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Barbara, das Lehrerkind: "Immer vorbildlich benehmen"

Barbara,1930 in Oberschlesie geboren, wuchs mit vielen Kindern auf: zwei Brüder, vier Schwestern, Neffen, Nichten, Cousins und Cousinen. An deren Lebensläufen nimmt sie ihr Leben lang Anteil.

Die Dorfschule

In Oberschlesien, heute Polen, lebte meine Familie in einem kleinen Bauerndorf namens Gammau, das ein paar Kilometer von Ratibor (1) entfernt liegt. Ich war das vierte Kind meiner Eltern, also mittendrin in unserer Familie; es folgten drei weitere. Gotthard, 1924 geboren und sechs Jahre älter als ich, und meine um zwei Jahre ältere Schwester Thea waren mir am nächsten.

Symbolfoto: Pfüderi/Pixabay

Vater war Schulleiter der kleinen Dorfschule, wo wir auch wohnten. In dem Gebäude befand sich unsere Wohnung, und in der ersten Etage waren die Klassenräume. Ganz oben gab es noch ein großes Zimmer, in dem die größeren Kinder schlafen konnten.

Insgesamt hatten dort acht Betten Platz. Die kleineren Geschwister schliefen unten im Schlafzimmer der Eltern. Zu unserer Wohnung unten gehörte noch eine große Küche mit Nebenzimmer, in dem wir Kinder spielten und die Hausaufgaben machten.


Symbolfoto: A.Meyer/Pixabay

Zum Schulgebäude gehörten diverse Nebengebäude: eine Scheune, ein Schuppen für Holz und unsere Fahrräder, ein Stall für eine Kuh und eine Ziege, ein Schweinestall und eine Waschküche. Mitten auf dem Schulhof war ein Misthaufen. Ich darf die Hundehütte für unseren Hund Nero nicht vergessen. Er war vormittags an der Kette, nachmittags durfte er auf dem Hof frei herumlaufen.

Die Dorfschule hatte drei Klassen, eine für das 1. und 2. Schuljahr, eine für das 3. und 4. Schuljahr und eine für die sogenannte Oberstufe bis zum 8. Schuljahr. Außer meinem Vater unterrichteten zwei junge Lehrer, die uns Lehrerkindern privat auch Klavierunterricht gaben. Mein Bruder Gotthard konnte besonders gut Klavier spielen, sogar Orgel. Manchmal hat er in der Kirche angefangen, Schlagermelodien auf der Orgel zu spielen, wenigstens den Anfang. Mein Vater hat nichts gesagt und den anderen Kirchenbesuchern ist das wohl gar nicht aufgefallen, nur uns Kindern.

Symbolfoto: Photografix/Pixabay

Erziehungsmethoden in der Schule: Schlag mit dem Rohrstock auf die Hände

Wenn wir Kinder uns stritten, vor allem meine Schwester Thea und ich, rief mein Vater in lautem Ton: „Jetzt aber Schluss!“ Und wenn dann immer noch nicht Frieden herrschte, warf er uns raus. Dann mussten im dunklen Flur stehen. Das war in etwa die Höchststrafe für uns. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Vater uns geschlagen hätte.

Meine Mutter zog uns zuerst am Zopf, wenn sie uns ermahnte. Oder sie gab uns einen Stups gegen den Oberarm oder schüttelte uns, wenn sie sich über uns ärgerte und sie eine Grenze setzen wollte. Lediglich von meinem ältesten Bruder bekamen wir Kleineren ab und zu eine Ohrfeige, die wegen seiner knöchernen Hand sehr weh tat.

In der Schule gab es damals noch die körperliche Züchtigung. Wenn mein Vater morgens nach dem Frühstück rauf in die Klasse ging, standen wir Kinder rasch vom Tisch auf und rannten ihm hinterher. Wenn es dann oben in der Klasse laut war, bekam jedes Kind, auch wir, seine Kinder, einen Schlag mit dem Rohrstock auf die Hände. Wir fanden das ungerecht, weil wir ja keinen Krach gemacht hatten. Aber meine Mutter, bei der wir uns beschwerten, sagte: „Ihr gehört dazu. Die ganze Klasse muss dran glauben“.

Ich selbst hatte nur ein Jahr bei meinem Vater Unterricht, weil ich dann auf eine weiterführende Schule ging. Mein Vater konnte gut erzählen, und die Schüler liebten seine Geschichten. Viel erzählte er davon, wie es früher in den Dörfern zugegangen ist.

