Liebe in Ost und West – Nelken, Tanzen, Erbsensuppe
Hans L. kommt 1929 im 300-Seelen-Dorf Kirchengel in Thüringen (1) zur Welt. Seine Eltern betreiben ein Wirtshaus mit angeschlossener Schlachterei, Kolonialwarenladen (2) und Poststelle. Seine Kindheit ist geprägt durch das heile, dörfliche Leben, aber auch die Auswirkungen des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges. 1950 flieht er aus der DDR in den Westen mit dem Ziel Krefeld. Das war der Beginn einer beeindruckenden beruflichen Karriere und einer großen Liebe in Westdeutschland. Seine Verbindung zu seinem Heimatdorf hat er aber nie verloren.
Die Tanzfreundin des Nelkenkavaliers
Im Saal unserer Wirtschaft fanden auch die Tanzstunden statt. Nach dem Krieg, 1946, haben sich viele junge Leute für die Tanzstunde gemeldet. Wir waren mindestens 40 bis 50 im Alter von ungefähr 15 bis 20. Alle aus Kirchengel und Westerengel. Meine Partnerin war Bärbel. Mit ihr und ihrem Bruder Dieter war ich zur Schule nach Greußen gegangen. Wir haben alle möglichen Tänze gelernt. Die Tanzlehrer waren ein Ehepaar. Die Frau kam aus Erfurt. Es waren ja noch schlechte Zeiten, deshalb wurden sie nicht mit Geld, sondern mit Lebensmitteln bezahlt.
Zum Abschlussball waren, wie das so üblich war, auch die Großmütter und Großväter als Zugucker dabei. Das war natürlich wieder eine willkommene Gelegenheit für Dorftratsch. Ich habe den Namen „der Nelkenkavalier“ gekriegt. Das kam so: Jeder gab seiner Tanzpartnerin einen Blumenstrauß. Ich hatte auch einen, aber: Das Gut der Familie, von dem Bärbel kam, hatte einen großen Garten. Dort wuchsen eine Menge Blumen. Und da hat Bärbel gesagt: „Von den Nelken kannst du einen Strauß für mich machen.“ Und so war der Nelkenkavalier geboren. Diese Jugendfreundschaft war dann nach der Tanzstunde vorbei.
Die Jugendliebe wird zur Brieffreundin
Es kamen auch viele Mädchen, die mit ihren Familien aus dem Ostgebiet vertrieben waren. Ich hatte eine Jugendfreundin, Edith. Sie kam mit ihren Eltern und Geschwistern 1947 aus Pförten in der Niederlausitz, was heute Polen ist. Brody heißt der Ort jetzt. Ihr Vater war kein einfacher Landarbeiter, sondern Maschinenmeister auf einem großen Gut und dort mit den Dampfmaschinen betraut. Sein Gutsverwalter hatte seine Fahrzeuge und Pferdegespanne mit Planen überdacht, so dass alle mit ihm flüchten konnten. Sie zogen auch durch Dresden, zwei Tage, bevor der große Angriff kam. Ihre erste Station war Gangloffsömmern, wo der Gutsherr einen weiteren Hof besaß. In Kirchengel wurde etwas später ein Gut frei, dessen Pächter den Pachtvertrag aus Altersgründen nicht verlängern wollte. Das übernahm der Niederlausitzer auch noch. Ein Teil der Leute zog nun mit dem Gutsverwalter weiter zu uns nach Kirchengel. Edith mit ihren Eltern und acht Geschwistern war auch dabei.
Edith war 13, als sie hierher kamen. Sie hatte sich mit Lieschen, meiner Cousine, der ich den Tanzpartner beim Abschlussball ersetzt hatte, befreundet. Die zwei kamen dann immer mal zur Schenke oder auf die Wiese dahinter, und so haben wir uns kennengelernt. Als sie 14/15 war, ging sie dann schon mit zum Tanz. Wir hatten eine richtige Clique. Wir waren so fünf, sechs Pärchen, die immer zusammen waren und zum Tanzen gingen. Aber ganz ehrlich: Es ist nichts passiert! Geküsst haben wir, aber das war alles. Die Pille gab es ja damals noch nicht.
Mein Vater war streng gegen meine Jugendfreundin, weil sie Flüchtling war und nichts hatte. Und das kriegte ich zu spüren. Wenn ich nach dem Tanzen im Nachbarort spät nach Hause kam und meine Eltern waren schon im Bett, hat er alles zugeschlossen. Ich hatte zwar einen Schlüssel von der Haustür, aber weiter kam ich nicht. Nur die Küche war offen. Da bin ich rein, hab mich aufs Sofa gelegt und dort geschlafen. Mitten in der Nacht kam die Mutter: “Komm, geh leise nach oben!“ und hat mir die Tür aufgemacht.
