top of page

Fleißig und gut in der Schule, aber: "Eine Hausfrau mit Abitur braucht man nicht!"

Die 1939 in Krefeld geborene Leonie wird nach der Einberufung ihres Vaters in den Kriegsdienst und Tod ihrer Mutter vom Patenonkel Hugo und seiner Frau in Obhut genommen und im Vorort Fischeln (1) aufgezogen. Kriegs- und Nachkriegszeit sind geprägt von Armut, Hunger, Ängsten und unerfüllten Träumen. Es gelingt ihr aber jeden Stolperstein des Schicksals zu überwinden und ihre wichtigsten Lebenswünsche zu erfüllen: mit einem liebenswerten Ehemann die Welt bereisen und von vielen Kindern und Enkelkindern geliebt zu werden.

Statt Schultüte Geschenke von Hand und Herz

Durch die Bombenangriffe auf Krefeld waren im Krieg sehr viele Schulgebäude zerstört worden. Soviel ich weiß, wurde 1945 gar nicht eingeschult. Mein Schulstart erfolgte daher 1946 in einem Doppeljahrgang. Entsprechend groß war die Anzahl der Erstklässler.

Die Verteilung der Kinder auf die einzelnen Schulen gestaltete sich offenbar schwierig, denn nur wenige Wochen nach meiner Einschulung an einer kleinen Schule auf der Oberbruchstraße entschied sich das Schulamt anders. In Fischeln gab es noch zwei Volksschulen, eine evangelische und eine katholische, die praktischerweise direkt nebeneinanderstanden. Entsprechend meiner Konfession landete ich auf der Evangelischen Volksschule am Marienplatz.

Am ersten Schultag lagen zum Frühstück einige Geschenke an meinem Platz. Tante Gerta hatte mir aus dicker Wolle einen warmen Pullover mit Herzen ähnelnden Mustern gestrickt. Sehr gut gefiel mir auch die von Papa Karl geschneiderte dicke, lange Hose. Hierfür hatte er die Schlafdecke verwendet, die er als Soldat aus dem Krieg nach Hause mitgebracht hatte. Der dunkelgraue, haarige, fast filzige Stoff piekte leider sehr auf der Haut.

Besonders stolz war ich aber auf meinen Tornister, von Onkel Hugo selber gebastelt. Mit seiner handwerklichen Begabung war aus dünnen Sperrholzplatten, schwarzem Leinenstoff und Lederriemen ein robuster Tornister mit klappbarem Deckel entstanden, den ich mit Stolz auf dem Rücken trug.

Etwas weniger Freude bereiteten mir die Holzschuhe mit ledernen Vorder- und Hinterkappen, die er mir im letzten Jahr gefertigt hatte. Im Winter pappte der Schnee drunter, den ich immer wieder abschlagen musste, um nicht zu stürzen. Aber auch jetzt nach Ostern war es eine Qual, damit zu gehen. Insgeheim hatte ich zur Einschulung auf neue Lederschuhe zum Schnüren gehofft, beklagt mich aber nicht, denn meine Eltern konnten sich nach dem Krieg nicht alles leisten. Den anderen Kindern ging es ja auch nicht besser.

Eine Schultüte war in diesen ‚sauren Zeiten‘ auch nicht drin. Zucker war noch immer knapp, so dass Süßigkeiten, wie z.B. Bonbons und Schokolade, echte Raritäten darstellten. Das höchste der Gefühle waren selbstgebackene Plätzchen.

Meine Einschulung verlief unspektakulär, eine ziemlich trockene Angelegenheit. Papa und Onkel Hugo waren arbeiten. Nur Tante Gerta begleitete mich zur Einschulung und wartete draußen vor dem Schulgebäude, bis ich wieder rauskam.

Das Kind im Kutscher erleichtert den Schulweg

Von der Von-Ketteler-Straße bis zur Schule war es ein gutes Stück zu laufen. Für ein sechsjähriges Kind mit kurzen Beinchen manchmal sehr beschwerlich, besonders, wenn es viel zu spät losging.

Manchmal half mir das Glück, und ich wurde noch auf dem ersten Wegstück von einem Pferdewagen eingeholt. Der Kutscher hielt an und rief: „Komm rauf!“ Ich durfte neben ihm auf dem Kutschbock Platz nehmen. Ich kannte natürlich den freundlichen, älteren Herrn gut, denn er war der Besitzer des kleinen Tante Emma Ladens auf unserer Straße, auf seinem morgendlichen Weg, frisches Brot zu kaufen.