Meine Eltern erzogen uns streng, aber sie waren im Prinzip großzügig und tolerant. Sie haben uns beigebracht, jeden Menschen, egal ob arm oder reich, sauber oder schmutzig, zu achten und zu respektieren. Wir sollten jeden Besucher freundlich grüßen und ihm zuerst einen Stuhl anbieten. Im Dorf lebten während der Kriegszeit ja auch Kriegsgefangene aus dem Osten, die bei den umliegenden Bauern arbeiten mussten. Auch diese Menschen haben wir respektvoll behandelt.

Im Dorf gab es ein Frauenarbeitsdienstlager (2). Die dort lebenden Frauen mussten bei den Bauern arbeiten, auch zu uns kam immer eine Frau. Vater war ja nicht nur Lehrer, er war auch Amtsvorsteher, Standesbeamter und Schiedsmann für unser Dorf Gammau und für das kleinere Nachbardorf Silberkopf. Er suchte sich stets eine junge Frau aus, die Schreibmaschine schreiben konnte, weil er als Standesbeamter viel zu schreiben hatte. Bei uns arbeiteten die jungen Frauen lieber als auf einem Bauernhof.

Ich erinnere mich an eine von uns „Arbeitsmaid“ genannte Frau, die sehr froh war, bei uns zu arbeiten, weil sie vorher bei einem alleinstehenden Bauern gearbeitet hatte, bei dem es seltsam zuging. Er hatte, wie es damals üblich war, ein Plumpsklo, allerdings ohne Tür. Wenn sie auf dem Klo saß, kam er und erzählte ihr, was sie alles zu tun hatte. Das war ihr furchtbar unangenehm. Wir haben über die Geschichte seinerzeit herzlich gelacht.

Für meine älteren Geschwister spielten schon früh zusammen mit den Schulkindern auf dem Schulhof. Oft haben sie sich in ein Klassenzimmer der älteren Jahrgänge geschlichen, setzten sich in die letzte Reihe und hörten zu. Das führte dazu, dass sie alle schon ein Jahr früher eingeschult werden konnten als normal. Alle Geschwister mussten sich als Lehrerkinder natürlich vorbildlich benehmen. Das war nicht immer leicht.

Das Hobby meines Vaters war das Orgelspielen in der Kirche. Jeden Morgen ging er als erstes in die Kirche zum Orgelspielen. Dafür bekam er ein Stück Land, das er von einem Bauern bearbeiten ließ. In den Ferien, vor allem in den sogenannten Kartoffelferien im Herbst, mussten wir Kinder bei der Ernte auf dem Feld helfen. Wir halfen auch bei der Getreideernte und beim Transport in die Gammauer Mühle, wo wir kostenlos Mehl bekamen.

Spät kam der Nationalsozialismus auch zu uns

Mein katholischer Vater wurde erst Parteimitglied (3), als es für Lehrer Pflicht wurde. Da ließ er sich nicht beirren. Sein Schulrat war zum Glück sehr großzügig.

Ich erinnere mich, dass einmal, als die Mutter eines Schülers verstarb, die ganze Schule zur Beerdigung ging. Ausgerechnet an diesem Tag kam der Schulrat unangemeldet nach Gammau und fand die Schule leer vor. Mein Vater konnte die Abwesenheit der Schüler gut erklären und stieß beim Schulrat auf Verständnis.

1944 bekam mein Vater ein Schreiben, dass er versetzt werden sollte, und zwar in die Nähe von Breslau, in eine nicht so katholische Gegend. Dazu ist es dann aber nicht mehr gekommen.

Nach der Volksschule: Gymnasium oder Lyzeum

Wenn man auf eine weiterführende Schule gehen wollte, musste man, da es keinen öffentlichen Personennahverkehr gab, eine Pension in der Stadt finden. Mein Bruder Gotthard und meine Schwester Thea besuchten beide eine weiterführende Schule in Ratibor: Gotthard das altsprachliche Gymnasium und Thea das Lyzeum.

Ich war schon elf Jahre alt, als ich die Schule wechselte. Außer dem Gymnasium und dem städtischen Lyzeum gab es in Ratibor noch eine von Ursulinen geführte Klosterschule mit angeschlossenem Internat. Das kam aber für meinen Vater nicht in Frage.

Bisher waren Gotthard und Thea in der Familie eines Bruders meiner Mutter untergebracht, aber ihr wurde alles zu viel Arbeit, denn sie hatte zwei Söhne, Soldaten, von denen einer als vermisst gemeldet wurde und der andere zum Glück der Hölle von Stalingrad entkam und nach Hause zurückkehrte. Vater suchte nun für Thea und mich eine Unterkunft. Er fand sie bei einer Dame, Ende 40, Tochter eines Bahnbeamten, nach dessen Tod sie eine kleine Waisenrente bezog.

