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Alles wackelte und zitterte… dann ging das Licht aus.

Die 1939 in Krefeld geborene Leonie wird nach der Einberufung ihres Vaters in den Kriegsdienst und Tod ihrer Mutter vom Patenonkel Hugo und seiner Frau in Obhut genommen und im Vorort Fischeln (1) aufgezogen. Kriegs- und Nachkriegszeit sind geprägt von Armut, Hunger, Ängsten und unerfüllten Träumen. Es gelingt ihr aber jeden Stolperstein des Schicksals zu überwinden und ihre wichtigsten Lebenswünsche zu erfüllen: mit einem liebenswerten Ehemann die Welt bereisen und von vielen Kindern und Enkelkindern geliebt zu werden.


Auf Pütterkes in den Luftschutzkeller

Das erste Mal heulten die Sirenen Anfang Oktober 1942 los, einen Monat vor meinem dritten Geburtstag. Ich wusste gar nicht, was Krieg bedeutete, nur, dass mein Papa als Soldat eingezogen worden war und wir nicht viel zu essen und anzuziehen hatten. Nach meinem ersten Fliegerangriff begriff ich, dass Krieg eine schreckliche Zeit war.

Damals waren Tante Gerta, Onkel Hugo und ich bei Alarm immer bis zum großen Bunker am Marienplatz in Fischeln gelaufen. Dort war das Gedränge groß und die Luft schlecht gewesen. Am schlimmsten für mich war aber, die Flugzeuge kommen und die Bomben fallen zu hören.

Nach der Entwarnung sah ich auf dem Rückweg zum ersten Mal zerstörte Häuser. Wir mussten teilweise über die Trümmer steigen. Auf der Kölner Straße brannte ein Haus, aus dem der leblose Körper eines Mannes getragen wurde.

Onkel Hugo zog mich sofort dort weg: „Schnell, schnell, schnell!“

Ich musste immer aufpassen, dass ich mit meinen kleinen Pütterkes dabeiblieb.

Nach diesen schrecklichen Eindrücken liefen wir nicht mehr zum großen Bunker. Wir hasteten stattdessen bei Alarm in den Luftschutzkeller unseres Hauses. In den beiden Nachbarhäusern links und rechts von unserem Mittelhaus existierten eigene Schutzkeller.

Im März 1943 wurde auch Onkel Hugo in die Wehrmacht (2) eingezogen. Jetzt waren beide Brüder Soldaten und ich hatte weder Papa noch Ziehvater an meiner Seite.

„Jetzt sind wir zwei Frauen auf uns alleine gestellt. Aber das bekommen wir schon gemeinsam hin“, tröstete mich Mutter am Abend, nachdem wir Onkel Hugos Zug unter Tränen zugewinkt hatten. Zu allem Übel häuften sich kurz danach auch noch die Luftangriffe auf Krefeld.

Von Monat zu Monat heulten die Sirenen öfter und die Bombenabwürfe nahmen zu.

In der Nacht zum 22. Juni 1943 war zunächst alles wie immer gewesen. Ich war mit der Angst vor einem Bombenangriff eingeschlafen. Gegen Mitternacht hatten die Sirenen einen Angriff angekündigt. Mutter hatte mich geweckt und schnell angezogen. „Mach flott, Leonie, ich höre schon die Flieger.“

Zum Glück hatte ich vor dem Schlafengehen nicht vergessen, meine beiden namenlosen Puppen, die ich überall mitschleppte, in die Basttasche mit Griffen zu legen, die abends immer neben dem Bett bereitstand. So reichte ein Griff, um das Täschchen mit den Schildkrötpüppchen, denen Tante Gerta blau-weiße Mädchen- bzw. Jungenkleidung gestrickt hatte, unter den Arm zu klemmen.

Dann ging es ab in den Keller. Auf dem Weg hinunter konnte ich noch einen Blick durchs Fenster erhaschen.

„Es ist ja taghell draußen?“, rief ich überrascht. „Die Engländer haben schon die Christbäume gesetzt, um ihre Ziele zu markieren.“

Das hieß für uns: Rette sich, wer kann!

Nun versammelten sich wieder alle Familien aus unserem Haus im engen Kellerraum, in dem Bänke aufgestellt waren.