Meine Jugendfreundin Edith war sehr traurig, als ich weg war. Ich hatte ihr vorher nichts von meiner Flucht in den Westen gesagt. Geschrieben haben wir uns noch. In einem Brief teilte sie mir 1950 mit, dass sie mit ihrem Vater dessen Bruder in Frankfurt besuchen wird. Ob ich denn vielleicht kommen könnte nach Frankfurt? Ich habe das meinem Chef erzählt. Und er sagte: „Kannste hin, ich besorg dir das schon. Ich habe gute Verbindungen zu einem Spediteur, der fährt die Strecke täglich. Der kann dich mitnehmen.“
Also bin ich mitgefahren bis zum Frankfurter Kreuz und dann weiter per Anhalter. Ich hab da meinen 21. Geburtstag gefeiert. Ediths Onkel hatte auch zwei Töchter, und die hatten zu Edith gesagt (das erzählte sie mir später): „Wie, du hast noch nicht im Bett geschlafen mit deinem Freund? Das muss sich ändern, das können wir nachholen! Der Onkel Gustav (Ediths Vater) geht noch zu einem Kriegskameraden. Der ist heute weg, der kommt auch nicht zum Schlafen. Also, heute bist du dran!“ Obwohl wir nicht aufgeklärt wurden, wussten wir natürlich Bescheid. Gerade auf dem Land war das leichter, da konnte man das ja bei den Tieren beobachten. Aber Pustekuchen – der Onkel Gustav kam zurück!
Also, so war das. Dann haben wir uns erst nach der Wende wieder gesehen.
Der Doll bringt Erbsensuppe mit dem Fahrrad
Weihnachten 1951 ging das langsam los mit mir und Hannelore: Bei der Begrüßung Küsschen, aber alles noch sehr vage. Hannelore war die Tochter meines Chefs und hat bei C.F.Beck Lebensmittel gelernt. Das waren zwei Brüder aus Meerbusch. Die hatten ein Geschäft in Bockum, das später von Kaiser´s übernommen wurde. Nachdem sie ein Jahr als gelernte Lebensmittelverkäuferin gearbeitet hatte, konnte sie schon ein Geschäft als Filialleiterin auf der Duisburger Straße übernehmen. In der Ferienzeit wurde sie auch in anderen Filialen eingesetzt. Ich kann mich erinnern, da war sie in Bockum in der Filiale. Jeden Samstag kochte Frau N., nach dem Tod seiner Frau die Lebensgefährtin meines Chefs, Erbsensuppe. Die habe ich Hannelore mit dem Fahrrad gebracht. Wenn ich zur Mittagszeit kam, war der Laden zu. Ich habe geklopft, und dann hörte ich: „Kommen Sie! Da ist der Doll wieder.“ – Ich denk: Wieso sagt die Doll zu mir? Inzwischen weiß ich: Doll ist Krieewelsch Platt und bedeutet „Verrückter“.
Hannelore und Frau N. hatten damals viel Krach miteinander. Die hatten sich oft in den Haaren, da flogen die Aschenbecher. Zum Beispiel fragte Frau N.: „Was will der Bauernlümmel mit dir?“ Einmal habe ich mich eingemischt. Sagt Frau N. zu mir: „Du bist still! Du gehörst sowieso nicht hier hin. Geh du arbeiten. Wenn du wiederkommst, steht der Koffer vor der Tür.“ Ich kam wieder, und es war wirklich so! Ich habe gesagt: „Was soll der Scheiß?“ – „Ja, du kannst dir was Neues suchen.“ – „Ich gehe nicht alleine, ich nehme die Hannelore mit.“ Da waren wir uns einig. Es ist aber dann gut gelaufen, und ich bin doch geblieben.
Heiratsantrag auf der Parkbank und dann Hochzeit in West und Ost
Dann waren wir schon ein bisschen liiert, aber Küsschen geben – Ende. Später kam natürlich das, was zu einer Ehe gehört, dazu. Bei einem Spaziergang im Schönwasserpark haben wir auf einer Bank gesessen. Händchen gehalten, gedrückt, Küsschen. Ich sag: „Willst du mich heiraten?“ – „Ja, gerne.“ Das war dann der Heiratsantrag.
Am 1. August 1956 haben wir standesamtlich in Uerdingen geheiratet. Von der Firma aus waren wir schon öfters in der Gruga in Essen gewesen. Es hatte uns immer gefallen. Deshalb beschlossen wir, unsere Hochzeit mit einem ausgiebigen Kaffee und Kuchen dort zu feiern. Mit dabei waren unsere beiden Trauzeugen: Hannelores zweitältester Bruder Emil und ihr Schwager Heinz. Außerdem Frau N. Mein Chef war leider schon 1951 gestorben. Emil fuhr das Auto.