Um ihr bescheidenes Einkommen aufzubessern, vermietete sie eines der Zimmer ihrer kleinen Wohnung, die nur aus einer Küche und einem Zimmer bestand. Darin standen ein Bett, eine Couch, ein Schrank, ein Tisch und ein Waschtisch mit Schüssel und Kanne. Es gab sogar eine Toilette mit Wasserspülung. Frau L. schlief in der Küche, Thea und ich bezogen das Zimmer. Thea schlief im Bett, ich auf der Couch. Die Schulaufgaben mussten wir häufig in der Küche machen, denn unser Zimmer ließ sich nicht beheizen. Samstags radelten Thea und ich nach Hause, wo wir gebadet haben.

Unser Schulweg war nicht weit, er dauerte etwa zehn Minuten, manchmal aber viel länger, wenn wir trödelten oder auf dem Schulranzen die Böschung hinabrutschten. Nach dem Unterricht sind wir meistens zusammen mit einer Schulkameradin aus meiner Klasse nach Hause gegangen, die auch in der Nähe wohnte. Als ich in die neue Klasse kam, mussten sich alle Kinder vorstellen. Als ich meinen Namen sagte, fragte die Lehrerin: „Bist du die Schwester von der Thea?“ Sie meinte, eine Ähnlichkeit zu erkennen.

Im ersten Jahr auf dem Lyzeum hatte ich eine Mathematiklehrerin, mit der ich gar nicht klar kam. Zum Glück bekamen wir im zweiten Jahr einen neuen Mathelehrer, der mich besser förderte, so dass sich meine Leistungen deutlich verbesserten. Als Fremdsprache lernten wir Englisch. Das Lyzeum hatte auch einen Hauswirtschaftszweig.

Ab der Mittleren Reife konnte man entweder den sprachlichen oder den hauswirtschaftlichen Zweig wählen. Letzterer führte zum sogenannten „Puddingabitur“. Ende 1944 wurde dann allerdings in unserer Schule ein Lazarett eingerichtet. Das bot sich an, denn durch den Hauswirtschaftszweig war die Schule mit einer Küche und einer Waschküche ausgestattet.

Wir Mädchen mussten von dem Zeitpunkt an in das Jungen-Gymnasium gehen, wo es Schichtunterricht gab. Die Unter- und Oberprima des Gymnasiums war inzwischen in einen anderen Ort ausgelagert worden. Mein Bruder machte dort mit anderen Schülern aus der Umgebung sein Abitur. Und viele Jungen waren auch schon eingezogen (4) worden.

Eigentlich habe ich nur drei Jahre das Lyzeum besuchen können, denn unter Hitler war der Einschulungsbeginn vom Frühjahr auf den Herbst verschoben worden. Deshalb musste ich nach Ende der 4. Klasse im April noch bis zum Herbst in die 5. Klasse gehen. Mit mir zusammen kam auch ein weiteres Mädchen aus Gammau auf das Lyzeum in Ratibor, das war meine Freundin Otti, mit der ich heute noch ab und zu Kontakt habe. Sie lebt immer noch in Gammau, im heutigen Polen, spricht aber sehr gut Deutsch.

Zum Gymnasium hatten Thea und ich nun einen weiteren Weg als zum Lyzeum, aber wir hatten ja unsere Fahrräder. Wenn es Fliegeralarm gab, war es meistens schon Mittag, und wir mussten in den Keller flüchten. Ich kann mich nur an einen einzigen Bombenabwurf über Ratibor erinnern. Im Sommer 1944 sollten wir eigentlich im Freibad schwimmen lernen, aber meistens gab es Alarm und wir mussten stattdessen in den Keller.

Die Jungen waren völlig kaputt und schmutzig – Mutter kümmerte sich um sie

Anfang 1945 wurde auch das Gymnasium geschlossen, weil die russische Front immer näher kam. Wir blieben dann zu Hause in Gammau. Es war ein sehr kalter Winter mit viel Schnee. Eines Abends kam eine Gruppe vielleicht 15- bis 16-jähriger Jungen, die von der Schule weg zur Heimatflak eingezogen worden waren, bei uns an, völlig kaputt und schmutzig.


