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Kalte und herzlose Atmosphäre im Kindererholungsheim

Die 1939 in Krefeld geborene Leonie wird nach der Einberufung ihres Vaters in den Kriegsdienst und Tod ihrer Mutter vom Patenonkel Hugo und seiner Frau in Obhut genommen und im Vorort Fischeln (1) aufgezogen. Kriegs- und Nachkriegszeit sind geprägt von Armut, Hunger, Ängsten und unerfüllten Träumen. Es gelingt ihr aber jeden Stolperstein des Schicksals zu überwinden und ihre wichtigsten Lebenswünsche zu erfüllen: mit einem liebenswerten Ehemann die Welt bereisen und von vielen Kindern und Enkelkindern geliebt zu werden.



Erholung zwischen Himmel und Hölle

Mein Papa war überglücklich gewesen, als er seine erste richtige Anstellung bekommen hatte: „Du glaubst es nicht, wo ich jetzt arbeite, Püppi. Bei Bayer in Uerdingen!“ – „Die Firma mit dem riesigen Kreuz im Kreis?“

Natürlich kannte ich das Werk, nur zwei Straßen von Papas und Tante Rosas Wohnung entfernt. Wenn wir abends an den Gebäuden mit den Millionen Lichtern vorbei spazierten, über denen sich das beleuchtete Bayer-Kreuz drehte, war ich jedes Mal begeistert: „Wie eine große Stadt.“

Er erzählte nie viel von seiner Arbeit, ich weiß bis heute nicht genau, was er dort gemacht hat. Obwohl er sicher keine hoch bezahlte Kraft war, muss es ihm sehr gefallen haben, denn er sollte sein Leben lang dort bleiben. Neben einem guten Verdienst war die Bayer auch für seine großzügigen Zusatzleistungen an seine Mitarbeiter bekannt. Insbesondere von der Pensionskasse sollte Papa nach seinem Ruhestand profitieren.

Ein paar Jahre nach Papas Einstellung erzählte er mir begeistert von der ‚Bayer-Kindererholung‘. „Ich habe Dich da angemeldet. Vier Wochen ‚Schlemmer-Sommerferien‘ am Rhein. Wie gefällt Dir das?“

Obwohl ich mich etwas überrumpelt fühlte, stimmte ich zu: „Hört sich gut an. Hauptsache, ich darf auch noch zu den Settern von Großtante Regina.“

Nachdem das besprochen war, freute ich mich sogar auf meine erste ‚Kinderlandverschickung‘ (2), wie Mutter es nannte, als ich ihr und Onkel Hugo davon berichtete. „Da wirst Du hoffentlich mal etwas Speck auf die Rippen bekommen“, wünschte sie sich, denn in der Tat war ich vier Jahre nach Kriegsende noch immer dürr wie ein Hering.

Die Erholungsfahrt im Juli 1949 führte mich ins Heim ‚Haus Büren Boppard’. Dort gefiel es mir sehr gut, denn die Betreuer sorgten sich sehr liebevoll um alle Kinder und die Aussicht hinunter ins Rheintal war faszinierend. Jeden Tag sicherte ich mir einen Platz am großen Fenster im Speisesaal. Von dort konnte ich die vorbeifahrenden Schiffe – viele Schlepper und Frachtkähne – auf dem Rhein beobachten und spielte mit den anderen Kindern gerne ‚Flaggen-Raten‘. Selbst auf einer Wanderung auf den nahegelegenen Berg schweifte mein Blick immer wieder ins wunderschöne Rheintal.

Zu meinem Leidwesen ging Mutters Wunsch leider voll und ganz in Erfüllung. „Essen, essen, nochmals essen!“ Wir wurden regelrecht fettgefüttert.