Herr F aus der 1. Etage bediente die Tür unseres Kellerbunkers. Bis auf ihn waren bereits alle Männer aus unserem Haus zum Kriegsdienst eingezogen worden. Auch diesmal verschloss er die beiden Griffe der schweren Eisentüre erst, als sich alle Hausbewohner im Raum befanden.

An diesem Abend nahm ich das Brummen der Jagdflugzeuge und das Pfeifen der fallenden Bomben viel intensiver wahr als bisher. Die Explosionen der aufschlagenden Bomben wollten auch nach mehreren Stunden kein Ende nehmen und ich spürte an den Vibrationen, dass sie unserem Haus immer näher kamen.

Bei jedem heftigen Einschlag zuckte ich zusammen, drückte Mutters Hand immer fester und irgendwann fing ich, wie die anderen Kinder, an zu weinen. „Hab‘ keine Angst, ich bin ja bei Dir. Es ist bestimmt gleich vorbei“, versuchte Mutter mich zu beruhigen.

Kaum hatte sie das gesagt, gab es einen ohrenbetäubenden Rums und der ganze Raum bewegte sich wie bei einem Erdbeben. Alles wackelte und zitterte.

Dann ging das Licht aus. Die ängstlichen Aufschreie von allen Seiten unterbrach der Türwächter: „Bleibt alle ruhig sitzen. Wir müssen abwarten, bis der Angriff vorbei ist.“

Es folgte eine gespenstische Ruhe im Raum. Wir warteten in der Dunkelheit. Bis auf einen gelegentlichen leisen Schluchzer eines Kindes und das Rieseln von Dreck aus den Wänden und der Decke, war es mucksmäuschenstill.

Es dauerte aber noch eine gefühlte Ewigkeit, bis der Angriff vorbei war und die Sirenen Entwarnung gaben. „Ich schau mal, ob wir getroffen wurden“, rief uns Herr F. zu, während er die Griffe der Kellertür entriegelte.

Da der Strom im gesamten Haus ausgefallen war, dauerte es eine Weile, bis er mit zwei Karbidlampen zurückkam. „Unser Haus ist heil geblieben, nur viel Staub, aber nix kaputt. Aber das Nachbarhaus hat es mächtig erwischt.“

Durch einen Bombeneinschlag in der Nähe war das halbe Haus weggebrochen. Da das Treppenhaus verschüttet war, saßen die Nachbarn in ihrem Luftschutzkeller fest.

„Kommen die da jetzt nicht mehr raus?“

Bestürzt über meine eigenen Worte hielt ich mir beide Hände vor den Mund.

„Da brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen, Leonie, dafür haben wir hier doch die Werkzeugkiste stehen.“ Der Mann öffnete eine in der Ecke stehende graue Stahlbox, die mir bis dahin nie aufgefallen war, die neben Gasmasken auch Werkzeuge enthielt.

Mit einem Griff entnahm er Hammer und Meißel und begann, damit Steine aus der Wand zum zerstörten Nachbarhaus herauszuschlagen. Die mit einfachen Durchbrüchen gemauerten Wände zwischen den Kellern konnten leicht eingeschlagen werden, um die Eingeschlossenen zu befreien.

Gesagt, getan. Schon nach einigen Schlägen von beiden Seiten der Wand entstand ein Durchgang, durch den die Nachbarn zu uns rüber kriechen konnten.

Nach kurzer, freudiger Begrüßung hieß es wie üblich: „Jetzt alle hoch!“ Im Treppenhaus war nix kaputt, es war aber furchtbar dreckig und staubig.

Zurück in unserer Wohnung zündeten wir Kerzen an, schütteten uns ein Glas Wasser ein und setzten uns erschöpft an den Esstisch. Als wir das Wasser vor lauter Durst in einem Zug ausgetrunken hatten, schauten wir uns an und fingen lauthals an zu lachen: „Wir sind ja beide schwatt wie de Neit.“

„Dann müssen wir wohl ausnahmsweise schon heute in die Bütt“, grinste Tante Gerta. „Da hast Du wohl recht, bis Samstag können wir nicht warten“, stimmte ich zu und half ihr, die große Zinkbadewanne in die Küche zu tragen und mit heißem Wasser vom Kohleofen zu füllen.

Der einarmige Simulant

Schon nach einem Jahr erlitt Onkel Hugo eine schwere Verletzung und wurde in ein großes Militärhospital nahe Wien transportiert. Das ‚Reserve Lazarett Sacre Coeur‘ im kleinen Ort Pressbaum hatte vor dem Krieg als Kloster gedient.

