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Katholisch und konservativ: Kein "Halleluja" für Hitler

Hildegard R. wurde 1925 in Essen geboren. Sie studierte Deutsch und Geschichte in Göttingen, Innsbruck und Freiburg. Zuletzt arbeitete sie als Lehrerin in Düsseldorf. Als Pensionärin reiste sie nach der Wende in die ehemalige DDR, um dortigen Kollegen und Kolleginnen ihre Erfahrungen als Historikerin zur Verfügung zu stellen. Sie machte sich Gedanken über Zeitzeugenberichte und deren Bedeutung innerhalb der Geschichtsschreibung.


Mein Professor in Göttingen sprach immer davon, dass die Anekdote die "Spiegelscherbe der Geschichte" ist. So sind wohl auch die Erzählungen von Zeitgenossen als Spiegelscherben der Geschichte zu verstehen. Nur dadurch, dass man sehr viele dieser Scherben zusammensetzt, bekommt man ein immer kompletteres Bild. Komplett wird es nie.

Die Aspekte, aus denen man die Zeit der Vergangenheit und die Situation betrachtet, in der man diese Zeit erlebt hat, sind zu verschieden, als dass man sagen könnte, so war das. Das ist bei mir extrem auch so gewesen.

Stolz auf Erfolge der deutschen Wehrmacht

Die konservative katholische Einstellung in der engeren Familie meines Großvaters hat dazu geführt, dass Hitler (1889-1945) als Feind der katholischen Kirche keine Chance hatte, anerkannt zu werden. Mit dieser Einstellung bin ich groß geworden, und so war ich von Anfang an gefeit gegen den Nationalsozialismus.

Das heißt aber auch, dass ich während des Krieges auf Erfolge der deutschen Wehrmacht sogar stolz war.

Geprägt wurde ich trotzdem durch die katholisch motivierte Gegnerschaft gegenüber Hitler. So erinnere ich mich zum Beispiel deutlich daran, dass ich als etwa Fünfzehnjährige einmal an der Peripherie der Essener Altstadt ein Gespräch zwischen zwei Herren mit anhörte, in dem der Satz fiel: „Diesen Krieg dürfen wir nicht gewinnen.“ Ich dachte: Die haben Recht, aber auch Glück, dass ich und kein anderer dies gehört hatte.

Das ist ja das Tolle, dass ich das damals schon erkannt hatte. Sie sehen: Ich bin in der Beziehung eine Ausnahme.

Ich bin nicht in diesem allgemeinen "Halleluja" für Hitler aufgewachsen.

Eine meiner Tanten wollte im Familienkreis mit „Heil Hitler“ begrüßt werden. Das habe ich nicht getan. Ich habe einen großen Bogen um sie gemacht, damit das nicht peinlich wurde. Da hat sie mir bestellen lassen: „Du kannst auch ruhig ‚guten Tag‘ sagen. Ich nehme es dir nicht übel.“

So fanatisch war sie doch nicht; aber „Heil Hitler“ gehörte eigentlich dazu.

Harmlose Heimatabende des BDM (1)

Ich besuchte eine katholische Privatschule. Wir haben Spielchen und Radtouren gemacht. Später bin ich noch einmal im Jahr zum Sportfest erschienen, weil ich unbedingt die Nadel, eine Auszeichnung, haben wollte.

Jeden Samstag wurde schulfrei gegeben, damit wir mit nationalsozialistischen oder nationalen Liedern durch die Straßen ziehen konnten. Später sollte das in der Schule passieren.

Alle Klassen mussten sich auf dem Schulhof versammeln, schön in Reih und Glied, und es wurde gesungen, immer mit erhobenem Arm, immer die Hand auf der Schulter des Vordermannes: „Deutschland, Deutschland über alles ...“, „Die Fahne hoch ...“.

Reden Hitlers wurden auf Befehl von oben für alle Schüler und Lehrer in der Aula übertragen. Das lange Stillsitzen fiel uns natürlich schwer. Dafür wurden wir von unserem Lehrer gelobt. Stellungnahmen zu den Reden von Seiten der Lehrer gab es nicht.

Die „Reichskristallnacht“ (2) erlebte ich als Jugendliche. Ich sah in einem Villenviertel zerschlagene Fenster und auf die Straße geworfenes Inventar. Kommentare seitens meiner Familie erfolgten nicht. Dagegen beeindruckte mich eine mutige Stellungnahme meines damaligen Klassenlehrers.

Alles andere als heldenhaft

Er war ein ganz braver bürgerlicher Mann, der es sehr schwer hatte, weil seine Frau zu den Opfern der Euthanasie (3) gehörte. Sie wurde weggebracht und ist dann wohl umgebracht worden. Er war alles andere als ein heldenhafter Mann.

Ich weiß jetzt nicht mehr, um welche Konferenz es ging, aber das weiß ich ganz genau: Dieser Lehrer hatte den Mut gehabt, uns während des Unterrichts darüber aufzuklären, wie unser Schicksal geplant war, wenn wir den Krieg verlieren würden.

