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Von der Kunstschule zum Militär, dann Flucht in den Westen

Alice wurde 1921 in Stettin (1) geboren. Sie war das älteste von vier Kindern, die Eltern trennten sich. Ihr künstlerisches Talent ermöglichte es ihr, nach der Schule an der Kunstgewerbeschule zu studieren. Später musste sie vor dem Einmarsch der Russen fliehen...



Rebellische Natur und künstlerisches Talent

An der Kunstgewerbeschule kam Alice mit einer guten Portion Widerspruchsgeist ausgestattet gut zurecht. Dennoch war auch in diesem künstlerischen Bereich schon länger der Zeitgeist spürbar: Ein regimetreuer Direktor der Kunstgewerbeschule und einige ihm gleichgesinnte Dozenten gewannen die Oberhand, und alles bekam einen anderen Anstrich. Das Haus hieß jetzt „Meisterschule des deutschen Handwerks“, und der bei seinen Schülern sehr beliebte homosexuelle Lehrer bekam große Schwierigkeiten. Alice musste für ihre Gegenwehr die Malsachen packen und gehen.

Beim Aktzeichnen hatte sie ihre Modelle, etwa zwölfjährige „Zigeunerjungen“, so gezeichnet, wie sie sie erfasste. „Drei Tage gestrichelt und Schatten eingezeichnet, sehr malerisch“, wie sie meinte. Der zuständige Dozent machte dieses Kunstwerk zunichte, indem er den zarten Gestalten mit kräftigen Strichen dicke Muskeln verpasste. Und dies war absolut nicht im Sinne seiner Schülerin. Die war so wütend und ärgerlich, dass sie ihrerseits einen dicken Strich durch ihre Zeichnung machte. „Nach ziemlich kurzer Zeit bekam ich einen schönen blauen Brief“; unschön die mitgeteilte Aufforderung, die Schule umgehend zu verlassen.


Nach dem Rausschmiss aus der Kunstgewerbeschule bekam Alice die Order, sich sofort bei der Flugmeldestelle, also beim Militär, einzufinden.

Und so landete Alice als jüngstes Kompaniemitglied in einer freistehenden Villa in einem Vorort von Stettin und wurde mit einer Gruppe Frauen auf ihre neue Aufgabe vorbereitet. Unter den Frauen und Mädchen gab es auch viele, die sich freiwillig gemeldet hatten. Sie sollten alle Flugbewegungen des Feindes festhalten, die sie per Telefon als Signal empfingen.


Die weitere Militärzeit führte sie nach Nordfrankreich in ein ehemaliges Nonnenkloster in Lille, wo sie trotz ihrer Stationierung heimlich die Kunstschule des Ortes besuchte. Ihr Eigensinn brachte ihr nach einem unerlaubten nächtlichen Ausflug mit ihren Freundinnen vier Tage Arrest im Zuchthaus St. Gilles in Brüssel und eine Strafversetzung nach Gent in Belgien ein.


Über eine Stationierung in Antwerpen/Belgien kam sie später wieder zurück nach Frankreich und schließlich nach Deutschland, ans Stettiner Haff (2). Hier ging die Dienstverpflichtung weiter.


Mit dem Fahrrad an den Flüchtlingsströmen vorbei

Sie erlebte den Einmarsch der russischen Armee und hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Als Stettin zur Frontstadt wurde, flüchtete sie gemeinsam mit Mutter, Schwester und Tante nach Ribnitz-Damgarten (3) und von dort aus machte sich Alice dann allein auf den Weg nach Westen.


Mit allerlei Gepäck war Alice mit ihrem geliebten Fahrrad – noch aus Stettin gerettet – los geradelt. „Es waren so zwanzig Kilometer bis Warnemünde (4).“ Von da sollte es mit einer Fähre weitergehen.

Unterwegs auf der Landstraße bekam Alice Bilder zu sehen, von denen sie bis zu diesem Zeitpunkt nur gehört hatte und die sie sich gar nicht hatte vorstellen können. Kilometerlange Flüchtlingstrecks (5) führten ihr das Elend der Kriegsopfer vor Augen: „Diese ganzen ostpreußischen hochbeladenen Wagen, die schon Monate oder Wochen unterwegs waren, die wollten ja alle zum Westen.“


Parallel zu der Straße, auf der sich Alice bewegte, lief eine Eisenbahnstrecke. „Da ging ein Zug, der war knallvoll, auch von Flüchtlingen. Und auf der Straße hinter mir, da waren lauter Polinnen. Sie waren nicht verhungert, aber ziemlich abgerissen. Sie hatten keine Schuhe an, sondern meistens so Lappen um ihre Füße gebunden. Das waren polnische Jüdinnen.“