Selbst auf die Wanderungen packten uns die Betreuerinnen Unmengen an Butterbroten ein. Innerhalb von zwei Wochen nahm ich so viel zu, dass ich nicht mehr wusste, was ich anziehen sollte. Mir passte nichts mehr. Ich war überall zu dick geworden, so dass ich meiner Mutter einen Hilfebrief schreiben musste: „Ich habe nichts mehr anzuziehen!“

Ein paar Tage später erreichte mich zum Glück ein Päckchen mit weiten Röcken und Blusen. Wieder zu Hause antwortete ich auf die Frage, wie es mir gefallen hätte: „Dürr hingefahren und dann kräftig zugelegt.“

Als mein Vater mich zwei Jahre später wieder für ein Bayer-Ferienheim anmelden durfte, habe ich mich sehr gefreut. „Diesmal lasse ich mich aber nicht wieder so mästen!“, ließ ich Tante Gerta unmißverständlich wissen. Da wusste ich noch nicht, dass dieses Mal nicht das reichliche, fettige Essen das Problem sein würde.

Tränen und Heimweh: Strenge Betreuerinnen kontrollierten unsere Briefe

Mein erster Eindruck des Ferienheims in Bad Salzuflen war bereits enttäuschend: kein Rhein und keine Schiffe. Von außen sah das Heim nett und gepflegt aus, aber kaum hatte man das Gebäude betreten, schlug einem der muffige und kalte Klostergeruch entgegen. Wir lernten schnell, dass die deutlich spürbare Kühle nicht nur dem alten Gemäuer und dem wechselhaften Aprilwetter geschuldet, sondern auch ein Indiz für die herzlose Atmosphäre in dem Heim war.

Vom ersten Tag an litten wir unter den sehr strengen Erziehungsmethoden der Betreuerinnen. Da war so vieles, worüber wir abends weinten und Heimweh bekamen. Wir durften zwar nach Hause schreiben, aber unsere Karten und Briefe wurden kontrolliert. Negative Äußerungen über das, was uns geschah, konnten nicht erfolgen. Und es geschahen viele Dinge, die mich heute noch sprachlos machen und mir die Haare zu Berge stehen lassen. Die Ängste, die uns besonders die Frau, die in dem Heim das Hauptwort führte, bereitete, sind nach so vielen Jahrzehnten noch immer spürbar.

Sie war sehr rigoros und hat immer rumgeschrien. Später, als ich erwachsen war und etwas über die Zeit des Nationalsozialismus lernte, dachte ich: „Die war bestimmt ein ‚BDM-Weib (3) gewesen.“ Ton und Umgang passten zu dem, was ich hierüber gelesen habe.

Damals wären wir alle am liebsten weggelaufen. Bis auf ein Mädchen, das offensichtlich aus einem gut-situierten Verhätschelhaushalt kam. Es hatte wunderschöne Kleider in einem großen, teueren Koffer mitgebracht. Sie wurde auch von der strengen Aufseherin bevorzugt behandelt, was vermutlich mit dem Taschengeld zu tun hatte, mit dem das Mädchen gerne prahlte.

Die Tage waren noch einigermaßen erträglich. Lediglich die Methoden, uns fett zu füttern, waren ekelig. Man musste essen, was auf den Tisch kam, und teilweise mehr, als man vertragen konnte. Und wenn es einem hochkam, dann musste das Erbrochene erneut gegessen werden.

„Ihr habt wieder geredet. Kommt mit, ab ins Bad!“

Am meisten fürchteten wir uns vor den Nächten. Wenn Abendruhe angesagt war, ging die Aufseherin mit Schleichschuhen durch die Flure. Die Türen zu unseren Schlafräumen mussten weit geöffnet bleiben, damit sie kontrollieren konnte, ob wir miteinander flüsterten. Wenn sie etwas Verdächtiges hörte, stand sie plötzlich im Türrahmen und brüllte die vermeintlichen Übeltäter an: „Ihr habt wieder geredet. Kommt mit, ab ins Bad!“

Die mussten raus aus den warmen Betten in den ungeheizten Waschraum. Eine Stunde und länger standen die dann barfuß auf dem kalten Boden, bevor sie wieder zurück ins Bett durften. Natürlich machten auch die anderen Kinder in dieser Zeit kein Auge zu. Wir dachten an die Kinder im Bad und hofften, dass wir nicht als nächste der furchtbaren Frau zum Opfer fielen.