Wir freuten uns über die Abwechslung und wollten mit ihnen sprechen. Aber meine Mutter sagte: „Lasst die armen Kerle in Ruhe“, und kümmerte sich um die Gruppe. Sie waren von weiter östlich nach Westen unterwegs und hatten erlebt, wie ein Trupp Juden – wahrscheinlich aus einem KZ (5) – Richtung Westen getrieben wurde. Die waren so schwach, dass viele die Böschung hinunter stürzten, ohne dass ihnen jemand half. Sie blieben im Schnee stecken. Die Jungen konnten auch nicht helfen, waren aber von diesen Bildern sehr verstört. Mein Mutter sorgte dafür, dass sie baden und ihre Kleidung trocknen konnten. Später habe ich oft daran gedacht und habe mich gefragt, was aus den Jungen und den armen Juden geworden ist.

(1) Ratibor ist eine Stadt in der polnischen Woiwodschaft Schlesien (heute Racibórz). Sie liegt in Oberschlesien an der oberen Oder, etwa 23 Kilometer westlich von Rybnik und rund 60 Kilometer südwestlich von Kattowitz. Im Süden verläuft die Grenze zu Tschechien.

Quelle: wikipedia


(2) Arbeitslager, auch Straflager oder Umerziehungslager genannt, sind Stätten, an denen Menschen zur Zwangsarbeit festgehalten werden, je nach Konzept des Lagers mit oder ohne Entgelt. … Ein Mensch kann in ein Arbeitslager aus verschiedenen Gründen gesperrt werden. Es ist die Strafe für … unerwünschte politische oder religiöse Betätigung (vergleiche Politische Gefangene).

Quelle: wikipedia


(3) Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) war eine in der Weimarer Republik gegründete politische Partei, deren Programm und Ideologie (der Nationalsozialismus) von radikalem Antisemitismus und Nationalismus sowie der Ablehnung von Demokratie und Marxismus bestimmt war. Sie war als straffe Führerpartei organisiert. Ihr Parteivorsitzender war ab 1921 der spätere Reichskanzler Adolf Hitler, unter dem sie das sogenannte Dritte Reich von 1933 bis 1945 als einzige zugelassene Partei beherrschte.

Quelle: wikipedia

(4) 1926 gründete die NSDAP die Hitlerjugend (HJ) als Jugendorganisation der Nationalsozialisten, vier Jahre später den Bund deutscher Mädel (BDM). … Der Beitritt zur HJ bzw. zum BDM wurde zur Pflicht, aber nicht jeder durfte Mitglied werden. Die Kranken und Schwachen wurden zurückgewiesen und die Juden waren von der Zugehörigkeit zur HJ ausgeschlossen. Auch wenn einige Eltern es nicht gerne sahen, wenn ihre Kinder in die HJ gehen wollten, sie davon abzuhalten war nicht leicht. Wer dies dennoch versuchte, dem drohten Geld- und Gefängnisstrafen. 1939 hatte die Hitlerjugend deshalb fast neun Millionen Mitglieder. Die Zehn- bis 14-Jährigen dienten im Deutschen Jungvolk oder beim Jungmädelbund, die 14- bis 18-Jjährigen in der HJ oder im BDM.

Schon Zwölfjährige lernten damals das Schießen mit Karabinern und später auch den Umgang mit der Panzerfaust. 1943 waren die meisten Flakgeschütze mit Hitlerjungen besetzt. Mit der Ausrufung des "Totalen Krieges" Anfang 1943 führten die Nationalsozialisten das  Notabitur  ein, das es ermöglichte, dass nun auch Halbwüchsige in den Krieg ziehen konnten.

(5) Die Konzentrationslager (KZ) des Deutschen Reichs wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die bekanntesten; durch sie wurde das Wort weltweit zum Schlagwort, da in ihnen die von den Nationalsozialisten angestrebte Judenvernichtung stattfand. … Als Besonderheit … galt die rationalisierte, bürokratisch und fast industriell durchorganisierte Ermordung und Vernichtung von tausenden Menschen pro Tag. Hauptziel der NS-Lager war etwa ab 1939 die Vernichtung aller Bürger jüdischen Glaubens oder Herkunft: die Shoa. …

Schätzungen gehen davon aus, dass ca. zwei Drittel der sechs Millionen Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen, direkt in den Lagern des Dritten Reiches ermordet worden oder dort an den Folgen von Misshandlungen und Krankheiten umgekommen sind. Das verbleibende Drittel starb in von der SS so genannten Ghettos, bei Massenerschießungen vor allem durch die „Einsatzgruppen“ und auf den so genannten Todesmärschen. Es wurden in den KZ auch viele andere Menschen ermordet, z.B. Homosexuelle, geistig Behinderte und sogenannte Asoziale. …

Quelle: wikipedia.org

Auszug aus „Mittendrin – Das Leben der Barbara D.“, erzählt von Barbara D.; aufgeschrieben von Rosi A. (2017), bearbeitetvonBarbaraH.(2023)

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