Nachdem wir geheiratet hatten, durfte Hannelore offiziell mit in meiner Dachkammer schlafen. Das Bett war zum Glück recht breit. Und wir konnten einen Wohnberechtigungsschein für eine eigene Wohnung beantragen. Von da an haben wir immer wieder nach einer passenden Wohnung Ausschau gehalten.
Kirchlich getraut wurden wir am 6. Oktober 1956 in Kirchengel. Am Polterabend waren auch die ganzen Stammkunden in die Gaststube meines Vaters gekommen. Der Vater war zurückhaltend mit Spendieren. Ich sag: „Vater, wenn ein Glas leer ist, mach´s voll. Ich habe Geld, ich zahl dir das.“
Ich hatte wirklich Geld: Ich hatte einen Kugelschreiber auseinandergenommen, Geld reingewickelt und ihn wieder zusammengesetzt. Von meinem Reisenecessaire haben die vom Zoll sogar das Futter aufgeschlitzt. Aber obwohl sie auch den Kugelschreiber in der Hand hatten, haben sie das Geld nicht gefunden. Ich habe zu ihnen gesagt: „Sie brauchen nichts zu suchen. Wir fahren zu unserer Hochzeit in meine alte Heimat.“ Da sagte die Zollbeamtin: „Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt! Ich wünsche Ihnen viel Erfolg! Und auch in Zukunft ein schönes Leben.“ Und ich denke: Na guck, die können auch freundlich sein.
Am Abend vor der kirchlichen Trauung wollte uns die Mutter zu Bett bringen, meine Frau und mich. Da hab ich gesagt: „Nö.“ – „Wie, nö?“ – „Wir schlafen noch nicht zusammen.“ – „Ihr seid doch verheiratet!“ – „Ja, trotzdem. Wir müssen erst die kirchliche Bestätigung haben.“
Die gab es dann am nächsten Tag. Gemeinsam gingen wir von der Gastwirtschaft die Hauptstraße entlang zur Kirche. Als wir nach der Trauung wieder herauskamen, hatten die Kinder des Dorfes Bänder gespannt. Ich musste Kleingeld schmeißen, das ist so Tradition. Natürlich stehen auf dem Dorf auch die schaulustigen Nachbarn am Straßenrand, gucken und tuscheln. Anschließend haben wir im Saal der Gastwirtschaft mit fast 50 Gästen gefeiert. Wir waren ja eine große Familie. Leider kann man auf den Fotos, die der Fotograf gemacht hat, nicht viel erkennen. Fürs Gruppenfoto hatten sich alle vor dem dunkelgrünen Vorhang an der Bühne aufgestellt. Die meisten waren, wie bei Hochzeiten üblich, vornehm in Schwarz gekleidet. Auf den Schwarz-Weiß-Aufnahmen erscheint der Vorhang nun aber auch dunkelschwarz, sodass von den Leuten nicht viel zu sehen ist. Das war ein Flop.
Natürlich hatten wir uns alle viel zu erzählen. Zum Kaffee kam auch der Pfarrer. Als er weg war, wurde gelästert: „Habt ihr gesehen, wie viel Kuchen der geschluckt hat?“ Bei Hochzeiten hat er sich immer vollgestopft.
Im Laufe des Tages wurden immer wieder Geschenke für uns abgegeben. Wie gesagt: Der Name unserer Familie war wegen des Wirtshauses nicht nur im Dorf, sondern auch im weiteren Umkreis bekannt. Zum Dank hat die Mutter danach noch drei Tage lang mit den Frauen des Dorfes Kaffee getrunken. Manche der Geschenke durften wir nicht mit über die Grenze nehmen. Die sind erst einmal dageblieben. Später haben wir sie nach und nach "rübergeschmuggelt". Die letzten Sachen haben wir sogar erst nach der Wende mit nach Krefeld genommen.
Eine Hochzeitsreise haben wir nicht gemacht. Dafür hat das Geld nicht gereicht. Unser erster Urlaub ging an den Königssee. Als wir von da zurückkamen, hatten wir noch fünf Mark „Vermögen“. Helmut, Hannelores zweitjüngster Bruder, war zu dem Zeitpunkt noch Junggeselle. Er hat uns ausgeholfen. So waren wir erstmal aus dem Schneider. Natürlich haben wir ihm das Geld zurückgezahlt.
(1) Kirchengel ist ein Ortsteil der Stadt und Landgemeinde Greußen im Kyffhäuserkreis in Thüringen.
(2) Als Kolonialwaren wurden früher, besonders zur Kolonialzeit, überseeische Lebens- und Genussmittel, wie z. B. Zucker, Kaffee, Tabak, Reis, Kakao, Gewürze und Tee bezeichnet. Kolonialwarenhändler importierten diese Produkte, die in Kolonialwarenläden und -handlungen verkauft wurden.
Auszug aus „Eine Prophezeiung erfüllt sich“, erzählt von Hans L., geschrieben von Eva J., Auszug verfasst von Uwe S.
Foto: Pezibaer/Pixabay
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