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Kindheit im Krieg: Nirgendwo zuhause

Gerd D. erzählt von seiner Kindheit im Krieg. Ständig musste sich seine Familie nach Bombardierungen in Düsseldorf eine neue Bleibe suchen. Mutter und Kinder landeten dann schließlich in Thüringen, wo sie bei einem Bauern untergebracht wurden. Nach Kriegsende glückte die Heimkehr wieder zurück nach Düsseldorf.


Zerstörte Düsseldorfer Südbrücke 1945

Quelle: Stadtarchiv Düsseldorf (5_8_0_008_320_012.)

Als ich 1941 geboren wurde, herrschte der schlimmste Krieg der Weltgeschichte, der Zweite Weltkrieg. Aber die schlimmsten Kriegsjahre standen noch bevor. Sie brachten Bomben und Zerstörung, Leid und Tod auch nach Deutschland und damit auch in meine Heimatstadt Düsseldorf.


Geburt in der „Kinderfabrik“

Von diesen dramatischen Geschehnissen der Weltgeschichte habe ich natürlich als neuer Erdenbürger in Düsseldorf noch nichts mitbekommen.

Meine Mutter brachte mich in der Frauenklinik an der Flurstraße in Flingern zur Welt. Die Klinik war als Geburtsklinik in Düsseldorf überaus beliebt und hatte einen sehr guten Ruf. Der damals geläufige Begriff „Kinderfabrik“ verweist darauf, dass hier jahrzehntelang jeden Tag wie am Fließband viele Kinder – so wie ich 1941 – zur Welt kamen. Die dichtbevölkerten Industrie-Stadtteile in der Umgebung produzierten eben nicht nur Eisen und Stahl.


Familie

Eigentlich hatte ich als Neugeborener Glück: Denn mein Vater war wegen einer starken Sehbehinderung kriegsuntauglich und war also nicht in die Wehrmacht eingezogen worden. Er leitete das Ersatzteile-Lager in dem Automobil-Unternehmen Adler, später Auto-Union, in Oberbilk. So waren wir also zunächst trotz Krieg zusammen: Meine Eltern, meine beiden Brüder und ich – und wir wohnten im Stadtteil Düsseltal.


Kriegsbedingte Wohnungswechsel

Wegen der Bombenangriffe und deren Zerstörungen, denen auch der sehr beliebte Zoo in unserer Nachbarschaft zum Opfer fiel, mussten wir als Familie mehrmals in Düsseldorf umziehen. Als unser Haus in Düsseltal zerstört wurde, haben meine Eltern versucht, bei der Schwester des Vaters im sogenannten Gurkenland zwischen Oberbilk und Lierenfeld unterzukommen. Wir haben, daran erinnere ich mich noch, da ganz lange bis in die Nacht gesessen und die Eltern haben viel geredet, obwohl ich hundemüde war und in mein Bett wollte. Wenige Tage nach diesem Umzugsplan wurde aber auch dieses Haus der Schwester zerstört.


Danach haben wir in den Betriebsräumen der Auto-Firma in Oberbilk, wo mein Vater arbeitete, zwischen Autos und LKWs gelebt. Das fanden wir Kinder spannend. Ein Abenteuerplatz um die Autos herum und in den Autos, aber für unsere Mutter war diese „Ersatzwohnung“ gar nicht in Ordnung. Ein Firmengelände war keine Unterbringung für eine Familie mit Kindern. Einen Vorteil hatte der Arbeitsplatz des Vaters aber: Da es für Zivilisten nahezu unmöglich war, an Fahrzeug-Ersatzteile zu gelangen, zeigten sich vor allem die Bauern aus der Umgebung, die für Trecker und andere Fahrzeuge solche Teile benötigten, sehr erkenntlich für die gewährte Hilfe – u.a. mit Lebensmitteln wie Speck vom Bauernhof.


Der von der Mutter gewünschte Wohnungswechsel führte uns dann in eine schöngelegene Wohnung am Rheinufer.. Meinem Vater war übertragen worden, sich um die Heizung zu kümmern. Er organisierte dafür z.B. Zuckersäcke, um mit ihnen Löcher in den bombardierten und durchlöcherten Wänden zu stopfen. Doch nach Bombardierungen konnten wir aber auch hier nicht wohnen bleiben.

