Kann uns ein Stück Blech vor der Roten Armee schützen?
Ihre Kindheit verbrachte Katja F. in Düsseldorf, war als mittlere von drei Mädchen von der Körpergröße her die Kleinste, aber immer energisch und in Aktion. Die Eltern hatten ein Geschäft an der Kirchfeldstraße/Ecke Talstraße, in dem man alles kaufen konnte. Doch dann wurden Katja und ihre Freundin Friedel zum Arbeitsdienst in Mecklenburg-Vorpommern verpflichtet. Der Zweite Weltkrieg (1) in Deutschland näherte sich dem Ende, war schon fast verloren und die Deutschen flohen vor den immer näher rückenden Russen. Da wussten sie – sie mussten vor den Soldaten der Roten Armee fliehen. Sie wollten unbedingt wieder zurück in ihre Heimatstadt Düsseldorf. Viele Menschen wollten ihre Heimat verlassen oder wurden vertrieben. Alle wollten gen Westen.
Weit weg von Zuhause
Katja war 17 Jahre alt, als sie zum Arbeitsdienst (2) eingezogen wurde. Sie kam nach Mecklenburg-Vorpommmern, das sie so beschreibt: „Das liegt ganz weit hinter dem Rücken vom lieben Gott.“
Die Grundausbildung war in Bad Sülze (3). Der gesamte Arbeitsdienst sollte ein halbes Jahr dauern, nach sechs Wochen wurde die Einsatzstelle gewechselt. Weil Katja nicht sehr groß und kräftig gewachsen war, schickte man sie nicht in einen landwirtschaftlichen Betrieb, sondern in das Bürgermeisteramt. Ihre gute Schulbildung war dazu gut geeignet.
Nach sechs Wochen wurde wieder gewechselt, diesmal in eine Apothekerfamilie mit einem Kind. Auch hier hatte sie alle anfallenden Arbeiten zu verrichten: Haushalt führen, Kochen, Backen, manchmal mit dem Mörser stundenlang arbeiten und das sehr lebhafte Kind beaufsichtigen. Oft band sie das Kind, einen Jungen, mit einer langen Leine am Schrank fest. So konnte er nicht zur Treppe laufen und möglicherweise runter fallen.
Dann kam wieder ein Wechsel, dieses mal zum Bauern L. Die Familie war schwedischen Ursprungs. Vor langer Zeit gab es eine schwedische Enklave (4). Der Bauer trug manchmal Hose und Jacke, die wie eine schwedische Tracht aussahen. Auf dem Hof waren Hühner, Enten, Gänse und Puten, die versorgt werden mussten.
Eines Tages fuhr die Bäuerin mit ihrer Tochter für einen ganzen Tag nach Rostock und Katja musste das Kochen übernehmen. Dem Bauern hat das Essen sehr gut geschmeckt und er war des Lobes voll von dem „guten Essen“. Das gefiel der Bäuerin nach ihrer Rückkunft nicht besonders gut und sie war einige Tage „recht muffig“. Katja merkte das und klärte die Lage – dann war wieder Frieden und Freude im ganzen Haus und Hof.
In Düsseldorf war in der Zeit ein schwerer Bombenangriff gewesen. Aus diesem Grund durfte Katja mit einer Sondergenehmigung nach Hause zu ihrer Familie. Die Bäuerin gab ihr sogar ein Stück Speck für die Eltern mit. Doch als sie zurück fahren wollte, funktionierten die Bahnverbindungen nicht und sie schaffte es nicht, pünktlich zurück zu sein. Der Grund waren Bombardierungen der Bahnhöfe – aber das half alles nicht. Sie wurde „degradiert“. Es gab eine scharfe Führerin beim Arbeitsdienst, die sie nun mit Spindkontrollen und anderen Gemeinheiten schikanierte.
Für die nächsten sechs Wochen kam sie zu einer Familie J. mit fünf Jungen, das sechste Kind war unterwegs. Später hat sie erfahren, dass der Säugling den Namen Katharina erhalten hatte – ihren Namen. Auch bei dieser Familie hatte sie viel Arbeit, ganz klar bei der Kinderschar. Sie heizten mit Torf und in der einfachen Wohnung war immer Torfstaub.
Mut zur Selbsthilfe
1944 kam Katja nach Ribnitz (5,Foto) zu einer Flugzeugfabrik. In dem Werk wurden Flugzeugteile hergestellt. Die eigentliche Montage der Flugzeuge war in einem anderen Werk. Katja bekam eine schlimme Metallallergie an den Unterarmen und Händen.
