Mit dem ‚Adventsauto‘ zur "Silvester-Kuppel-Party"
Die 1939 in Krefeld geborene Leonie wird nach der Einberufung ihres Vaters in den Kriegsdienst und Tod ihrer Mutter vom Patenonkel Hugo und seiner Frau in Obhut genommen und im Vorort Fischeln (1) aufgezogen. Kriegs- und Nachkriegszeit sind geprägt von Armut, Hunger, Ängsten und unerfüllten Träumen. Es gelingt ihr aber jeden Stolperstein des Schicksals zu überwinden und ihre wichtigsten Lebenswünsche zu erfüllen: mit einem liebenswerten Ehemann die Welt bereisen und von vielen Kindern und Enkelkindern geliebt zu werden.
Das singende Traumpaar
Nach meiner Konfirmation hatte mich ein Mädchen, das auch auf unserer Straße wohnte, auf den Kantorei-Chor der Lutherkirche angesprochen: „Weißt Du eigentlich, dass wir Sängerinnen und Sänger suchen? Das sind nicht nur alte Leute, sind auch viele junge dabei.“
Da bin ich dann einfach mal zur Chorprobe mitgegangen, und in der Tat war das ein wirklich lustiger Haufen. Nach der Probe gingen viele noch bei ‚Schöneweiß‘ an der Kölner Straße Eis essen und an Geburtstagen traf man sich zum Feiern.
In dem Chor sang auch der vier Jahre ältere Heinz. Zunächst fiel mir seine Stimme auf. „Du singst aber sehr schön“, sprach ich ihn auf einem unserer Treffen an. „Ich singe auch noch im Bayer-Chor, das trainiert die Stimme“, antwortete er ohne Überheblichkeit.
Es dauerte dann nicht mehr lange, bis er mich fragte, ob ich ihn zu einem großen Konzert des Bayer-Gesangsvereins begleiten wollte. „Möchtest du mitgehen? Das findet im Stadtwald-Haus statt, mit Essen und so.“
Nachdem wir uns auf der Veranstaltung etwas näher kennengelernt hatten, begleitete er mich nach der Probe auch mal nach Hause. „Ist für mich kein großer Umweg“, log er, denn er wohnte auf der Reinarzstraße, nicht weit entfernt von der Eisdiele. „Na, wenn das so ist, sage ich natürlich nicht nein“, stimmte ich kess zu.
Es kam dann immer häufiger vor, dass wir uns trafen. Allerdings nur an den Wochenenden, denn das war die Zeit, als ich in Düsseldorf zur Dolmetscherschule ging, und Heinz besuchte Kurse zum Chemotechniker. Er arbeitete bei Bayer und fuhr zweimal die Woche abends nach Duisburg. So hatten wir während der Woche gar nicht viel Zeit füreinander und sahen uns nur dienstags abends beim Chor. Ich war dann immer sehr gespannt, ob er mich für das nächste Wochenende einladen würde. Telefon hatten wir ja beide nicht.
Bis zum 28. September 1958 blieb es bei einer lockeren Freundschaft. Auf der Feier des zehn-jährigen Bestehens der Kantorei bei Liesel und Herrmann hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas in der Luft lag, was sich nach ‚mehr‘ anfühlte.
Endgültig zusammengekommen sind wir wenig später auf einer Silvesterfeier, zu der ein anderes Ehepaar aus dem Chor eingeladen hatte. Sie wohnten auf der Alte Linner Straße.
Heinz hatte mich mit seiner BMW 600 Isetta (2), die alle nur ‚Adventsauto‘ oder ‚Mach-hoch-die-Tür‘ nannten, zuhause abgeholt und Onkel Hugo versprochen, mich spätestens um 1 Uhr wieder zurückzubringen.
Sehr auffällig war, dass fast nur unverheiratete Pärchen eingeladen waren, die nach Ansicht der Hausherren zusammenpassen könnten. „Echte Kuppel-Party“, flüsterte ich Heinz zu. „Dann sollten wir unsere Gastgeber besser nicht enttäuschen“, antwortete Heinz mit charmantem Unterton.