Meinem Vater ist es gelungen, ein hölzernes Behelfsheim aufzutreiben. Das hat er als neue Wohnung für uns hinter dem Haus des Vaters auf dem Heinefeld in Unterrath aufgestellt.


Kriegskinder

Wenn ich versuche, mich an den Krieg und die damaligen Zeiten zurückzuerinnern, dann kann ich sagen, dass wir als Kinder eigentlich keine schlimme Kindheit hatten, die uns total bedrückt oder gar traumatisiert hätte.

Klar, im Krieg war das Leben völlig anders. Wir waren viel unterwegs, die Wohnungen, Lebens- und Spielräume wechselten oft, vieles, was man gerne gehabt hätte, gab es einfach nicht – aber das ging ja jedem so und deshalb habe ich die Lebensumstände nicht als unerträglich, sondern eher als normal empfunden. Denn immer gab es auch Schönes und Lustiges, an dem man sich erfreuen konnte.

So erinnere ich mich, dass wir einmal Weihnachten unter der warmen Bettdecke verbrachten, um uns vor der strengen Kälte in der Wohnung zu schützen. Wir freuten uns über drei bunt angestrichene Glühbirnen, die an einem bescheidenen kleinen Weihnachtbaum leuchteten genauso, als wäre dort ein prächtig erleuchteter reich geschmückter Tannenbaum.

Und dann habe ich zu Weihnachten eine schöne Holzeisenbahn bekommen. Diese hatten russische Zwangsarbeiter in der Autofirma, in der mein Vater arbeitete, liebevoll angefertigt - aus Dankbarkeit dafür, dass mein Vater sie immer gut behandelte und meine Mutter ihnen häufiger Essen gekocht hatte, was eigentlich streng verboten war. Diese Arbeiter hatten, so erzählte der Vater später, auch die durch Bombensplitter entstandenen Löcher in einer Zinkbadewanne gelötet, die bei uns zuhause stand. – Irgendwann im letzten Kriegsjahr wurden, so hat mein Vater auch erzählt, diese russischen Arbeiter abgeholt und verschwanden für immer. Wohin, das wusste keiner.


Im Bunker

Als wir in dem Behelfsheim auf dem Heinefeld wohnten, gehörten die Alarmsirenen zu unserem Leben mit dazu. Wenn sie losgingen, schnappte meine Mutter mich und meinen Bruder und dann ging es für uns alle schnellstmöglich – selbstverständlich auch nachts – rein in den Bunker, der zum Glück ganz in der Nähe unter einer Wiesenfläche gelegen war, mit einer gepackten Tasche, immer vollständig angekleidet, und nach dem Fliegeralarm und bangen Stunden wieder aus dem Bunker heraus in die hoffentlich unversehrte Wohnung.


Einmal hatte ich vergessen, mein erstes und allerliebstes Kuscheltier, meinen Stoffhasen, mitzunehmen. Da ist meine Mutter noch einmal herausgerannt.


Draußen konnten wir das von Flak-Scheinwerfern hell erleuchtete Flugfeld sehen. Die Mutter fand den Hasen, packte ihn und kroch dann über die Metallkrampen des Notzugangs wieder zurück in den Bunker. Den Notausgang verschlossen schwere Metallklappen, die aber nicht ganz genau eingepasst waren und sich immer wieder etwas bewegten und dabei laute knarrende Geräusche von sich gaben. Diese gruseligen Geräusche verdichteten sich bei uns Kindern zu dem Bild eines unheimlichen Wesens, eines „Bullemanns“, eines bösen Manns. .


Für die in den Bunker Fliehenden gab es in den beiden Bunkerräumen am Heinefeld Holzgestelle, unten zum Sitzen und darüber in einer Art von hölzernem Gepäcknetz Plätze zum Liegen oder Schlafen, wenn nachts die Zeit des Wartens zu lange dauerte. Aber schlafen konnte man da doch nicht.

Irgendwann einmal gab es einen Riesenkrach, das ganze Gebäude erzitterte und das Licht ging aus. Es trat aber keine richtige Panik ein. Bald ging das Notlicht an. Erst als wir Stunden später nach der Entwarnung über die Nottreppe hinauskletterten, sahen wir, dass der Bunker auf der anderen Seite teilweise zerstört war. Auf der Seite des zweiten Bunkerraums war nicht weit entfernt eine Bombe eingeschlagen und detoniert.

