Hieroglyphen“ wird auch in speziellerem Sinne als Bezeichnung der ägyptischen Hieroglyphenschrift verwendet.
Auszug aus „Zwei Mütter, ein Vater und Onkel Hugo“, erzählt von Leonie B., geschrieben und Auszug bearbeitet von Uwe S.
Symbolfoto: by_mema/Pixabay
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