Eines Morgens kam Besuch der Vorgesetzten, die fragten, ob alles in Ordnung ist. Und Katja meldete sich: „Sehen Sie sich meine Arme und Hände an!“ Sofort danach wurde sie in das technische Büro versetzt. Schon bald konnte man erkennen, dass die Allergie abheilte.
Kurze Zeit später bekam Katja hohes Fieber und war ernstlich krank. Da lag sie allein in einem einfachen Zimmer – ohne Arzt und ohne Hilfe. Zwei Eimer bekam sie hingestellt, einen mit Wasser. Damit machte sie sich selbst Wadenwickel gegen das Fieber. Den zweiten Eimer konnte sie als Toilette benutzen. Da sie Schreibzeug und Papier zur Hand hatte, schrieb sie kleine Zettel, auf denen sie um Hilfe bat. Diese Zettel warf sie aus dem Fenster und eines Tages kam tatsächlich ein Arzt zu ihr. Nach ihrer Gesundung kam sie zur Personalabteilung. Dort musste sie unter anderem den Telefondienst übernehmen und regelmäßig den Wetterbericht abhören und weitergeben.
Die Front rückte näher. Man konnte die Detonationen der Bomben und Granaten hören. Manche Leute ignorierten die Anzeichen, aber viele Familien hatten Angst und machten sich auf den Weg, nur weg, alle wollten in Richtung Westen.
Wirres Durcheinander von Menschen, Tieren und Wagen
Katja erzählt: „Nachts sind wir gelaufen und am Tage haben wir uns im Wald versteckt. Eines Tages kam meine Freundin mit einem großen Stück Blech an: 'Das können wir uns über das Gesicht legen, wenn es hell ist oder auch bei Regen!'. Wir lehnten uns zum Schlafen an einen Baum und hofften, auch wieder aufzuwachen. Das Blech, so dachten wir, kann uns vor dem Regen und auch vor der Entdeckung durch die russischen Soldaten schützen.
Manchmal, wenn wir ins Gebüsch zum Austreten gingen, lag da schon ein Mensch – tot, erschossen, einfach so abgelegt. Die Tiefflieger ‚mähten‘ alles um, was sich bewegte – Mensch oder Tier – ganz egal. Oft begegneten uns deutsche Soldaten, die noch versuchen sollten, eine neue Front aufzubauen. Sie zeigten uns die Richtung zur Straße, aber da waren schon so viele Flüchtlinge, die alle Richtung Westen wollten. Es gab mal einen Film ‚Die Flucht‘, da wurde gezeigt, dass die Menschen geordnet gegangen sind. So war es nicht. Es war ein wirres Durcheinander von Menschen, Tieren und Wagen. Viele Flüchtlinge hatten schon den weiten Weg von Ostpreußen hinter sich und wir schlossen uns ihnen an.
Friedel, meine Freundin mit ihren Eltern und ich zogen los. Dabei war auch noch eine Bekannte, deren Kind auf der Flucht in Danzig in ihren Armen gestorben war. Sie hatte es noch begraben und dadurch das Schiff, mit dem sie eigentlich übersetzen wollte, verpasst. Das Schiff war die ‚Wilhelm Gustloff ‘ gewesen, das mit tausenden Flüchtlingen in der Ostsee untergegangen war – eine schreckliche Geschichte, die später sogar verfilmt worden ist. Insofern hatte sie Glück im Unglück.
Wir brauchten drei Tage von Ribnitz nach Friedland – nicht das Flüchtlingslager, sondern ein Ort gleichen Namens in Richtung Stettin (6). In dem Ort blieben wir zwei Tage.
Friedels Vater war bei der Bahn beschäftigt und fand heraus, dass eine Kleinbahn Richtung Altentreptow (7) fuhr. Die Frontgeräusche kamen immer näher, wir mussten zu Fuß weiter, eine endlose Flucht – so schien es.
Irgendwann konnten wir ein Stück Weg auf einem LKW mitfahren. Vor Erschöpfung waren wir todmüde und mussten zwischendurch kurze Stopps einlegen. In der Nähe von Lübeck lagen wir mit 88 Personen in einer Scheune. Wir bettelten bei den Bauern in der Umgebung um Essen und Trinken – Hunger und Durst waren unvorstellbar.
Wir erlebten, wie die russischen Soldaten einen deutschen Soldaten mit seiner eigenen Pistole erschossen und einfach liegen gelassen hatten. Wir haben dann dafür gesorgt, dass der tote Soldat mit anderen Leichen in eine alte Halle kam. Irgendwann später habe ich der Familie des Soldaten aus Germersheim die Nachricht vom Tode des Mannes überbracht.