Dieser Vorfall kostete über 20 Menschen das Leben, und es gab außerdem noch viele Verletzte.


Als wir nach diesem schrecklichen Vorfall zurück zu unserem gerade erst erstellten hölzernen Behelfshaus gingen, stellten wir erst auf dem Weg dahin fest, dass unser neues Haus weg war. Es war abgebrannt, Holzreste rauchten noch und alles war zerstört. Also landeten wir wieder in dem Haus von meinem Opa, das bei dem Angriff zum Glück nur wenig mitbekommen hatte. Einen kleinen Brand konnten wir mit anderen Helfern schnell löschen.


Zuflucht in Thüringen

Nach diesen kriegsbedingten Orts- und Wohnungswechseln in Düsseldorf verschlug der Bombenkrieg meine Mutter, meinen Bruder Karl und mich Ende 1943 nach Thüringen – genauer gesagt, nach Lehnstedt, einem kleinen ländlich geprägten Ort zwischen Jena und Weimar. Mein Vater blieb in Düsseldorf wohnen und arbeitete weiter in seiner Automobilfirma und hatte zusätzlich die Aufgabe eines Bunkerwartes.

Untergebracht waren meine Mutter und wir Kinder bei einem Bauern. Er hatte offensichtlich auch gute Beziehungen zu den Nazis. Denn als später die Amerikaner einmarschierten, haben sie ihn sofort verhaftet.


Heute ist mir klar, dass es für die Menschen damals auch eine große Belastung war, Ausgebombte und Flüchtlinge aufzunehmen und deshalb war es für meine Mutter alles andere als leicht, sich allein mit ihren zwei kleinen Kindern in dem fremden Landstrich durchzuschlagen, oftmals misstrauisch beobachtete arme Obdachsuchende.

Gar nicht erfreut reagierte „unser“ Bauer, als dann auch noch unser zwölfjähriger Bruder Erich zu uns nach Thüringen stieß. Er kam nach einer vorausgegangenen Kinderlandverschickung in Mainfranken, auf welchen Wegen auch immer, zu uns nach Lehnstedt.

Wir Kinder merkten von dieser schwierigen Situation auf dem Bauernhof und im Dorf eigentlich nichts. Wir waren viel draußen, spielten immer irgendwo am Hof und jagten mit Dorfkindern z.B. die Gänse im Winter. Ich kann mich auch erinnern, dass dort manchmal auch Hühner oder Schweine geschlachtet wurden. Beim ersten Mal hatten wir gedacht, dass auch für uns etwas Leckeres herausspringen würde, wenn geschlachtet wird. Aber leider war das nicht so. Speck und Würste verschwanden unerreichbar für uns in der Räucherkammer.

Zu Weihnachten kam zu unserer Freude auch mein Vater aus Düsseldorf zu uns nach Lehnstedt. Ob er uns damals Geschenke mitgebracht hat, weiß ich nicht. Wir haben uns einfach gefreut, dass er bei uns war.


Auch hier erreichte uns der Krieg

Dann kam der Krieg in diese Gegend. In der Nachbarschaft lebte eine etwas seltsame Frau mit ihrem ebenfalls auffälligen Sohn. Der war vielleicht verrückt und sammelte Granaten, die er irgendwo draußen fand, im eigenen Keller. Irgendwann im Sommer gab es einmal einen fürchterlich lauten Knall in der Umgebung. Es kam von dem Haus dieser Nachbarn, wo Rauch zu sehen war. Und dann war stundenlanges Schreien zu hören gewesen, später auch noch von dem Leiterwagen, auf die man jemanden gelegt hatte.

Dieses fürchterliche Schreien habe ich noch heute manchmal in meinen Ohren. Vielleicht hatte die Frau eine Granate mit Brikett verwechselt und so ist es zu einer Explosion gekommen.


Einmal ging meine Mutter mit mir zum Bäcker ins Dorf, um in dessen Backofen das zuhause vorbereitete Brot abbacken zu lassen. Als wir gerade in der Bäckerei angekommen waren, ertönten auf einmal die Sirenen für einen Fliegeralarm. Wir und andere Kundinnen warfen uns sofort zu Tode erschrocken in der Bäckerei auf den Boden. Zum Glück ist weiter nichts passiert – außer dem Schrecken, den das Sirenengeheul hinterlassen hat.


