Heimliche Treffen mit einem ausgeklügelten Kommunikationssystem
1931 wurde Adele als Nachkömmling geboren. Sie hatte einen Bruder, der fast 20 Jahre, und eine Schwester, die zwölf Jahre älter als sie waren, und empfand ihre Kindheit in Düsseldorf als sehr behütet. Zu ihrem Vater hatte sie ein besonders gutes Verhältnis.
Werner war 1928 als 13. Kind einer Bergarbeiterfamilie in Bochum geboren worden, und da seine Mutter bei seiner Geburt gestorben war und sein leiblicher Vater sich neben seiner Arbeit nicht um seine Familie kümmern konnte, wuchs er bei Tante Anna und Onkel Karl in Düsseldorf auf.
Das Kennenlernen in den 50er Jahren
Werner:
Mein Hobby war das Schwimmen. Schon während des Krieges war ich Mitglied des Schwimmvereins 09, der im Schwimmbad an der Kettwiger Straße in Düsseldorf seinen Sitz hatte. Im Sommer schwamm ich aber am liebsten in einem Baggerloch in Wersten, wo jetzt das Gelände des Südparks ist. Und dort habe ich dann meine Frau kennen gelernt.
Adele:
Schwimmen im Baggerloch hatten mir meine Eltern streng verboten. Das sei viel zu gefährlich, da gebe es Strudel und kalte Stellen, meinten sie. Aber in einen Schwimmverein durfte ich auch nicht. Das hätte ja Geld gekostet. Ich habe in einem Bach schwimmen gelernt. Aber im Baggerloch war ich natürlich trotz des elterlichen Verbots.
Werner:
Da ich im Schichtdienst arbeitete, konnte ich häufig nachmittags mit dem Fahrrad zum Baggerloch fahren. Dort versammelten sich viele Mädchen und Jungen zum Baden. Mitten im Baggerloch gab es eine kleine Insel. Ich kannte die Furt dorthin und ging oft zu dieser Insel, mein Fahrrad und meine Sachen hoch über dem Kopf haltend, und schwamm um die Insel herum.
Am Montag, dem 7. August 1950, komme ich auf die Insel, und zwei Mädchen und ein Hund sitzen da – auf „meiner“ Insel!
Adele:
Das waren meine Freundin Hannelore und ich sowie mein kleiner Mischlingshund Roland. Wir kannten die Furt nämlich auch.
Als Werner näher kam, verteidigte Roland unser Terrain und bellte den Neuankömmling kräftig an. Aber Werner konnte gut mit Hunden umgehen und hatte Roland schnell beruhigt.
Da die Insel so klein war, blieb uns nichts anderes übrig, als uns zu unterhalten. Da ich aus Angst noch nie ganz übers Baggerloch geschwommen war, bot Werner mir an, mich bei einem Überquerungsversuch zu begleiten.
Hannelore sollte so lange auf Werners Armbanduhr aufpassen.
Erst als wir auf dem Weg nach Hause waren, merkte Hannelore, dass sie noch Werners Uhr hatte. Wir kannten aber weder seinen Namen noch seine Adresse und umgekehrt auch nicht.
Hannelore konnte am nächsten Tag nicht zum Baggerloch kommen, weil ihre Oma Geburtstag hatte. Da ich aber wusste, dass der Besitzer der Uhr Frühschicht hatte und am nächsten Tag wieder zum Baggerloch fahren wollte, kam ich am Nachmittag ohne Badesachen dorthin, um ihm die Uhr wiederzugeben.
Ich traf ihn auch an, und wir machten einen Spaziergang zum Stoffeler Kapellchen. Sein Fahrrad schob er. Wir haben uns so gut unterhalten, dass wir uns für den nächsten Tag verabredeten. So fing alles an.
Werner:
An meiner späteren Frau hat mir besonders gut gefallen, dass man mit ihr so gut reden konnte. Sie hatte auch manchmal so lustige Ausdrücke, die mir gut gefielen, z.B. „elfundneunzigmal“.
Adele:
Mein späterer Mann interessierte sich mehr für Politik als ich. Er schaffte es, auch mein Interesse daran zu wecken. In unserer Familie wurden zwar täglich die Nachrichten im Radio gehört, und es wurde die Zeitung gelesen, aber diskutiert wurde nicht. Werner und ich hatten immer ein Thema, über das wir Meinungen ausgetauscht haben. Es fehlte uns nie an Gesprächsstoff.