Mit Tante Gerta fuhr ich zweimal für mehrere Wochen nach Österreich, um ihn zu besuchen. Einmal im Mai und dann nochmal im Herbst 1944.

In Wien bezogen wir Privatquartiere. Am besten gefiel es mir bei der Familie L. mit einer Tochter in meinem Alter. Ein wunderbares Quartier mit Villa und parkähnlichem Garten. Ich mochte den großen Garten, noch mehr verliebte ich mich aber in den schwarzen Hund mit den kurzen Beinchen und spitzen Öhrchen.

Mit dem Mädchen freundete ich mich schnell an. Wir waren uns nicht nur äußerlich so ähnlich, dass wir oft für Zwillinge gehalten wurden. Jede Gelegenheit zum Spielen im Garten wurde genutzt, meistens gemeinsam mit dem Hündchen.

Natürlich fuhren wir jeden Tag von Wien nach Pressbaum, um Onkel Hugo zu besuchen. In den riesigen Sälen des Lazaretts standen mehr als 20 Betten für kranke und verletzte Soldaten. Als ich das erste Mal in den Raum hineinkam, in dem Onkel Hugo lag, hielt ich Mutters Hand ganz fest. Sein Bett war eines der letzten im großen Raum, so dass wir an den vielen kranken und verletzten Männern vorbeigehen mussten.

Viele Bettdecken waren wegen der schwül-warmen Luft aufgeschlagen, so blieben mir die schrecklichen Kriegsverletzungen der Patienten nicht erspart. Beine ab, Arme ab.

Onkel Hugos Bettdecke war zugeschlagen. Das hoch gelagerte Fußende sah aus wie ein Berggipfel. So konnte ich nicht sehen, welche Verletzung er erlitten hatte.

Mit Tränen in den Augen streckte er uns beide Hände entgegen: „Leider kann ich Euch nicht umarmen, ich bin von den Zehen bis unter die Achseln eingegipst. Hüftdurchschuss. Aber Hauptsache ich lebe noch und Ihr seid hier bei mir.“

Das war das einzige Mal, dass er bei unseren Besuchen den Krieg und seine Verwundung erwähnte. Er wollte immer von uns erfahren, wie es uns ging, und was sich in der Verwandtschaft und Nachbarschaft Neues ereignet hatte.

Tante Gerta war ein bisschen mundfaul, daher überließ sie es gerne mir, zu antworten. Und das tat ich sehr ausführlich, denn ich spürte, dass es Onkel Hugo Freude bereitete, wenn ich von der letzten Feldpost-Karte meines ‚lieben Papi‘ oder den Streichen unseres Nachbarjungen Manfred berichtete.

Einmal musste er so laut lachen, dass der Mann im Nebenbett frotzelte: „So schlimm kann es mit Deiner Verletzung ja nicht sein, da kann der Stabsarzt morgen Deine Entlassungspapiere fertig machen.“ – „Und Dich nehme ich gleich mit, Du einarmiger Simulant“, konterte Onkel Hugo, worauf beide herzlich lachten.

Nachdem Tante Gerta auf das Ende der Besuchszeit hingewiesen worden war, verabschiedeten wir uns von Onkel Hugo: „Bis morgen!“ – „Ganz bestimmt, ich kann ja nicht weglaufen.“

Auf dem Weg aus dem Saal rief mich ein Mann: „Kommst Du mal zu mir?“

Mit Mutters Einwilligung näherte ich mich ganz langsam seinem Bett. „Wie heißt Du denn?“ – „Leonie“ – „Ein schöner Name. Du erinnerst mich an meine Tochter, die habe ich schon lange nicht gesehen“, sagte er mit leiser Stimme, bevor er mir zum Abschied noch einen Bahlsen Leibniz-Keks, den Soldaten aus der Notversorgung der Wehrmacht erhielten, in die Hand drückte. „Bis morgen, mein Kind.“

Festbankett aus dem Soldatenrucksack

Nach unserer zweiten ‚Lazarett-Reise‘ im Herbst 1944 konnten wir Onkel Hugo wegen der immer heftiger werdenden Luftangriffe nicht mehr besuchen. Es war einfach zu gefährlich. Er schickte uns aber regelmäßig Postkarten und Briefe, um uns über seinen Gesundheitszustand zu informieren. So erfuhren wir, dass seine Verletzung nur sehr langsam heilte. 15 Monate hat er in seinem Gipsverband liegen müssen.