Einmal fiel Alice etwas von den Gepäckstücken herunter, und eine der Frauen hob es wieder auf. „Die waren sehr freundlich.“

Am Wegesrand sah Alice dann elende Gestalten, die nicht mehr weiter konnten. „Es war alles wahnsinnig verrückt und dramatisch.“

Die Dramatik spitzte sich noch zu, als kurz vor Warnemünde ein heftiges Gedränge entstand. Die Fähre konnte immer nur einen Teil der Menschen mitnehmen. „Und die kamen nicht mehr rüber mit ihren Wagen. Die mussten da stehen bleiben.“

Viele ließen deshalb ihr Hab und Gut einfach an Ort und Stelle, nahmen nur ihre Kinder und die wichtigsten Dinge, um noch mit der Fähre wegzukommen.

Alice gelang das nicht mehr: „Die Fähre war vollgestopft, und wir kriegten plötzlich einen Tieffliegerangriff von den Russen.“ Blitzschnell lief sie in ein angrenzendes Wäldchen und schmiss sich hin. Und ebenso schnell erkannte Alice, dass der Weg nach Westen hier für sie zu Ende war und sie überlegen musste, wie es weitergehen sollte. Zum Glück kam ihr dabei der Zufall zu Hilfe.


Zweckgemeinschaft mit Soldaten: "Komm mit uns"

Da waren dann mehrere alte Männer, die gehörten zusammen: „So richtige Volkssturmsoldaten waren das.“

Alice bot sich ein merkwürdiges Bild. Die Männer, noch in Uniform und bewaffnet, waren wohl zu Ponys und kleinen Pferdewagen gekommen, und einer warf gerade ganz viele Schuhe von einem dieser Wagen.

Neugierig geworden sprach Alice den Mann an: „Was machen Sie?“ – „Wir kommen da jetzt nicht rüber, jetzt müssen wir sehen, wo wir hinkommen.“

Dann sagte sie, dass sie auch nicht wüsste wohin. „Dann, Mädchen, komm mit uns mit!“ – Was sie erleichtert tat. Zu dieser Zweckgemeinschaft gesellte sich kurz darauf noch ein junger Berliner, ein Bildhauer, wie er sagte.

Als Erstes galt es, die Wagen neu zu beladen. Neben Lebensmitteln und den persönlichen Habseligkeiten der „Clique“ wurde noch Alices Fahrrad oben darauf gepackt. „Und dann haben sie noch eine Hochzeitskutsche mitgenommen, eine richtige, schwarz lackierte, mit zwei Schimmeln davor.“


Trotz all dieser Vorbereitungen sollte es aber noch nicht losgehen, sondern vorher musste die Gegend sondiert und über das weitere Vorgehen beratschlagt werden. Die Gruppe zog zunächst tiefer in das Wäldchen hinein. Die Angst vor den nähernden Russen war bei allen riesig.

Alice warf an dieser Stelle ihren Militär-Führerschein „zack in die Büsche“. Den fand sie doch zu verräterisch. Bei ihren Begleitern dagegen fühlte sie sich sehr sicher. Für sie, als einzige Frau, wurde gut gesorgt. Sie konnte in der großen Kutsche schlafen, es gab genügend Decken zum Zudecken und bekocht wurde sie auch.


Gemeinsam beschloss die Gruppe dann, dass es besser sei, sich von den Wehrmachtwaffen zu trennen. „Dann haben wir so einen kleinen Teich entdeckt und die Waffen da rein geschmissen.“ Bis dahin gab es zwar von den Russen noch keine Spur, aber das sollte sich bald ändern. Im Wald selbst war es ruhig, aber in der Entfernung hörte man „immer so Kettengeräusche, so ein Klirren.“


Da sie nicht weit vom Meer entfernt waren und auch um die aufkommende Langeweile zu durchbrechen, machten sich Alice und der Berliner nach zwei oder drei Tagen auf den Weg zum Wasser: „Da war so ein Zufluss zum Meer, ein kleiner Fluss. Und da lag ein Boot, ein richtiges Paddelboot. Wir sind eingestiegen und ein bisschen zum Meer gepaddelt.“ Von dem Anblick der hohen Dünen und des Meeres in der Abenddämmerung war Alice total begeistert.


Begegnung mit den Russen

Doch nach kurzer Zeit sahen sie in einiger Entfernung oben auf einer Düne eine dunkle Gestalt, einen Mann: „Der stand aber, Gott sei Dank, mit dem Rücken zu uns, so als Silhouette, und da sagte der Bildhauer: ‚Das ist ein Russe‘“.