Kein Vertrauen: „Du suchst mich hinter jeder Hecke, aber da habe ich nie gelegen!“
Werner:
Ich hatte zwar schon mal Freundinnen gehabt, aber es war nie so intensiv wie bei Adi. Sie war viel klüger als die anderen Mädchen. Das gefiel mir.
Wo wir uns zum ersten Mal geküsst haben, weiß ich leider nicht mehr.
Adele:
Das weiß ich leider auch nicht mehr. Meine Schwester Mia und ich haben unseren Eltern nie einen Grund gegeben, uns nicht zu vertrauen. Trotzdem kontrollierte meine Mutter uns ständig. Sie war sehr beherrschend.
Einmal habe ich meiner Mutter wütend gesagt: „Du suchst mich hinter jeder Hecke, aber da habe ich nie gelegen.“
Da Werner ja Schichtdienst hatte, konnten wir uns nicht sehen, wenn er Spätschicht hatte und erst um 22 Uhr nach Hause kam. Zu dieser Zeit durfte ich auf keinen Fall draußen sein. Allerdings musste unser Hund Roland abends oft noch „Gassi gehen“. Dabei haben wir uns manchmal heimlich getroffen. Es war irgendwie entwürdigend. Wenn Werner Spätschicht hatte und morgens Zeit hatte, war ich im Büro.
Briefe "für Pussy" in Mühlsteinen versteckt
Werner:
Weil Adi von ihren Eltern so streng erzogen wurde und schon um 18 Uhr zu Hause sein musste, hatten wir ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem entwickelt, um Nachrichten auszutauschen. Telefon oder gar Handy hatten wir natürlich nicht.
Neben der Gaststätte Pongs am Stoffeler Kapellchen (Foto) ging ein kleiner Weg rein, und da standen hohe Mühlsteine mit einer Öffnung für die Achse. In diese Öffnung deponierte ich vormittags meine Briefe, die Adi dann nach der Arbeit mitnahm.
Als Adresse stand immer drauf: „Für Pussy“, das war Adi. Das funktionierte natürlich auch umgekehrt, dann stand auf Adis Brief: „Für Pussi“, das war ich.
Eines Abends holte ich Adis Brief ab – es war schon dunkel – und ich konnte ihn nicht an Ort und Stelle lesen. Als ich an einer Laterne vorbeikam, kletterte ich den Laternenmast hoch, um den Brief zu lesen.
Dann kamen Menschen vorbei, sahen mich da oben und schrien entsetzt: „Huch, da oben hängt einer!“
Eltern kennenlernen
Adele:
Im August 1950 haben wir uns kennen gelernt und im September hatte ich Geburtstag. Ich wurde 19. Ich hatte schon ein paar Freundinnen und Freunde eingeladen und wollte auch Werner natürlich gern einladen, deshalb erzählte ich meiner Mutter, ich hätte jemanden kennen gelernt, den ich einladen wollte.
„Nein,“ sagte sie, „was soll denn dein Vater dazu sagen? Stell ihn am besten als Kollegen vor.“ Das habe ich dann auch gemacht. Die Freunde und Freundinnen wussten natürlich Bescheid.
Am 10. Oktober 1950 hatte dann Werners Mutter Geburtstag, und dazu wurde ich eingeladen. Bei dieser Gelegenheit habe ich Werners Eltern kennen gelernt. Weil es etwas Besonderes war, dass Werner ein Mädchen mit nach Hause brachte, machte meine zukünftige Schwiegermutter einen ganz tollen Kuchen, eine Buttercremetorte. Ich weiß noch genau wie sie aussah, denn sie hatte oben eine Art Henkel aus Buttercreme. Die Torte sah aus wie ein Körbchen. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Mit Werners Eltern habe ich mich gleich gut verstanden. Werner hatte mit meiner Mutter allerdings mehr Ärger. Es gab manchmal Wortgefechte und Zank. Meine Schwester, die ja fast zwölf Jahre älter war als ich, hat mir leider nie geholfen. Sie war ein Produkt meiner Mutter.
Meine Mutter hatte es sicher auch irgendwie verhindert, dass meine Schwester geheiratet hat. Alle Verehrer hatte sie vergrault. Am liebsten hätte sie ihre zwei Töchter für immer im Elternhaus gehalten. Sie konnte nicht sehen, dass wir keine Kinder mehr, sondern inzwischen Frauen geworden waren. Als wir im Krieg noch auf der Scheurenstraße wohnten, hat meine Schwester – wie viele junge Mädchen und Frauen – Briefe an unbekannte Soldaten geschickt. Sie bekam dann auch Antworten.