Wenn auf der Kölner Straße Jungens aus meiner Klasse zu sehen waren, gab ich dem Kutscher ein Zeichen. Wie vereinbart beschleunigte er dann mit knallender Peitsche und lautem Pfiff die Pferde, um die Aufmerksamkeit meiner Klassenkameraden zu wecken. Wenn ich ihnen dann beim Vorbeifahren mit strahlender Miene zuwinkte, waren die natürlich neidisch. Das genoss ich sehr. Und der Herr neben mir auf dem Kutschbock freute sich jedes Mal, wie ein kleines Kind.

Schulbücher mit Hakenkreuz und Reichsmark

Der Schulunterricht begann immer nach dem gleichen Ritual. Der Lehrer betrat den Klassenraum und es wurde mucksmäuschenstill. Sobald er hinter seinem Pult angekommen war, standen alle Schüler zur Begrüßung auf: „Guten Morgen, Herr Lehrer!“ – „Morgen Kinder. Hinsetzen!“

In den vier Grundschuljahren unterrichtete ein Lehrer zwei Klassen gleichzeitig in einem Raum. Dazu sprang er immer zwischen den beiden Gruppen hin und her. Immerhin um die 50 Schüler.

In den ersten beiden Schuljahren schrieben wir mit vorne angespitzten, leicht zerbrechlichen Schieferstangen auf in Holz eingefasste Schiefertafeln. Die Tafel, mit Linien und Kästchen auf Vorder- bzw. Rückseite, säuberten wir mit einem kleinen, feuchten Schwämmchen. Später benutzten wir holzverkleidete Griffel, bis dann mit Federhalter und Tinte in Papierhefte geschrieben wurde. In den Tischen war eine kleine Vertiefung für das Tintenfass mit Klappe eingearbeitet. Wenn die Tinte leer war, schickte der Lehrer einen Schüler los: „Hol mal neue Tinte!“ In einem Kabuff standen Landkarten und die Tinte zum Nachfüllen. Meinen ersten richtigen Füller bekam ich irgendwann nach der Grundschule.

Die ersten Schulbücher stammten natürlich noch aus der Kriegszeit. Mit Hakenkreuz (2) und Reichsmark (3). Das erste neue Lesebuch ‚Das bunte Segel‘ wurde jeweils zwei Jahre benutzt. Ich fand die Bücher so schön, dass ich sie noch lange nach meiner Schulzeit aufgehoben habe.

Einmal die Woche stand für die ganze Klasse ‚Kirchgang‘ auf dem Stundenplan. Vor der ersten Stunde lief ich 20 Minuten zur Evangelischen Lutherkirche an den Krankenanstalten, um dann nach dem Gottesdienst 40 Minuten in entgegengesetzter Richtung zur Schule nach Fischeln zurückzulegen. Da wurde mir klar, warum das ‚Kirchgang’ hieß.

Sport- und Schwimmunterricht

‚Leibesübungen‘ praktizierten wir auf dem Schulhof, denn es gab keine Turnhalle. Ab dem 4. oder 5. Schuljahr erhielten wir auch Schwimmunterricht, natürlich nicht auf dem Hof. Angeführt von zwei Lehrern, durften wir mit unseren selbstgenähten Schwimmbeuteln vom Fischelner Rathaus mit der Straßenbahn bis zur Neusser Straße fahren. Dort befand sich die 1890 eröffnete Badeanstalt, mit Frei- und Hallenbad sowie einer Bade- und Brauseabteilung.

Der Schwimmunterricht erfolgte für Jungen und Mädchen getrennt. Ich lernte das Schwimmen im Damenbad mit den wunderschönen Mosaikböden und -fliesen. Dort kannte ich bis dahin nur den Wannenbereich, in dem meine Mutter und ich jeden Samstag badeten.

Da ich noch nicht schwimmen konnte, benutzte der Lehrer bei meinen ersten Schwimmversuchen eine lange Angel mit einem Ring, um mich wieder nach oben ziehen zu können, wenn mein Kopf unter Wasser geriet. Als dies nicht mehr notwendig war, machte ich schnell die Frei- und Fahrtenschwimmerscheine.

Zuhause sprachen wir Hochdeutsch und auch in der Schule durfte kein ‚Krieewelsch Platt‘ gesprochen werden. Deshalb spreche ich es nicht. Als Krefelderin verstehe ich aber natürlich die Krefelder Mundart und verwende den einen oder anderen Begriff, aus reiner Gewohnheit oder weil er lustig klingt.

In besonderer Erinnerung geblieben ist mir der Besuch des bekannten Krefelder Heimatdichters Willy Hermes an unserer Schule. Der etwa 50-jährige Mann mit Hornbrille trug klassenweise Lesungen aus seinen Büchern, Gedichten und Texten vor. Wir Kinder haben von Anfang bis Ende sehr viel gelacht.

