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Propaganda im Unterricht: "Habe einen Weinkrampf gekriegt"

Hildegard R. wird 1925 in Essen geboren. In ihrer sehr katholisch geprägten Familie lernt sie, dass sie ihrem Gewissen folgen und ihre Meinungen frei äußern darf. So gelingt es ihr, auch in der NS-Zeit eine klare Haltung zu entwickeln.



Schule in Kriegszeiten

Zunächst besuchte ich die Vorschule , dann die katholische Privatschule BMV (1), eine Schule für Kinder aus gut katholischen und betuchten Familien in Essen. 1940 wurde sie geschlossen und am Städtischen Luisengymnasium im Zentrum vom Essen eine Klasse neu für uns eingerichtet. Auch einige Lehrer vom BMV wurden übernommen. In der Oberstufe hatten wir gemeinsamen Unterricht mit den Schülern des Luisen-Gymnasiums.


Bei den Luftangriffen auf Essen im Jahr 1942 wurde die Schule zerstört, und so wurde die Oberstufe in der Viktoria-Schule im Wechsel unterrichtet. Die Unter- und Mittelstufe wurde sofort mit ihren Lehrern evakuiert. Schließlich wurden wegen der starken Luftangriffe alle Schulen in Essen geschlossen.


Beim BDM

Irgendwann ging ich auch in den BDM (2); so mutig waren meine Eltern nicht, dass sie sagten: “Da gehst du nicht rein!“ Eine Zeitlang bin ich zu den Heimabenden gegangen; die waren so harmlos: wir haben Spielchen gemacht und Radtouren. Später bin ich nur noch einmal im Jahr zum Sportfest erschienen, weil ich die Nadel haben wollte.


Die Hauptführerin in der ganzen Schülerschaft war damals schon in der Oberstufe und leitete ‘jugendbewegt‘ den BDM. Ihre Eltern, gut katholisch, haben unter der nationalsozialistischen Phase ihrer Tochter sehr gelitten. Dennoch haben sie an den guten Kern ihrer Tochter geglaubt. Später sind ihr die Augen aufgegangen; sie hat eine radikale Kehrtwendung gemacht und ist sogar Nonne geworden.


Jeden Samstag wurde schulfrei gegeben, damit wir durch die Straßen ziehen und nationalsozialistische oder jedenfalls nationale Lieder singen konnten. Das haben wir ein paar Mal gemacht, aber dann wurde befohlen, dass das nur noch in der Schule passierte. Alle Klassen mussten sich auf dem Schulhof versammeln, schön in Reih und Glied, und es wurde gesungen, immer mit erhobenem Arm, immer die Hand auf der Schulter des Vordermanns: "Deutschland, Deutschland über alles... Die Fahne hoch...“

Hitlers Reden wurden auf Befehl von oben für alle Schülerinnen und Lehrer in der Aula übertragen. Das lange Stillsitzen fiel uns natürlich schwer. Dafür wurden wir von unseren Lehrern gelobt. Stellungnahmen zu den Reden von Seiten der Lehrer gab es nicht.


Kinderlandverschickung

Bei einer großen Versammlung auf dem Schulhof wurde uns verkündet, wir müssten alle in die Kinderlandverschickung (3). Viele Eltern protestierten, und boten an, wenigstens für die Oberstufe Schulräume zur Verfügung zu stellen. Aber der Protest bewirkte nichts. Denn der Sinn des Unternehmens war: die Hitlerjugend wollte die Kinder unter ihren Einfluss bringen. Und so fuhren im September 1943 alle Schüler und Lehrer zusammen in einem Sonderzug nach Beching, einem kleinen tschechischen Badeort zwischen Prag und Budweis, im damaligen Protektorat Böhmen-Mähren (4).


Die jüngeren Schülerinnen lebten mit ihren Lehrern in den Badehäusern, eine Art Kurhäuser, allerdings nicht mit dem Wohnkomfort von heute. Die Oberstufe hatte das Badehaus für sich. Dort waren die sanitären Anlagen völlig unzumutbar. Einer meiner Lehrerinnen haben diese Umstände sehr zu schaffen gemacht. Von den BDM-Führerinnen haben wir uns nichts sagen lassen. Politische Debatten gab es nicht.