Einmal erschien ein junger Soldat bei uns zu Hause, der von der Mutter rasch weggeschickt wurde. Meine Schwester suchte dann mit mir zusammen das Haus, wo der junge Mann wohnte. Sie befahl mir, auf keinen Fall etwas der Mutter zu erzählen. Davor hatte sie schreckliche Angst.
Verlobung und Hochzeit
Adele:
Als meine Beziehung zu Werner immer enger geworden war, beschlossen wir, uns zu verloben. Die Verlobung fand dann im März 1952 bei uns zu Hause statt.
Ich habe sie allerdings nicht in guter Erinnerung, denn meine Mutter und meine Schwester haben mir oft Steine in den Weg gelegt. Insgesamt war deshalb die Verlobungszeit sehr schwierig für mich. Und aufgeklärt hat mich meine Mutter nie.
Wir heirateten am 4. Oktober 1952, ein paar Wochen nachdem ich volljährig geworden war. Als ich meine Mutter nach dem Stammbuch fragte, antwortete sie schnippisch: „Was willst du denn damit?“ Die beiden Väter haben sich sehr gut verstanden, sie wurden auch unsere Trauzeugen. Beide hatten im Ersten Weltkrieg (1) im Kaiserlichen Infanterieregiment gedient.
Ich sehe noch, wie man Vater und meine Schwiegervater am Fenster standen, hinaus schauten und von früher erzählten. Beide waren sich einig: Sie hatten ihre Pflicht getan. Mit den Müttern war es nicht ganz so unproblematisch, aber ihr Verhältnis wurde im Verlauf unserer Ehe allmählich besser.
Meine Eltern lebten übrigens bis zu ihrem Tod in dem Gartenhaus, das für uns während des Krieges so wichtig geworden war. Durch An- und Ausbauten war es zum schmucken, kleinen Einfamilienhaus geworden. Sie liebten ihren Garten über alles und dazu noch die Tiere. Wir besuchten sie dort regelmäßig. Sie hatten schon sehr früh einen Fernsehapparat. Das war gut für sie, denn sie waren alt und kamen kaum noch aus der Siedlung.
Mein Vater sah begeistert Eiskunstlaufen, zum Beispiel Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler, oder auch andere Sportveranstaltungen. Wenn wir kamen, hieß es zuerst: „Pssst, der Fernseher läuft!“. Wir haben uns erst zur Olympiade in Rom (2) haben wir uns selbst einen Fernseher angeschafft.
Meine Schwiegereltern waren insgesamt viermal ausgebombt worden. Schließlich zogen sie wieder in die erste Wohnung, die inzwischen wieder halbwegs bewohnbar gemacht worden war. Das Haus war uralt. Die Toiletten waren im Hausflur. Überall gab es Schäden und Löcher.
Wohnen in engen Verhältnissen
Adele:
Ich zog dann nach der Hochzeit mit in das Zimmer, das Werner in der Wohnung seiner Eltern hatte. Fünf Jahre haben wir dort gewohnt. Geschlafen wurde auf einer Schlafcouch, Wasser gab es nur einen Stock höher, die Toilette war einen Stock tiefer. Da ich tagsüber, Werner aber im Schichtdienst arbeitete, war das Zusammenleben nicht einfach. Einer war eigentlich immer im Bett und schlief.
Werner:
Der Schichtdienst war unerlässlich, denn wenn der Schmelzofen einmal an war und der Stahl auf ca. 1.600 Grad erhitzt worden war, dann konnte man ihn nicht so ohne weiteres am Abend ausschalten. Er brannte dann so lange, bis er zusammenbrach und wieder neu aufgebaut wurde.
Nun war ich also eine Frau – Aufgeklärt waren wir beide nicht
Adele:
In den fünf Jahren, in denen wir in diesem einen Zimmer zusammenlebten, habe ich immer Angst gehabt, schwanger zu werden. Die Antibabypille gab es damals noch nicht, und in Bezug auf Sexualität und Schwangerschaft war ich überhaupt nicht aufgeklärt. Als ich meine erste Periode bekommen hatte, war der einzige Kommentar meiner Mutter: „Gratuliere, du bist jetzt eine Frau!“
Meine Schwester hat mir dann kommentarlos die Dinge gegeben, die ich brauchte. Heute denke ich milder darüber. Meine Eltern waren 1885 bzw. 1886 zur Welt gekommen und in Großfamilien aufgewachsen. Sie waren ganz sicher auch nie aufgeklärt worden.