Nun, wir gaben uns beide viel Mühe und vergaßen dabei die Zeit. Es war dann viel später als vereinbart, als ich mit Heinz das noch beleuchtete Wohnzimmer meiner Eltern betrat. Sie saßen auch noch gesellig mit Onkel Hugos Cousine Ilse, Tochter von Großtante Regina, und deren Mann, die in der oberen Wohnung mit ihrer Tochter Bärbele lebten, zusammen.
„Frohes Neues Jahr“, prosteten wir uns alle mit einem Gläschen Sekt zu. Leider war der Sekt überlagert, so dass es nicht nur mir danach sehr schlecht ging, was aber mein erstes Silvester mit Heinz nicht zu trüben vermochte.
Fortan kam noch öfter die Frage „Gehst Du mit hier oder da hin?“ Ich ahnte zu der Zeit noch nicht, dass Heinz immer so ein bisschen rumlavieren musste, um seiner Mutter Johanna und mir gerecht zu werden. Sein Vater war im Krieg verschollen und sie mochte den Gedanken ganz und gar nicht, ihren einzigen Sohn mit einer Freundin teilen zu müssen. Sie war sehr eifersüchtig.
Aber letztlich konnte sie nicht verhindern, dass wir uns 1962 verlobten und 1963 standesamtlich bzw. 1964 kirchlich heirateten.
Das geplatzte Hochzeitskleid
Wir wollten unbedingt zusammenziehen. Um Anrecht auf eine gemeinsame Wohnung zu haben, war es 1963 noch erforderlich, standesamtlich verheiratet zu sein. Am Reformationstag – so war der Tag nach unserem Hochzeitstag stets ein Feiertag – haben wir deshalb kurzerhand in Fischeln auf dem Standesamt in ganz kleinem Rahmen geheiratet.
Die kirchliche Trauung wollten wir im kommenden Sommer folgen lassen. Als wir aber im Februar 1964 aus dem Skiurlaub zurückkamen, merkte ich „Ach du lieber Gott, jetzt bist du schwanger!“
Heinz blieb entspannt und pragmatisch: „Dann müssen wir die kirchliche Trauung eben ein bisschen schneller durchziehen.“
Wenige Tage später war das Aufgebot für den 18. April bestellt und für das so wichtige Brautkleid gab es auch schnell eine Lösung. Ich kannte in Düsseldorf einen Vertreter für Modellkleidung, der einen befreundeten Brautsalon kontaktierte: „Schätzchen, ich schicke Dir eine hübsche junge Frau, die braucht ein ganz tolles Brautkleid und Zubehör für wenig Geld. Das bekommst Du doch bestimmt hin, oder?“
Obwohl ich mich erst in den ersten Schwangerschaftsmonaten befand, war meine größte Sorge, am Tag der Trauung nicht mehr in das Brautkleid reinzupassen. Ich war daher überglücklich, als kurz vor der Fahrt zur Kirche der Reißverschluss nach mehreren Versuchen zugezogen war. Aber ich hatte mich zu früh gefreut.
Der Pastor hatte die Zeremonie gerade begonnen, als ich vor lauter Rührung tief Luft holen musste. Ich spürte sofort, dass der Reißverschluss aufgegangen war und warnte Heinz flüsternd: „Hinten am Kleid ist was gerissen. Wir müssen gleich vorsichtig rausgehen!“
Zum Glück verdeckte ein Schleierchen meine Rückenpartie, aber beim Auszug aus der Kirche muss ich so steif gegangen sein, dass meine Mutter sofort zu mir kam: „Leonie, was ist denn los? Geht es Dir nicht gut?“ Nachdem ich ihr von dem Malheur berichtet hatte, präsentierte sie sofort eine Lösung: „Da kann nur Tante Gustel helfen.“ Während wir uns nach den Glückwünschen vor dem Kirchenportal so schnell wie möglich zum Hochzeitswagen durchkämpften, machte sie sich auf die Suche nach ihrer Tante, die von Beruf Näherin war.