Alle Mädchen auf meinem Zimmer hatten Püppchen oder Lieblingsstofftiere mit dabei. Trotz der Angst, von der Aufseherin erwischt zu werden, führten wir mit denen leise Gespräche unter der Bettdecke. Bis kurz vor unserer Abreise war unser Zimmer von den Drangsalierungen verschont geblieben. Aber dann hat es uns doch erwischt.

Mit meiner Bettnachbarin Dagmar hatte ich mich schon auf der Hinfahrt angefreundet, weil sie auch in Uerdingen, sogar in der Nachbarschaft meines Vaters, wohnte. Wenn wir glaubten, dass die Aufseherin nicht mehr durch die Flure schlich, huschte ich in ihr Bett, um uns gegenseitig zu trösten und in den Schlaf zu kuscheln.

Bis zu diesem Abend waren wir unentdeckt geblieben, aber nun erschreckte uns die keifende Stimme: „Was macht ihr da, worüber redet ihr?“ Wir musste beide eine Stunde im Waschraum verbringen. Im Dunkeln, ohne Uhr kam uns die Zeit unendlich vor.

Nach unserer Rückkehr erzählte ich alles meinen Zieheltern, im Beisein meines Vaters. Nachdem er mit Dagmars Vater gesprochen hatte, wollte er es an die zuständige Stelle bei Bayer weitergegeben. Was daraus geworden ist, habe ich nie erfahren. Noch heute finde ich keine Worte: da werden Kinder zum körperlichen Aufpäppeln in ein Heim geschickt und seelisch drangsaliert. Ganz ohne Konsequenzen für die Verantwortlichen.

(1) Fischeln ist der südlichste Stadtbezirk Krefelds. Es erstreckt sich auf knapp 19 km² und ist mit 26.216 Einwohnern (Stand: 31. Dezember 2016) hinter der Stadtmitte der einwohnerstärkste Stadtbezirk.

(2) Die Bezeichnung Kinderlandverschickung (KLV) wurde vor dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich für die Erholungsverschickung von Kindern verwendet. Heute wird unter diesem Stichwort meistens an die Erweiterte Kinderlandverschickung gedacht, bei der ab Oktober 1940 Schulkinder sowie Mütter mit Kleinkindern aus den vom Luftkrieg bedrohten deutschen Städten längerfristig in weniger gefährdeten Gebieten untergebracht wurden. Die „Reichsdienststelle KLV“ evakuierte bis Kriegsende insgesamt wahrscheinlich über 2.000.000 Kinder und versorgte dabei vermutlich 850.000 Schüler im Alter zwischen 10 und 14 Jahren, aber auch ältere in KLV-Lagern.

(3) Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war in der Zeit des Nationalsozialismus der weibliche Zweig der Hitlerjugend (HJ). Darin waren im Sinne der totalitären Ziele des NS-Regimes die Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren organisiert. Außerdem gab es in der Hitlerjugend den Jungmädelbund (JM) für 10- bis 14-jährige Mädchen, diese Gruppen wurden im einfachen Sprachgebrauch auch „Kükengruppen“ genannt. Aufgrund der ab 1936 gesetzlich geregelten Pflichtmitgliedschaft aller weiblichen Jugendlichen, sofern sie nicht aus „rassischen Gründen“ ausgeschlossen waren, bildete der BDM die damals zahlenmäßig größte weibliche Jugendorganisation der Welt mit 4,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 1944.

Auszug aus „Zwei Mütter, ein Vater und Onkel Hugo“, erzählt von Leonie B., geschrieben und Auszug bearbeitet von Uwe S.

Foto: privat

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