Bombenangriffe

Mutter war eine praktische Frau. An jeder Tür hing an einer der beiden Klinken ein längerer Lappen, den wir bei Alarm über die zweite Klinke hängten, um zu verhindern, dass die Türen zuschlugen und bei der Explosion der Bomben durch den hohen Luftdruck aufgerissen und damit zerstört wurden. Automatisch hängten wir die Lappen um die Türklinken, wenn wir in den Keller gingen. Ein Rucksack war bei Angriffen immer gepackt und Sandsäcke standen bereit.

Es war bald nicht mehr möglich, Ersatzglas für die Fenster zu besorgen, deshalb zimmerte mein Vater Rahmen, über die Drahtglas gespannt wurde. Wenn sie bei einem Angriff herausgeschleudert wurden, konnten wir sie leicht wieder ersetzen. Weil wir auf dem Dach nach fast jedem Angriff neue Dachpfannen auflegen mussten, hatte ich bald meine Trainingshose durchgescheuert, denn Ich habe immer kräftig mitgeholfen.

Bei Luftangriffen konnten wir in den Stollen gehen. Es waren uns Steiger zugewiesen worden, die die Aufgabe hatten, die Stollen vom Tal aus in den Berg hineinzutreiben und entsprechend abzustützen. Wir hätten auch in den Keller gehen können, später auch in einen Bunker, wir fühlten uns aber im Stollen am sichersten.

Widerliche Filme: Hetze gegen Russen

Im September 1943 wurde ich mit Schülern und Lehrern im Rahmen der Kinderlandverschickung (4) nach Beching (5) ins damalige Protektorat Böhmen-Mähren gebracht.

Eines Abends kamen Soldaten und versammelten alle Schüler und Lehrer im großen Speisesaal, um uns einen Film vorzuführen. Das war das Widerlichste, was ich in meinem Leben gesehen habe. Es war ein Hetzfilm gegen die Russen. Uns wurden mongolische Fratzen vorgeführt, die uns bedrohten. Ich habe einen Weinkrampf gekriegt. Ich weiß noch genau, dass einige meiner Mitschülerinnen mich draußen getröstet haben, weil ich mich einfach nicht mehr beruhigen konnte.

Ein anderes Mal besuchte uns Gauleiter (6) Wagner aus Bayreuth im Erdkundeunterricht und faselte von der Machtpolitik Deutschlands. Einwände ließ er nicht gelten.

Die ganze Klasse war empört. Er selbst war auch empört, wie wir von unseren Lehrern erfuhren. Kaum einer von ihnen war in der Partei.

Die Folge war: Unser Direktor wurde durch einen Mann der SA (7) ersetzt. Ein zum Kollegium gehörender Geistlicher und Religionslehrer durfte zwar in einer kleinen barocken Friedhofskapelle die Messe lesen, wurde jedoch bald ausgewiesen, weil seine Kontakte zum Pfarrer und zum Schlossherrn des Ortes Misstrauen erregt hatten.


Seiner Nachfolgerin erging es noch schlimmer.

Sie war eine ganz liebe, sanfte Kollegin, die ihren Vater sogar untergebracht hatte, weil der nicht allein sein konnte. Alle vierzehn Tage hielt sie den Gottesdienst ab für die Schülerinnen, damit sie wenigstens etwas tun konnte. Sie ist in ein Konzentrationslager gebracht worden. Dort ist sie nur entkommen, weil ihr eine Aufseherin gesagt hatte: „Ich habe Sie auf der Liste übersehen. Machen Sie, dass Sie wegkommen, damit ich keine Schwierigkeiten kriege.“

In Bechingen machte ich mein Abitur, und direkt danach sollten wir Schülerinnen gleich an Ort und Stelle den vorgeschriebenen Reichsarbeitsdienst (RAD) beginnen, doch mir gelang mit einigen Mitschülerinnen auf abenteuerlichen Wegen von Prag aus die Flucht nach Hause.

Von Prag nach Hause

Auf der Suche nach einem Übernachtungsplatz fanden wir eine Art Jugendherberge für deutsche Jugendliche, die „Goldene Gans“ am Wenzelsplatz in Prag. Unser Gepäck hatten wir am Bahnhof aufgegeben. Ein Herr, den wir angesprochen hatten, hatte uns seine Hilfe zugesagt. Er wollte am nächsten Tag nach Österreich fahren und uns mitnehmen.

Weil ich meinen Koffer in der Gepäckausgabe nicht rechtzeitig fand, hatte er meinen Platz schon an andere vergeben. Ich habe mich dann in einen Zug gequetscht, in dem Volksschüler nach Essen gebracht werden sollten. Ich war nicht nur größer, sondern sah natürlich älter aus als die jüngeren Schüler und ich befürchtete, aufzufallen.

Plötzlich ging der Hitlerjugendführer, mit dem ich kurz vorher über unsere Ausreise verhandelt hatte, der mich also kannte, durch die Abteile. Ich habe mich in die Ecke gequetscht. Ob er mich gesehen hatte oder nicht, ich weiß es nicht. Jedenfalls bin ich nach Hause gekommen.