Lieber, guter Ami!
Den Krieg hatten die Deutschen verloren. Irgendwann kamen nicht die russischen Soldaten der Roten Armee, sondern amerikanischen Soldaten, die das Land besetzt hatten, und wir wurden ihre Gefangenen. Aber ich hatte englische Sprachkenntnisse, deshalb musste ich jeden Morgen zum amerikanischen Kommandanten. Er hatte selbst eine Tochter in meinem Alter – ich war 18.
Eines Tages erzählte er mir, dass ich noch drei Tage am Ort bleiben würde, dann müsste ich weiter. Er schenkte mir eine Landkarte von Deutschland und ich finde noch heute: lieber, guter Ami !
Ich schloss mich einer Familie auf Fahrrädern an, die nach Duisburg wollte, also in die Nähe von meiner Heimatstadt Düsseldorf. Bei einem Serben tauschte ich meine Armbanduhr gegen ein altes Fahrrad und dann fuhren wir an der Elbe entlang. Es gab aber kaum eine Möglichkeit, über die Elbe zu kommen, weil alle Brücken zerstört waren. Bei Blankensee fanden wir einen alten Mann, der uns mit einem Boot über den Fluss setzte.
Mein Weg ging weiter: Drei Wochen durfte ich bei einer Familie bleiben, sogar auch noch, als der Sohn der Familie zurück kam. Dann ging es mit einer fremden Familie weiter in Richtung Düsseldorf, quer durch das Münsterland. Eine der Nächte verbrachte ich in einem Keller vom Roten Kreuz an einem Bahnhof. Und Zufälle gibt es immer wieder: Dort traf ich den besten Freund meines Onkels aus Hamburg.
Mit dem Fahrrad ging es dann weiter in Richtung Düsseldorf. Als ich am 22. Juni 1945 dort ankam, lag alles in Schutt und Asche. Meiner Mutter fiel alles aus den Händen als sie mich sah. Ich war zwar braun gebrannt, aber ich wirkte abgerissen und abgekämpft. Meine eigene Schwester hatte mich nicht erkannt.
Am andern Tag holte ich mir mit dem Fahrrad bei einem Onkel in Gerresheim ein Bett ab. Meine Schwester wollte mich ständig bemuttern, aber ihr ‚tütti-mütti‘ regte mich auf. Ich wollte arbeiten! Wir hatten entfernte Verwandte aus Kanada, die mich gern zu sich geholt hätten, aber die Entnazifizierung (8) meines Vaters fehlte. Deshalb war das nicht möglich.
Im Oktober 1945 wollte ich meinen Freund Günter im Lager besucht. Alle hatten früher gedacht, Günter und ich würden heiraten. Günter hatte als Soldat im Krieg einen Arm verloren und Steckschüsse in der Lunge abbekommen. Er sollte operiert werden, aber während der Operation ist er in der Narkose gestorben. Also habe ich ihn gar nicht mehr gesehen – es sollte nicht sein.
Ein Jahr später lernte ich meinen späteren Ehemann kennen. Er war in russische Gefangenschaft geraten und nach Bornholm (9) gekommen. Mit einem ortskundigen Freund hatte er es geschafft, von einem Schiff zu springen und in Richtung Kolberg (10) zu schwimmen. Er war mein Traummann. Er hatte großes handwerkliches Geschick, war von Beruf Klempner und Installateur und konnte einfach alles.
Im März 1948 heirateten wir und bald bekamen wir einen Sohn, unser einziges Kind. Mein Mann arbeitete bei den englischen Besatzungssoldaten (11), aber nach der Währungsreform (12) im gleichen Jahr wurden alle Deutschen entlassen.
Wir wohnten eine Zeitlang im Düsseldorfer Stadtteil Gerrresheim in der Bertastraße, zogen 1949 zur Talstraße (gehört heute zum Stadtteil Friedrichstadt) in das elterliche Haus, das mein Vater wieder hatte aufbauen lassen. Vater wünschte immer, dass mein Mann bei ihm arbeiten sollte. Aber Vater war sehr dominant und daher war ich skeptisch. Deshalb arbeitete er dann bei einer anderen Firma.“
Für Katja folgten viele Jahre mit Höhen und Tiefen – und Jahre, die sie mit einer neuen Liebe im Süden verbrachte, aber das ist eine andere Geschichte ...