Es war ein Wunder, dass ich in unserer jungen Ehe nicht schwanger wurde, zumal auch mein Mann wenig Ahnung hatte. Auch als wir in unsere jetzige Wohnung zogen und mehr Platz hatten, hätten Kinder nicht gepasst. Das Wohnzimmer war ein Jahr lang vollkommen leer bis auf die Kohleneimer, die dort lagerten. Für Möbel hatten wir kein Geld. Und ich wollte noch arbeiten, um vorwärts zu kommen.
Werner:
Später, als es uns wirtschaftlich besser ging, wollten wir keine Kinder mehr, sondern gut leben, arbeiten und viel verreisen.
Adele:
Ich glaube, ich wollte eigentlich nie Kinder haben. Vielleicht lag das an der sexual-feindlichen Erziehung, die ich „genossen“ habe. Meine Mutter ist sicher genau so unaufgeklärt aufgewachsen und konnte mich deshalb nicht aufklären. Nur mit den Freundinnen konnte ich mal darüber sprechen.
Ich erinnere mich, dass einmal in der Schule ein Vortrag angekündigt wurde, in dem es um Aufklärung gehen sollte. Das Wort "Kondome" tauchte dabei auf. Meine Mutter bestand darauf, dass ich nur zusammen mit meiner Schwester Mia diese schulische Veranstaltung besuchte. Dabei war ich bereits 15 oder 16 Jahre alt.
Meine da schon erwachsene Schwester schämte sich, weil sie mich begleiten musste. Und ich schämte mich auch. Einmal habe ich meiner Tante Grete, der jüngeren Schwester meiner Mutter, erzählt, dass meine Mutter so streng sei. Da antwortete sie in schönstem Kölsch: „Frag die Mutter mal, ob sie den Paul auf dem Drehbrett gewonnen hat!“
Gemeinsamkeiten
Adele:
Schwimmen war unser Hobby. Mit dem Schwimmen fing unsere Beziehung an, und wir sind diesem Sport immer treu geblieben. Wir sind sozusagen gemeinsam durchs Leben geschwommen. Nach der Wiederzulassung der Arbeiter-Sportvereine wurden wir beide Mitglied bei den „Freien Schwimmern“ und engagierten uns dort intensiv.
Werner:
Fernweh hatten wir beide. Bald nach der Hochzeit packte uns das Reisefieber.
1954 fuhren wir mit der Eisenbahn nach Valencia, um unsere Verwandten zu besuchen.
Und ab 1955 ging es mit unserem gebraucht gekauften VW-Standard, der noch mit Zwischengas gefahren werden musste, in Urlaub.
Es folgte der Kauf eines Fiat, erst eines winzigen, später eines etwas größeren Zeltes und dann noch eines Paddelbootes, und machten Urlaube in Südfrankreich und Nordspanien.
1965 führte uns die erste große Flugreise in die Sowjetunion nach Sotschi mit einer westdeutschen Reisegruppe. Es folgten noch viele Reisen in viele Länder.
Adele:
Uns haben existentielle Fragen interessiert wie „Woher komme ich?“ „Wer bin ich?“ „Was ist der Sinn des Lebens?“
Adele und Werner:
Wir sind glücklich, dass wir uns haben. Ich weiß, dass ich die Liebe meines Lebens gefunden und sie bis heute behalten habe.
Das stimmt für mich auch. Wir streiten zwar manchmal, vertragen uns aber schnell wieder. Klar, es gab auch schwere Zeiten, aber wenn mich jemand fragt, wann die schönste Zeit in meinem Leben war, dann sage ich immer: „Jetzt!“.
(1) Der Erste Weltkrieg wurde von 1914 bis 1918 in Europa, in Vorderasien, in Afrika, Ostasien und auf den Ozeanen geführt. Etwa 17 Millionen Menschen verloren durch ihn ihr Leben …
Quelle: wikipedia
(2) Die Olympischen Sommerspiele 1960 fanden vom 25. August bis 11. September 1960 in Rom statt.
Quelle: wikipedia
Auszug aus „Langweilig war es nie – Die Lebensgeschichte des Ehepaares Werner und Adele N.“;
Erzählung von Werner und Adele N., aufgeschrieben von Rosi A., bearbeitet von Barbara H.
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