Alice musste sich dann flach ins Boot legen und es ging vorsichtig wieder zurück. Diese Maßnahme stellte sich allerdings als völlig unnötig heraus; man hatte sie inzwischen entdeckt. „Und dann hörten wir russische Laute. Da war es dann soweit!“

Geistesgegenwärtig riss der junge Mann seinen weißen Schal in zwei Teile „und hat gesagt: ‚So, jetzt nimm einen Teil und wir wedeln damit. Wir sind friedlich.‘“

Trotz heftigen Herzklopfens folgte Alice dieser Anweisung und hatte schnell ihre alte Kessheit wieder. Als ihr Gepäck untersucht wurde, und einer der beiden Russen einen Büstenhalter nahm und hochhielt, reagierte sie fix: „Ich hab dem aber auf die Finger gehauen und habe gesagt: ‚He!‘“.

An Wäsche waren die Russen auch gar nicht interessiert, sondern sie suchten etwas anderes: „Die wollten immer nur Uhren haben. Und, Gott sei Dank, unsere alten Herren hatten auch ein paar.“ Mit dieser Beute zogen die jungen russischen Soldaten zufrieden von dannen.


„Jetzt waren wir natürlich in höchster Anspannung. Was wird aus uns?“ Der Aufenthalt in dem Wäldchen schien der Gruppe nicht mehr sicher, und es begann ein unruhiger Wartestand. Noch eine letzte Nacht und dann sollte es am Morgen weiter gehen.

Doch daraus wurde nichts: „Am nächsten Tag kamen die natürlich und dann hieß es: ‚Mitkommen!‘“

Also setzten sich alle mit den Pferdefuhrwerken in Bewegung nach Warnemünde. „Da hatten sich die Herren Russen einquartiert und saßen gerade an einem sehr üppig gedeckten Tisch mit viel Wodka.“

Zur allgemeinen Überraschung wurden die Deutschen freundlich begrüßt, und sogleich sollten die „Besucher“ mittrinken.


Die Offiziere, die um den Tisch herumsaßen, befassten sich fast nur mit Alice. Die einfachen russischen Soldaten und Alices Weggefährten standen im Hintergrund. Einer von den Russen sprach gebrochen Deutsch: "Plötzlich sagte der zu mir: ‚Du hast ja eine russische Offiziershose an!‘“

Die schwarze Hose war eine „Beute“ ihres Bruders; um deren Herkunft hatte sie sich derzeit nicht weiter gekümmert. Hauptsache, man hatte überhaupt etwas zum Anziehen! Jetzt musste sie das gute Stück allerdings abgeben, bekam dafür aber gleich eine grüne deutsche Hose.

Alice wurde nach draußen zu einem Häuschen geführt und konnte dort die Beinkleider unbeobachtet wechseln. Anschließend boten die „Gastgeber“ ihr von dem guten Essen an. Obwohl sie vermutete, dass es sich um Pferde- oder Eselsfleisch handelte, nahm sie dankbar an. Nur mit der gereichten schmutzigen Gabel wollte sie nicht essen und bekam prompt eine saubere.


„Ich dachte, was sind das für nette Menschen, diese Russen!“ Anschließend konnte die ganze Besuchergruppe, mitsamt den Ponywagen, das Strandhaus dann unbeschadet verlassen. „Die Hochzeitskutsche mit den tollen Schimmeln haben die natürlich behalten. Und das konnte man ja auch verstehen.“


Vor Angst unter dem Bett geschlafen

Nach dem gescheiterten Fluchtversuch landete Alice schließlich wieder bei der Tante in Ribnitz-Damgarten. Nun erlebte sie die Angst vor den Russen. Tante Irmgard begrüßte sie mit den Worten: „Du kannst nicht reinkommen. Ich bin schon sieben Mal vergewaltigt worden. Da drüben sind die Tataren, tatarische Russen.“

Diese Aussage schockte Alice zutiefst. Ohne die Mutter gesehen zu haben – die war noch unterwegs, um Lebensmittel zu besorgen – fuhr sie mit den Begleitern weiter ins nächste Dorf. Inzwischen war es stockdunkel. „Da hat uns eine Bäuerin aufgenommen. Die war unglaublich nett und hat gesagt: „Kommen Sie alle rein!“


Die Männer bekamen einen leeren Raum zugewiesen, und Alice durfte zu ihrer eigenen Sicherheit mit im Schlafzimmer der Bäuerin schlafen. Deren Mann war noch im Krieg. Nur die alte Mutter „saß am Fenster wie eine Salzsäule.“

Vor lauter Angst vor den wütenden Russen legte sich Alice nicht ins, sondern unters Bett. „Mein ganzer Mut hatte mich verlassen.“ Mitten in der Nacht wurde es der Bäuerin dann zu bunt, sie konnte Alice bewegen, sich zu beruhigen und endlich das Bett normal zu benutzen. Schließlich würde die „Oma“ am Fenster aufpassen und Bescheid sagen, sobald sich jemand näherte.