Dann brachen die Hochzeitsgäste direkt in Richtung Restaurant auf, derweil wir für die Hochzeitsfotos einen Abstecher ins Fotostudio machten. Dort schaute sich Tante Gustel die Sache an. „Ja, das verdammte Ding ist mittendrin aufgegangen. Da hilft nur eins: den Reißverschluss zunähen. Gut, dass ich immer mein Nähzeug dabeihabe.“
Unseren Hochzeitswagen hatten wir mit Chauffeur bestellt, diesem aber vergessen mitzuteilen, dass es sich um eine Hochzeit handelte. Das hatte zu Folge, dass der elegante Opel Kapitän gänzlich ungeschmückt und der Fahrer hierüber mächtig sauer war: „Das hättet Ihr mir doch sagen müssen!“ Auf der Fahrt zum Restaurant hatte Heinz seinen Humor schon wiedergefunden: „Jetzt darfst Du erst in unserer Hochzeitsnacht wieder tief Luft holen.“
Für die Hochzeitsfeier hatten wir den ‚Dachsbau‘ ausgesucht. In einem kleinen Saal waren wir unter uns und zwischendurch konnten wir auch draußen sitzen. Außerdem war das Restaurant bekannt für sein gutes und reichliches Essen, sowie die unzähligen Biersorten. Zum Kaffee durften wir unseren eigenen Kuchen anschleppen, denn der ‚Dachsbau‘ war ja keine Bäckerei und hätte das auch bestellen müssen.
Am späten Nachmittag, kurz vor dem Abendessen, gab es für fast alle Gäste eine große Überraschung. Das Brautpaar verabschiedete sich: „Unser Hochzeitswochenende ruft. Wir haben Euch etwas Leckeres zum Abendessen bestellt. Lasst es Euch schmecken.“ Nur meine Mutter war eingeweiht. Ich amüsiere mich noch heute über die irritierten, teilweise verständnislosen Gesichter der übrigen Gäste.
Wir mussten erst zu Hause den schwarzen und weißen Kram ausziehen. Heinz trennte die Naht an meinem Reißverschluss mit der Schere auf. „Mach bitte vorsichtig, damit da nichts kaputtreißt.“ Als er mich aus dem engen Kleid rausgepellt hatte, stellte ich fest, dass der Reißverschluss lediglich falsch eingehakt gewesen und deshalb aufgegangen war. Ich brauchte später das Kleid nur reinigen lassen, bevor ich es verkaufte.
Dann brausten wir mit der Isetta los zu unserem Hotel, um noch etwas von unserer Hochzeitsnacht zu haben. „An was man nicht alles denken muss, wenn man noch keine gemeinsame Wohnung hat“, frohlockte Heinz. „Aber meine Mutter hatte doch angeboten, ihr Schlafzimmer für uns zu räumen, und auf der Coach im Wohnzimmer zu schlafen“, erwiderte ich so ernst wie möglich, bevor wir beide lauthals lachten.
(1) Fischeln ist der südlichste Stadtbezirk Krefelds. Es erstreckt sich auf knapp 19 km² und ist mit 26.216 Einwohnern (Stand: 31. Dezember 2016) hinter der Stadtmitte der einwohnerstärkste Stadtbezirk.
(2) Die BMW Isetta war ein Rollermobil, das die Bayerischen Motorenwerke von 1955 bis 1962 bauten. Der Hersteller bezeichnete das zwischen Motorrad und Auto einzuordnende Fahrzeug als „Motocoupé“. Im Volksmund wurde die Isetta auch „Knutschkugel“ oder (wegen der hinten deutlich engeren Spurweite) „Schlaglochsuchgerät“ genannt. Weitere Spitznamen – wegen der ungewöhnlichen Türkonstruktion – waren „Halleluja-Auto“ und „Adventsauto“ – in Anspielung auf das Adventslied Macht hoch die Tür. Gelegentlich fanden sich auch die – allerdings für viele Kleinwagen verwendeten – Ausdrücke „Asphaltblase“ und „Nuckelpinne“.
Auszug aus „Zwei Mütter, ein Vater und Onkel Hugo“, erzählt von Leonie B., geschrieben und Auszug bearbeitet von Uwe S.
Symbolfoto: Jakob Strauß/Pixabay
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