Später sollte er alle Krefelder – zumindest die, die das ABC des Krefelder Patt beherrschten – mit seinen mundartlichen Kolumnen ‚Matthes Vertällt‘ in der Westdeutschen Zeitung und seinen Texten für das Puppentheater ‚Krieewelsche Pappköpp’ (4) zum Lachen bringen. Die Krefelder Bürger dankten es ihm, in dem sie eine Straße nach ihm benannten: ‚Willy-Hermes-Dyk.‘

Fräulein Rektorin und ungewöhnliche Lehrer

Kinder im Schulalter gab es zuhauf. Aber, anders als Schneider, waren Lehrer Mangelware. Viele Lehrer waren nicht aus dem Krieg zurückgekommen und Lehrerinnen waren schon immer rar, denn die durften wegen des Lehrerinnenzölibats nicht heiraten. Erstaunlicherweise leitete eine Rektorin unserer Schule, Fräulein F. Das Fräulein als Anrede für unverheiratete Frauen war damals gebräuchlich, in meiner Erinnerung sogar zwingend.

Ebenso ungewöhnlich für die Zeit war unser sehr engagierter Lehrer S. Er war zu jung für den Kriegsdienst gewesen und daher schon mit moderneren Lehrmethoden ausgebildet worden. Seinen Unterricht gestaltete er mit Fragekarten in Kästchen sehr einfalls- und abwechslungsreich. Der machte mit uns sogar Spaziergänge zum Forstwald und spielte dort mit uns Räuber und Gendarm. Ich glaube, wir mochten ihn alle gerne als Lehrer, auch wenn einige Jungs ihn wegen seiner leicht verzogenen Mundpartie ‚Ferkesschnut‘ nannten. Ich fand den Ausdruck schrecklich und schämte mich immer für meine Mitschüler, wenn ich das mitbekam.

Herr S. wohnte auf der Melanchthonstraße. Wir kannten seinen Geburtstag, woher auch immer, und weil er so beliebt war, brachten einige an diesem Tag kleine Geschenke mit in die Schule, meistens Selbstgebackenes oder Blumen im Topf. Dann suchte er immer zwei oder drei Schüler aus, die ihm halfen, seine Geschenke nach Hause zu tragen. Meine beste Freundin Heide und ich meldeten uns immer freiwillig. Der lange Fußweg die ganze Kölner Straße runter machte uns nichts aus, denn wie immer empfing uns seine Mutter gastfreundlich mit Kuchen oder Plätzchen.

Er blieb immer ruhig. Nur ein einziges Mal erlebte ich, dass er aus der Fassung geriet. Ein etwas älterer Mitschüler war als extrem aufsässig bekannt. Die Lehrer konnten ihn bestrafen, wie sie wollten. Unbeeindruckt keifte er zurück und war frech. Lehrer S. ging dann zu den Eltern, die das Verhalten ihres Sohnes jedoch kannten, und ebenfalls machtlos waren. Irgendwann war er so wütend, dass er dem Jungen mit dem Zeigestock eine drüberzog. Danach war erst einmal Ruhe.

Später bekamen wir den etwas älteren Lehrer A., da waren wir schon was größer. Imponierend fand ich, als er seine beiden Söhne, die gleich beide an Rachitis erkrankt waren, auf einen Schulausflug mitbrachte. Auf ihren klein gebliebenen Körpern wirkten ihre Köpfe riesig. Das passte wiederum zu ihrer hohen Intelligenz, mit der sie später ihr Abitur schaffen sollten. Wir sind ganz normal mit denen umgegangen, haben viel über ihre Krankheit gelernt und hatten gemeinsam viel Spaß an diesem Tag.

In Erinnerung geblieben ist mir auch Lehrer A’s Sexualunterricht in der 7. Klasse. Er war sehr ruhig. Ganz sachlich wie ein Arzt, erklärte er uns, wie Kinder entstehen und eine Geburt abläuft. Das erforderte großen Mut, über so etwas vor einer gemischten Klasse zu sprechen. Aber wir waren so fasziniert, dass keiner sich wagte, ihn zu unterbrechen.

Kein Geld für das Gymnasium?

Nach dem 4. Schuljahr blieben die meisten aus meiner Klasse auf der Volksschule. Nur sehr wenige gingen auf die Höhere Schule. Für Mädchen gab es in Krefeld nur zwei Gymnasien. Die Marienschule, von Klosterfrauen geleitet und deshalb ‚Nonnenbunker´ genannt, nahm nur katholische Mädchen auf, daher wäre für mich nur das evangelische Lyzeum an der Moerser Straße in Frage gekommen.