Am nächsten Tag fühlte sich die Situation auch nicht mehr ganz so bedrohlich an. Es waren die ersten Tage, die so wahnsinnig gefährlich waren. Trotzdem versteckte sich Alice stundenlang hinter einem riesigen Heuhaufen. Bis sie die Stimme ihrer Mutter nach ihr rufen hörte. Sie erfuhr dann, dass die nette Bäuerin in der Zwischenzeit den vier Weggefährten Zivilkleidung ihres Mannes gegeben hatte. „Uniformen wären auch zu gefährlich gewesen.“

Die Männer hatten daraufhin den Bauernhof in aller Frühe verlassen. Alice wanderte Stunden später mit ihrer Mutter die Landstraße entlang zurück nach Ribnitz-Damgarten. „Ich guckte immer rechts und links; fühlte mich aber sehr geschützt durch meine Mutter.“

Gemeinsam mit ihrem Bruder floh sie später heimlich nach Berlin. Aber auch hier blieb sie nicht. Ihr endgültiges Ziel lag im Westen.


Im Westen: Das Leben für die Kunst beginnt

Der Plan, endgültig nach Westen zu ziehen, nahm allmählich Gestalt an und wurde schließlich umgesetzt: „Dann bin ich alleine über diese grüne Grenze, da irgendwo.“ Zu Fuß, bei Regen und bei Dunkelheit schlug sich Alice durch und fand unterwegs einen Weggefährten. „Vor mir ging ein junger Mann. Ich hab zu ihm gesagt: „Hallo, wollen Sie auch über die Grenze?“ Der war so gutmütig und hat mich dann mitgenommen.“

Am nächsten Tag ging es dann gemeinsam über die Grenze. „Der wusste genau, wo es langging.“ Beim Abschied bekam Alice von diesem netten Begleiter noch ein paar Lebensmittelkarten geschenkt. Damals war das wirklich Gold wert.

Mit der Ankunft im Westen lag für Alice endlich eine Zeit hinter ihr, der man die Überschrift geben könnte: „Es ging ums Überleben!“ Jetzt erst begann das eigentliche – „das Leben für die Kunst.“


(1) Stettin gehört seit 1945 zu Polen und bildet den Schwerpunkt des deutsch-polnischen Ballungsraums. Sie ist die siebtgrößte Stadt Polens. Bis 1945 gehörte Stettin zu Deutschland.

(2) Das Stettiner Haff – auch Oderhaff und Pommersches Haff genannt – ist eine Art Lagune der Ostsee, ein inneres Küstengewässer im Mündungsbereich der Oder und der Peene. Durch das Haff verläuft seit 1945 die Grenze zwischen Polen und Deutschland. Der polnische Teil wird als „Großes Haff“, der westliche deutsche Teil wird als „Kleines Haff“ bezeichnet.

(3) Ribnitz-Damgarten ist eine Stadt in Mecklenburg-Vorpommern in Deutschland.


(4) Warnemünde, offiziell Seebad Warnemünde, ist ein Ortsteil im Norden der Hansestadt Rostock in Mecklenburg-Vorpommern.


(5) Flüchtlingsströme: Zwischen 1939 und 1950 fand eine Völkerwanderung statt, die etwa 25 bis 30 Millionen Menschen erfasste und nicht nur aus Flüchtlingen und Vertriebenen bestand. Zehntausende Kinder kehrten aus der Kinderlandverschickung zurück, Hunderttausende ehemals Evakuierter kamen nach Hause. Millionen ehemaliger Soldaten, befreiter KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter waren unterwegs, um in ihre Heimatländer zurückzukehren. Etwa 14 Millionen Deutsche fielen zwischen 1944 und 1950 der Flucht und Vertreibung zum Opfer. Millionen von Menschen verloren ihre Heimat. Der Großteil zog nach Westdeutschland und musste sich dort in die Gesellschaft integrieren, die ebenfalls stark durch den Krieg gebeutelt war.

Auszug aus "Scherbenbilder", Erzählung von Alice P., gesprochen mit Ingrid W., bearbeitet von Barbara H.

Foto: weinstock/Pixabay

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