Es gab dann noch eine Aufforderung zur Teilnahme an einem Schulungslager in der Nähe von Prag, doch dem konnte ich mich entziehen. Aber ich durfte die nationalpolitische Schulung am Niederrhein absolvieren, wo ich zwar kräftig meine Meinung sagte, dafür aber nicht bestraft wurde.

In jener Zeit hörten wir zu Hause immer wieder sogenannte „Feindsender“, wie beispielsweise die verbotenen Radiosender der Amerikaner – ohne Angst. Wir meinten, in der Nachbarschaft war niemand, der uns Böses wollte und glaubten auch nicht, dass es fanatische Nationalsozialisten gab.


Die überzeugtesten „Gläubigen“ Hitlers waren übrigens unsere nettesten und hilfsbereitesten Nachbarn, wie wir später erfuhren. Sie waren überzeugt, dass der Führer von all den schrecklichen Dingen, von denen wir inzwischen gehört hatten, nichts wusste.

"Die rote R.": Lehrerin klärt auf

Später erlebte ich in meinem Geschichtsstudium keine Aufarbeitung der NS-Zeit. Als Lehrerin, so nahm ich mir vor, wollte ich es später anders machen.

So habe ich das Thema der Weimarer Republik (8) mit meinen Schülerinnen intensiv besprochen, weil ich deutlich machen wollte, wie es zu Hitler kommen konnte. Auch mit der Ideologie des Marxismus (9) wollte ich sie kritikfähig machen. Wegen meiner diesbezüglichen Lehrerfortbildung erhielt ich jedoch bald den Spitznamen „die rote R.“

(1) Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war der weibliche Zweig der Hitlerjugend (HJ) im Alter von 14 bis 18 Jahren. Es bestand eine gesetzlich geregelte Pflichtmitgliedschaft aller Mädchen, sofern sie nicht aus „rassistischen Gründen“ ausgeschlossen waren.

(2) Die Reichskristallnacht, auch Pogrome, Kristallnacht oder Reichspogromnacht genannt, bezog sich auf die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von den Nazis organisierten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen Juden in Deutschland und Österreich. Dazu gehörten Zerstörungen von Synagogen, Geschäfte, Wohnungen, Bücherverbrennungen, jüdische Friedhöfe und die Inhaftierung von Juden in Konzentrationslagern, die dort starben.

(3) Der Begriff Euthanasie ist als Begriff in Deutschland stark durch die Zeit des Nationalsozialismus geprägt, deren Morde unter dem Vorwand der Rassenhygiene ebenfalls als Euthanasie (altgriechisch „angenehmer Tod“ oder „Sterbehilfe“) bezeichnet werden.

(4) Kinderlandverschickung bedeutete die Evakuierung von Schulkindern aus luftgefährdeten Gebieten. Die Kinder lebten oftmals gemeinsam mit den Klassenkameraden mehrere Monate lang von ihren Familien getrennt. In den letzten Kriegsjahren verbrachten manche Kinder mehr als achtzehn Monate ununterbrochen in Lagern.

(5) Beching liegt in der Nähe von Prag und gehörte seinerzeit zum Protektorat Böhmen und Mähren, das eine formal autonome Verwaltungseinheit auf tschechoslowakischem Gebiet unter nationalsozialistischer deutscher Herrschaft war, die von 1939 bis 1945 bestand.

(6) Ein Gauleiter (GL) war ein Regionalführer der NSDAP, der als Oberhaupt eines Gaues diente und dem Führer selbst unterstellt war. Mit dem Sturz des NS-Regimes 1945 wurde die Position abgeschafft.

(7) Die Sturmabteilung (SA) war die paramilitärische Kampforganisation und spielte als Ordnertruppe eine entscheidende Rolle beim Aufstieg der Nationalsozialisten, indem sie deren Versammlungen vor Gruppen politischer Gegner mit Gewalt abschirmte oder gegnerische Veranstaltungen behinderte. Aufgrund ihrer Uniformierung mit braunen Hemden ab 1924 wurde die Truppe auch „Braunhemden“ genannt. Im Vorfeld der Machtergreifung 1933 widmete sich die Organisation neben der Propaganda intensiv dem Straßenkampf und Überfällen auf Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden. … Nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 wurde sie, wie NSDAP und SS, verboten und aufgelöst.

(8) Als Weimarer Republik wird die Zeit von 1918 bis 1933 bezeichnet. Die Monarchie der Kaiserzeit wurde abgelöst durch Ausrufung der Republik am 9. November 1918 und endete mit der Machtübernahme der NSDAP infolge der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933.

(9) Marxismus ist der Name einer von Karl Marx und Friedrich Engels im 19. Jahrhundert begründeten Gesellschaftslehre. Ihr Ziel bestand darin, durch revolutionäre Umgestaltung anstelle der bestehenden Klassengesellschaft eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen. Der Marxismus ist eine einflussreiche wissenschaftliche und ideengeschichtliche Strömung, die sowohl dem Sozialismus als auch dem Kommunismus zugerechnet wird.

Quelle: Wikipedia


Auszug auf "Scherbenbilder 'Spiegelscherben'“, erzählt von Hildegard R., aufgeschrieben von Ursula T. und Marianne K., bearbeitet von Barbara H.


Foto: jclk8888/Pixabay

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