Meine Zeugnisse waren wahrhaftig gut. Als mein damaliger Lehrer S. mir mitteilte, dass ich die Befähigung für das Gymnasium hätte, erklärte ich ihm traurig: „Wir haben kein Geld fürs Gymnasium.“

Er kam dann persönlich zu uns auf die Von-Ketteler-Straße, um zu versuchen, mir diese große Lebenschance zu ermöglichen: „Leonie kann eine Befreiung von der Schulgeldzahlung für das Gymnasium bekommen.“ Am Ende des Gesprächs war Onkel Hugo zumindest nicht mehr ganz dagegen: „Ich werde mich mit Leonies Vater besprechen.“

Als er nach dem Gespräch mit ernster Miene nach Hause kam, spürte ich sofort, dass mein großer Traum, Lehrerin zu werden, nicht in Erfüllung gehen würde. „Dein Vater kann das Geld fürs Gymnasium, trotz Schulgeldbefreiung, nicht aufbringen. Kleidung für so ein Mädchen ist sehr teuer und die Fahrkarte in die Stadt, wie auch die vielen Schulbücher, kosten auch Geld.“

Ich merkte, diese Entscheidung tat ihm sehr leid, und vermutete dahinter finanzielle Gründe. Tatsächlich verheimlichte er mir aber, dass Tante Rosa meinen Vater zu dieser Entscheidung gedrängt hatte: „Das sehe ich gar nicht ein. Eine Hausfrau mit Abitur braucht man nicht!“ Als ich später davon erfuhr, traf mich das schwer, konnte es aber nicht mehr ändern.

So ging ich brav acht Jahre in Fischeln zur Volksschule und machte das Beste daraus. Ein glücklicher Umstand sollte mir helfen, schnell über diesen Schmerz hinwegzukommen. Die zehn besten Schüler der evangelischen und katholischen Schulen erhielten das Angebot zur Teilnahme an einem Englischkurs, der zweimal die Woche nachmittags stattfand. Wie die anderen Auserkorenen, stimmte ich sofort zu und erlernte die englische Sprache mit großer Freude. In den vier Jahren bis zum Volksschulabschluss begeisterte ich mich so sehr für Sprache und Kultur der Engländer, dass mich diese Leidenschaft durch meine Ausbildung, meinen Beruf und auch noch danach begleiten sollte.

(1) Fischeln ist der südlichste Stadtbezirk Krefelds. Es erstreckt sich auf knapp 19 km² und ist mit 26.216 Einwohnern (Stand: 31. Dezember 2016) hinter der Stadtmitte der einwohnerstärkste Stadtbezirk.


(2) Im Deutschen wird ein heraldisches Zeichen, das der Swastika ähnelt, seit dem 18. Jahrhundert „Hakenkreuz“ genannt. Im 19. Jahrhundert entdeckten Ethnologen die Swastika in verschiedenen Kulturen des Altertums. Einige verklärten sie zum Zeichen einer angeblichen indogermanischen Rasse der „Arier“. Die deutsche völkische Bewegung deutete das Hakenkreuz antisemitisch und rassistisch. Im Anschluss daran machten die Nationalsozialisten ein nach rechts gewinkeltes und 45 Grad geneigtes Hakenkreuz 1920 zum Kennzeichen der NSDAP und 1935 zum zentralen Bestandteil der Flagge des Deutschen Reiches. Weil das Hakenkreuz Ideologie, Gewaltherrschaft und Verbrechen des Nationalsozialismus repräsentiert, ist die politische Verwendung hakenkreuzförmiger Symbole seit 1945 in Deutschland, Österreich und weiteren Staaten verboten. In Deutschland dürfen Hakenkreuze nach § 86 Absatz 3 StGB nur zur „staatsbürgerlichen Aufklärung“ und zu ähnlichen Zwecken gezeigt werden.


(3) Die Reichsmark (Abkürzung RM, Währungszeichen: ℛℳ) war von 1924 bis 1948 das gesetzliche Zahlungsmittel im Deutschen Reich. Dieser Zeitraum umfasst einen Teil der Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 war die Reichsmark in den Besatzungszonen noch bis zur Einführung neuer Währungen im Juni 1948 gültig.

(4) Krieewelsche pappköpp ist ein mundartliches Marionettentheater in Krefeld. Das Programm des Amateurtheaters, das 1978 gegründet wurde und seit 2004 auf eigener Bühne agiert, richtet sich hauptsächlich an ein erwachsenes Publikum.


Auszug aus „Zwei Mütter, ein Vater und Onkel Hugo“, erzählt von Leonie B, geschrieben und Auszug bearbeitet von Uwe S.

Symbolfoto: congerdesign/Pixabay

Comentarios


bottom of page