Als am 8. Mai 1945 der Krieg endlich zu Ende ging, wussten wir nur, dass er von Pressbaum zunächst nach Bad Reichenhall und von dort weiter nach Bad Tölz verlegt worden war. Wir hofften, dass Onkel Hugo schnell wieder zurückkommen würde. Jeden Tag öffnete Tante Gerta den Postkasten, in der Hoffnung auf eine Nachricht. So vergingen Tage und Wochen und wir machten uns große Sorgen um ihn.

„Heute ist der Mann von Frau B. zurückgekommen,“ erzählte mir Mutter, als sie eines Morgens mit einem kleinen Laib Brot vom Bäcker kam. „Jupp hat ein Auge verloren, aber sonst ist er körperlich nicht beeinträchtigt.“

Anfangs lief es mir immer eiskalt den Rücken runter, wenn sie mit solchen Nachrichten nach Hause kam. Aber mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt und verstand, dass das so allemal besser war, als gar nicht mehr aus dem Krieg heimzukommen.

„Onkel Hugo kommt bestimmt auch bald nach Hause“, tröstete ich sie, als ich merkte, dass sie in ihr Taschentuch schluchzte. „Gut, dass ich Dich habe, Leonie, sonst würde ich verzweifeln.“

Am gleichen Abend, es dämmerte bereits, deckte ich den Tisch und Mutter schnitt das Brot, als es unerwartet an der Tür schellte. „Wer kommt denn da noch zum Abendbrot?“

Sie begab sich in den Flur, um die Haustüre zu öffnen. Aus der Wohnung konnte ich hören, wie sich ein lautes, pochendes Geräusch durch den Flur näherte. Etwas beunruhigt lief auch ich hinaus, blieb aber abrupt an der Wohnungstür stehen, als ich sah, dass Mutter in der Mitte des langen Hausflurs einen Mann umarmte.

Unter einem langen Mantel konnte ich seine Uniform erkennen. Auf seinem Rücken trug er einen großen Rucksack und seine beiden Holzkrücken hatte er für die Umarmung offenbar einfach fallen gelassen.

Als Mutter meine Unschlüssigkeit bemerkte, rief sie mir von Freude überwältigt zu: „Leonie, das ist doch der Onkel Hugo!“ Ich war irgendwo nur baff und es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder rühren konnte. Dann lief auch ich zu ihm und begrüßte ihn freudig: „Endlich bist Du wieder bei uns.“

Als wir wieder in der Wohnung waren, zog sich Onkel Hugo erst einmal um. „Ich hoffe, ich muss diese verdammte Uniform nie wieder anziehen“, fluchte er, als er aus dem Schlafzimmer zurück in die Wohnstube kam. „So, und jetzt wird ausgepackt.“

Mit einem großen Rums knallte er seinen großen Rucksack auf einen Stuhl. Stück für Stück holte er Lebensmittel aus dem Sack. „Überbleibsel aus den Hospitalvorräten“, erklärte er uns.

Mit jedem Griff in den Rucksack füllte sich der Tisch mit Fleisch-, Wurst- und Obstkonserven. Mutter begeisterte sich besonders für einen festen, dunkelgelben Käse, der als Block gepresst eingedost worden war. Der schwamm in einer feuchten Umhüllung, aus der er zum Schneiden ausgestülpt wurde. „Das Festbankett ist eröffnet!“ Wir hatten uns schon lange nicht mehr so satt essen können.

(1) Fischeln ist der südlichste Stadtbezirk Krefelds. Es erstreckt sich auf knapp 19 km² und ist mit 26.216 Einwohnern (Stand: 31. Dezember 2016) hinter der Stadtmitte der einwohnerstärkste Stadtbezirk.


(2) Wehrmacht ist die Bezeichnung für die Gesamtheit der Streitkräfte im NS-Staat. Die Wehrmacht ging durch das Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935 aus der Reichswehr hervor und wird seit 20. August 1946 offiziell als aufgelöst betrachtet. Sie gliederte sich in Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe.


Auszug aus „Zwei Mütter, ein Vater und Onkel Hugo“, erzählt von Leonie B, geschrieben und Auszug bearbeitet von Uwe S.

Symbolfoto: Michael Gaida/Pixabay

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