(1) Der Zweite Weltkrieg (1939 – 1945) wird der zweite global geführte Krieg sämtlicher Großmächte im 20. Jahrhundert bezeichnet. In Europa begann er mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen. … Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945. … Über 60 Staaten auf der Erde waren direkt oder indirekt am Weltkrieg beteiligt, mehr als 110 Millionen Menschen trugen Waffen. ...
(2) Mit dem Arbeitsdienst war der Reichsarbeitsdienst (RAD) gemeint – eine Organisation im nationalsozialistischen Deutschen Reich … Gesetz von 1935: Alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts sind verpflichtet, ihrem Volk im Reichsarbeitsdienst zu dienen … Zunächst wurden junge Männer (vor ihrem Wehrdienst) für sechs Monate zum RAD einberufen. Vom Beginn des Zweiten Weltkrieges an wurde der RAD auf die weibliche Jugend ausgedehnt. … Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 und dem daraufhin an die Waffen-SS übergebenen Kommando über das Ersatzheer wurde dem RAD die 6-wöchige militärische Grundausbildung am Gewehr übertragen, um die Ausbildungszeit bei der Truppe zu verkürzen. …
(3) Bad Sülze ist eine mecklenburgische Landstadt im Landkreis Vorpommern-Rügen in Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland – ein anerkannter Kurort.
(4) Eine Enklave ist ein vom eigenen Staatsgebiet eingeschlossener Teil eines fremden Staatsgebietes oder ein eingeschlossener fremder Staat (z.B. Vatikanstadt).
(5) Ribnitz ist ein Stadtteil von Ribnitz-Damgarten und war bis 1950 eine selbständige Grenzstadt in Mecklenburg. Ribnitz bildet den westlichen Teil der Stadt Ribnitz-Damgarten und liegt zwischen den Hansestädten Rostock und Stralsund westlich des Flusses Recknitz an dessen Mündung Mündung in den Bodden (Ribnitzer See).
(6) Stettin ist die Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Westpommern, ,,, siebtgrößte Stadt Polens.
(7) Altentreptow ist eine Kleinstadt im Amt Treptower Tollensewinkel im Nordosten des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte im Land Mecklenburg-Vorpommern – ein Unterzentrum in Vorpommern.
(8) Als Entnazifizierung … wird die ab Juli 1945 umgesetzte Politik der Vier Mächte bezeichnet, … die deutsche und österreichische Gesellschaft …. und Politik von allen Einflüssen des Nationalsozialismus zu befreien. Vordringliche Ziele waren die Auflösung der NSDAP und Verfolgung von Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. … Belastete Personen mussten aus ihren Ämtern entfernt und bestraft werden … Grundlage waren die auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 gefassten Beschlüsse der Potsdamer Konferenz von August 1945.
(9) Bornholm ist zusammen mit sechs unbewohnten kleinen Nebeninseln die östlichste Insel und Gemeinde Dänemarks. Die Ostseeinsel liegt zwischen dem schwedischen Schonen und der polnischen Woiwodschaft Westpommern, etwa 150 km östlich von Kopenhagen und 85 km nordöstlich von Rügen. Die Südküste Schonens (Schweden) ist etwa 35 km entfernt.
(10) Die Hafenstadt Kolberg (heute Kolobrzeg) liegt in der Woiwodschaft Westpommern in Polen, ein Sol- und Kurbad an der Ostsee.
(11) Als 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa beendet war, übernahmen die Hauptsiegermächte Sowjetunion, USA und Großbritannien sowie Frankreich die Hoheitsgewalt über das Deutsche Reich und teilten sein Gebiet untereinander in Besatzungszonen auf oder gliederten es aus. … Es entstanden neue deutsche Staaten. Die Zeit nennt man Besatzungszeit und dauerte … in Deutschland bis 1949, also bis zur Gründung der Bundesrepublik und der DDR, obwohl die Besatzung auch in Westdeutschland erst 1955 mit dem Deutschlandvertrag beendet wurde.
(12) Die Währungsreform von 1948 trat am 20. Juni 1948 in … Kraft. Die Deutsche Mark („DM“) war alleiniges gesetzliches Zahlungsmittel. Die beiden bisher gültigen Zahlungsmittel Reichsmark und Rentenmark wurden zwangsumgetauscht und dabei mehr oder weniger im Nennwert herabgesetzt. Die Währungsreform von 1948 gehört zu den bedeutendsten wirtschaftspolitischen Maßnahmen der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Quelle: wikipedia
Auszug aus „Keine Legende – ein gelebtes Leben“, erzählt von Katja F., aufgeschrieben vonIrmgard H., bearbeitet von Barbara H. (2023)
Foto: Funki50/Pixabay
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