Politisches

Eines Samstags kamen Soldaten – oder waren es SA-Leute (5)? – und versammelten alle Schülerinnen und Lehrer in dem großen Speisesaal, um uns einen Film vorzuführen. Das war das Widerlichste, was ich in meinem Leben gesehen habe. Es war ein Hetzfilm gegen die Russen. Uns wurden mongolische Fratzen vorgeführt, die uns bedrohten. Da haben mich meine Frechheit und mein Widerstandsgeist verlassen; ich habe einen Weinkrampf gekriegt und konnte mich einfach nicht mehr beherrschen. Ich finde es besonders widerwärtig, dass man solche Filme auch jüngeren Mädchen zumutete. Die schlimmsten Horrorfilme heute können nicht schlimmer sein.


Ein anderes Mal besuchte uns der Gauleiter (6) aus Bayreuth und faselte von der Machtpolitik Deutschlands. Einwände ließ er nicht gelten. Die ganze Klasse war empört. Er selbst war auch empört, wie wir von unseren Lehrern erfuhren. Kaum einer von ihnen war in der Partei (7). Die Folge war: unser Direktor wurde als Hauptlagerleiter abgesetzt und durch einen SA-Mann ersetzt.


Es kam unser Abitur, das wir gemeinsam mit den Lehrern feierten. Nur der Lagerleiter nicht. Er kam erst, als er sah, dass wir ein provozierendes Plakat über seiner Tür aufgehängt hatten und forderte uns auf, es abzunehmen. Wir hatten, wie sich das gehörte, gedichtet, und dabei wurde er kräftig drangenommen.


Ich möchte betonen, dass abgesehen von diesem Kollegen weder unter den ehemaligen BMV-Lehrern noch unter den Lehrern der Luisen-Schule Nazis waren. Nach dem Krieg wurde dafür gesorgt, dass der oben erwähnte Kollege nicht wieder in den Schuldienst kam.


Nach dem Abitur – Flucht in die Heimat

Nach dem Abitur wollten wir natürlich so schnell wie möglich nach Hause. Aber aus Prag kam der Befehl: "Die Abiturientinnen bleiben in den Lagern und werden sofort in den Arbeitsdienst übernommen!“ Da haben wir beschlossen: Das machen wir nicht! Mit einer Klassenkameradin bin ich nach Prag zur HJ (8) gefahren. Wir haben erklärt, dass wir mit dem Reisezug nach Hause fahren wollten, der für die Eltern reserviert war, die gerade ihre Kinder in Beching besuchten. Der zuständige HJ-Führer lehnte dies aber ab. Uns ist jedoch auf abenteuerliche Weise die Flucht gelungen.



(1) BMV ein staatlich anerkanntes katholisches Gymnasium in der Trägerschaft der Augustiner Chorfrauen B.M.V. zu Essen. Das ursprüngliche Mädchengymnasium führte 2013/14 die Koedukation ein.


(2) Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war in der Zeit des Nationalsozialismus der weibliche Zweig der → Hitlerjugend.


(3) Kinderlandverschickung: Die Evakuierung von Schulkindern aus ‘luftgefährdeten Gebieten‘. Die Schüler lebten oftmals gemeinsam mit den Klassenkameraden mehrere Monate lang von ihren Familien getrennt. In den letzten Kriegsjahren verbrachten manche Kinder mehr als 18 Monate ununterbrochen im Lager.


(4) Protektorat Böhmen-Mähren: die nationalsozialistische Bezeichnung für eine formal autonome Verwaltungseinheit auf tschechoslowakischem Gebiet unter deutscher Herrschaft, die von 1939 bis 1945 bestand.


(5) SA – Sturmabteilung: die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP. Sie spielte als Ordnertruppe eine entscheidende Rolle beim Aufstieg der Nationalsozialisten.


(6) Gauleiter: Die NSDAP teilte Deutschland bereits 1925 in 45 Gebiete ein, die als Gaue bezeichnet wurden. Jedem Gau stand ein Gauleiter vor, als regional Verantwortlicher der Partei. Er trug damit die politische Verantwortung für seinen Hoheitsbereich.


(7) Partei – NSDAP: Nationalsozialistische Arbeiterpartei, gegründet 1920, deren Programm und Ideologie von radikalem Antisemitismus und Nationalismus sowie Ablehnung von Demokratie und Marxismus bestimmt war. Sie wurde 1945 aufgelöst.


(8) HJ – Hitlerjugend: die Jugend- und Nachwuchsorganisation der NSDAP (1926-45)


Auszug aus "Lebensgeschichte", erzählt von Hildegard R., geschrieben von Ursula T. und Marianne K., Auszug verfasst von Marion PK


Foto: Gerhard G./OpenClipart Vectors / Pixabay


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