Als am Ende des Krieges und unserer Zeit in Thüringen amerikanische Soldaten in den Ort kamen, hatte mein älterer Bruder Erich eine gute Idee: Er setzte sich mit allem vorhandenen Schuhputz-Zeug auf die kleine Mauer an der Hauptstraße, die an unserem Haus vorbeiführte. Hier fuhren, wie wir jeden Tag sahen, immer wieder amerikanische Soldaten vorbei, und die nutzten wirklich sein Angebot: So putzte er manches Paar amerikanischer Schuhe oder Stiefel und erhielt dafür irgendetwas Nützliches. Einmal kam er freudestrahlend mit einem hohen Berg Pfannkuchen für uns alle zurück.


Rückkehr nach Düsseldorf

Unsere Rückkehr aus Thüringen verlief genau so chaotisch, wie sie damals am Kriegsende viele Millionen Menschen in Deutschland (und Europa) mit Zerstörungen, Evakuierung, Flucht und Vertreibung erlebt haben.

Unsere Mutter packte zunächst einen Sack Kartoffeln in den Kinderwagen und mich dann obendrauf. So zog sie mit weiterem Gepäck und ihren drei Kindern zum Bahnhof, um dort den nächstbesten Zug zu nehmen, der nach Westen fuhr. Irgendwie gelang es ihr, mit uns in einen Güterzug zu kommen. Wir und viele andere saßen dort im Dunkeln auf irgendwelchen Kisten und konnten unter uns und unter dem Waggon sogar die Eisenbahn-Schwellen und Gleise sehen. Alle hatten natürlich auch Hunger und Durst und so war es kein Wunder, dass der Zug gelegentlich anhielt und der Lokführer und andere Passagiere Kirschen von Bäumen an der Bahntrasse pflückten. Irgendwann fuhr der Zug dann weiter und wir mussten aufpassen, diesen Zeitpunkt nicht zu versäumen.

Zunächst ging nach Süden Richtung Frankfurt. Elf Tage waren wir insgesamt unterwegs, zwischendurch auch immer mal wieder zu Fuß an der Straße entlanggehend. Die Nächte verbrachten wir in irgendwelchen Dörfern, wo wir immer schauen mussten, wie wir Verpflegung und eine Unterkunft für die Nacht bekamen. Bei dem einen Bauern durften wir in der Scheune schlafen, bei dem nächsten wurde uns das verboten, weil der Bauer Angst hatte, dass Heranwachsende vielleicht in der Scheune Feuer machen würden und die Scheune abfackeln könnten.


Ich erinnere mich noch, dass wir am Ende der Eisenbahnfahrt in das Kloster Langwaden bei Neuss kamen und dort für eine Nacht unterkamen.

Am nächsten Tag stoppte unsere Rückkehr am Rhein. Die Brücke, über die wir den Rhein queren sollten, lag in Trümmern. Deutsche Soldaten hatten sie 1945 gesprengt, um den Amerikanern den Weg über den Rhein zu versperren Meine Mutter musste uns vorübergehend einmal allein lassen, weil sie herausbekommen musste, wie es für uns ohne Brücke weitergehen konnte. Wir schauten derweil fasziniert den vielen alliierten Militärfahrzeugen, Jeeps und Lastwagen zu, die über eine wackelige Behelfsbrücke über den Rhein in Richtung Düsseldorf fuhren. Ergebnis war, dass unsere Mutter einen gehörigen Schrecken bekam, weil wir im Gesicht schwarz wie die vorbeifahrenden farbigen Soldaten waren, weil aus dem Auspuff der Fahrzeuge so viel rußiger Rauch kam.


Als Familie wieder vereint

Am Ende aber war es geschafft, die Heimkehr glücklich gelungen. Wir und andere Familienmitglieder waren alle wieder zurück in Düsseldorf und kamen im Haus meines Großvaters auf dem Heinefeld zusammen, das wir fast zwei Jahre zuvor wegen der Bombardierungen verlassen hatten.


Auszug aus „Mein Leben auf dem Heinefeld.“, erzählt von Gerd D. aufgeschrieben von Rainer N. (2021), bearbeitet von Reinhard R. (2023)


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